Der Kriminalroman als Gegenwartsliteratur
Ein Interview von Frank Rumpel mit Dorothee Kimmich
Sie ist Professorin für Literaturwissenschaftliche Kulturwissenschaft und Kulturtheorie an der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen. Dorothee Kimmich leitet und organisiert zusammen mit einem kleinen Team seit 13 Jahren die einst von Jürgen Wertheimer begründete Tübinger Poetik-Dozentur. Von Anfang an hat sie für jede Dozentur mindestens zwei Autor/innen eingeladen. Das sorgt für interessante Perspektivwechsel. Und sie traut sich auch, den Rahmen weiter zu stecken. Im Vorjahr etwa waren Siri Hustvedt und der italienische Neurowissenschaftler Vittorio Gallese zu Gast, 2014 widmete sich die Dozentur „Afropolitan Literature“, ein Begriff, den die Autorin Taiye Selasi prägte, die zusammen mit Nii Parkes, Priya Basil und Chika Unigwe in Tübingen war. Im November 2017 nun ging es um „Poetics of Crime“. Am Rednerpult standen Friedrich Ani, Wolfgang Schorlau, Arne Dahl und Håkan Nesser, wobei Dahl und Nesser jeweils zwei Abende bestritten. Die Dozentur dauerte eine Woche. Ein sattes Programm also. Pro Abend kamen dennoch zwischen 400 und 500 Leute. Frank Rumpel hat mit Dorothee Kimmich gesprochen.
Frage: Sich bei einer Poetik-Dozentur dem Kriminalroman zu widmen ist überhaupt nicht abwegig, aber im universitären Rahmen, in dem das Ganze stattfindet, durchaus mutig. Wie kam es denn zu der Entscheidung?
Dorothee Kimmich: Es stellt sich ja immer wieder die Frage, was wir eigentlich unter Literatur verstehen und wie sich Literaturgenres verändern. Das interessiert mich natürlich auch von meiner Profession her und der Blick von der Universität auf die Literaturszene ist manchmal etwas eingeschränkt durch unsere historischen Scheuklappen; und wenn man sich mit Gegenwartsliteratur beschäftigt, muss man sich auch einfach fragen, wer was liest. Der unglaubliche Boom der Kriminalliteratur, den wir in den vergangenen zehn Jahren erlebt haben, ist ja schon bemerkenswert und da dachte ich: um den kann man sich auch mal kümmern. Das heißt ja nicht nur, dass sehr viel mehr Krimis geschrieben, sondern eben auch sehr viel mehr gelesen werden und diese aber auch deutlich besser geworden sind, auch Platz in den Feuilletons einnehmen und so ein bisschen raus aus der Nische gekommen sind.
Hatten Sie denn den Eindruck, dass anderes Publikum da war, als sonst?
Ich habe schon gemerkt, dass ein bestimmtes Klientel, das sonst zur Poetik-Dozentur kommt, diesmal nicht gekommen ist. Das kann Zufall gewesen sein. Ich habe aber auch sehr viel Zuspruch bekommen, mehr, als ich das gewohnt bin. Sonst sagt man schon mal, das ist aber schön, dass der oder die kommt. Jetzt haben einige gesagt, sie fänden das toll, dass wir uns damit beschäftigen. Ich glaube, dass der Zuspruch und die kritische Betrachtung etwas weiter auseinander lagen als sonst.
Waren die vier Autoren, es war ja eine Männerrunde, denn ihre Wunschauswahl? Welche Idee steckte dahinter?
Die „Idee“ darf man nicht überbewerten. Wir wollten auf jeden Fall international sein und nicht nur deutschsprachige Autoren einladen. Wir hatten auch zwei Autorinnen angeschrieben, weil ich das natürlich immer berücksichtige. Da haben wir aber leider keine Zusagen bekommen. Ich will jetzt auch nicht sagen, wer das war. Das ist schließlich deren Entscheidung.
Und wie kam es nun zu der Auswahl? Hat da beispielsweise der Sponsor mitgeredet?
Nein, der Sponsor mischt sich da gar nicht ein. Das kann man immer nur wieder lobend erwähnen. Und in dem Fall war es einfach so, dass ich einmal gerne diese politische Ecke bedienen wollte. Das habe ich mit Wolfgang Schorlau gemacht. Ich wollte gerne was zu der Frage haben, wie rechercheintensiv Kriminalromane sein können und ich hatte ihn auch ganz dezidiert gebeten, dazu was zu sagen.
Bei Friedrich Ani fand ich einmal seine Figuren, aber auch seinen Übergang zum Suhrkamp-Verlag interessant und dass er dort jetzt auch einen Lyrikband publiziert hat, weil das eben eine Nahtstelle zur so genannten seriösen Literatur ist. Da sieht man dann auch genau, dass sich da was tut.
Und die beiden schwedischen Autoren: Wir haben uns entschlossen, was zum Schwedenkrimi zu machen und das sind dann einfach zwei Aushängeschilder, die mir auch gut gefallen haben. Man hätte natürlich noch über Nesbo oder Adler-Olson nachdenken können. Aber ich hatte tatsächlich bei den beiden angefangen und sehr positive Rückmeldungen bekommen. Die haben am Tag danach zugesagt. So was ist mir noch nie passiert.
Ich kenne schon auch immer die Kritik, da hätte man doch eigentlich diese und jenen berücksichtigen müssen. Aber wir haben einfach auch ein Limit, was Geld und was Zeit angeht und dann dachten wir, die beiden sind unterschiedlich genug. Dahl arbeitet ja eher mit großen Ermittlergruppen, zeigt einen gewissen Mut zur Grausamkeit und packt diese globalen Verbrechen an. Nesser hat da einen ganz anderen Ansatz, schreibt eher psychologische Kriminalromane mit kleinem Figurenpark. Und das passte für uns gut zusammen, die ergänzen sich auch gut.
Sie haben in den vergangenen Jahren ja immer mehrere Autorinnen und Autoren zu einer Dozentur eingeladen, diesmal waren es vier. Das scheint ein Konzept zu sein, das auch vom Publikum goutiert wird.
Wir laden ja seit vielen Jahren mindestens zwei Autoren ein, dass man so ein Tandem hat. Das war die Grundidee und da war es dann meistens so, dass wir eine Wunschautorin, einen Wunschautor hatten und die haben oft von sich aus gesagt, sie würden die Dozentur gerne mit dem oder der machen. Bei Jonathan Franzen und Adam Haslett war das so, bei Christoph Ransmayr und Raoul Schrott ebenfalls. Das funktioniert aber nicht immer. Eine thematische Klammer, wie wir sie jetzt hatten, finde ich interessant, das kann man aber nicht jedes Jahr machen. Aber das hat einen gewissen Vorteil und Charme gegenüber der Zentrierung auf eine Person.
Wie fanden Sie die diesjährige Dozentur denn nun inhaltlich?
Ich war sehr erfreut darüber, dass alle vier Autoren ganz dezidiert für dieses Format geschrieben und formuliert haben. Das ist nicht immer selbstverständlich. Und das Format ist ja ein schwieriges, weil wir keinen akademischen Vortrag haben wollen, aber auch nicht nur Plaudereien und auch keine Lesungen aus den Texten. Im Grunde ist es ein Werkstattbericht, in dem jemand am eigenen Text und am eigenen Arbeiten etwas entwerfen soll, was jetzt aber nicht notwendigerweise einen hochtheoretischen und abstrakten Diskurs darstellt. Das heißt, es ist so eine mittlere Stilebene und das ist eine ziemlich schwierige Aufgabe. Da war ich auch erstaunt, dass alle vier Autoren sich sofort genau darauf eingelassen haben.
Dennoch hat man bei den Vorträgen wenig darüber erfahren, was denn nun den Kriminalroman ausmachen könnte. Da sind alle vier doch sehr vage und auch ziemlich an der Oberfläche geblieben.
Das stimmt. Aber da ist natürlich die Frage, was wünscht man sich an „Tiefe“ und was ist das genau? Ani beispielsweise hatte einen sehr persönlichen Zugang. Und das, was Schorlau erzählt hat, war ja auch eine Antwort. Kriminalliteratur hat etwas mit gesellschaftlicher Angst zu tun. Das fand ich schon eine sehr gute Erklärung, dass man als Autor ein Gespür dafür entwickeln muss, jene Stellen zu finden, die so eine Gesellschaft schmerzen. Also: Wo stecken die Verbrechen, vor denen man sich fürchtet und zwar nicht nur einer, sondern viele. Das sind kollektive, unbewusste Ängste, die ja auch daher rühren, dass Dinge nicht aufgeklärt werden, oder dass man zumindest das Gefühl hat, dass Dinge nicht aufgeklärt werden. Und Schorlau z. B. greift mit seinen Themen diese unaufgeklärten Fälle und damit diese vagen Ängste auf und bearbeitet sie fiktiv. Da muss ich sagen, das finde ich keine schlechte Antwort. Bei ihm ist es ja auch so, dass die Fälle nicht gelöst werden, dass die ungelösten Fälle unserer unmittelbaren Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit unverheilte Wunden einer Gesellschaft sind, die er durchspielt, ohne sie lösen zu können.
Und bei Friedrich Ani etwa, der auf eine sehr literarische Weise davon erzählt hat, wie schwierig es ist, überhaupt eine Sprache zu finden, sagt von sich, dass das Genre Kriminalroman eine Art Schutz sein kann, weil dort am wenigsten Biographie vermutet wird: Auch das ist eine Antwort, dass eben der Kriminalroman als Form eine Art von Sprechen ermöglicht, die andere Belletristik nicht mehr ermöglicht, weil man da durch den Text hindurch immer gleich den Autor zu sehen glaubt. Und die Gattung, sagt Ani, habe ihm da mehr Freiheit erlaubt. Das ist nicht uninteressant.
Unterm Strich: Sind Sie zufrieden mit der diesjährigen Poetik-Dozentur?
Den Publikumszuspruch fand ich ganz erstaunlich. Dahl und Nesser haben ja Englisch gesprochen, das ist immer so eine kleine Hürde. Und ich fand interessant, dass es eben nicht immer um eine Theorie des Kriminalromans ging, sondern dass die viel mehr über den Kriminalroman als Genre der Gegenwartsliteratur gesprochen haben. Die Autoren haben die Gattungsgrenzen nicht intensiviert, sondern sie haben eigentlich die Türen weit aufgemacht. Sie haben an vielen Stellen etwas gesagt, das auch für viele andere Formen der Gegenwartsliteratur gilt. Schreiben und Lesen geschehen zeitgleich. Die Rezeption der Texte, die Antwort und der Zuspruch sind intensiv und schnell. So entstehen z. B. die Serien der Kriminalromane mit Ermittlern, in denen sich ganze Biographien, kleine soziologische Panoramen und politische Statements wiederfinden. Orte, Personen, aber auch der Typus der Verbrechen selbst müssen in einem gut austarierten Verhältnis aktuell, bekannt, innovativ, aber wiederum auch nicht zu fremd sein. Das hat mich besonders interessiert, weil das auch für mich selber eine Frage war, ob man denn den Kriminalroman und seinen Erfolg nicht viel mehr einbeziehen sollte als einen symptomatischen Fall für die Fragestellung, was eigentlich Gegenwartsliteratur sein kann. Daher ging es letztlich tatsächlich wohl – auch zu meiner eigenen Überraschung – weniger direkt um Kriminalliteratur, als um Kriminalliteratur als Gegenwartsliteratur.