Geschrieben am 1. April 2020 von für Crimemag, CrimeMag April 2020, News

Iris Boss (Schauspielerin): Die Krise als Farce #Covid-19

„Die Welt hält den Atem an“, „Das kollektive Hamsterrad ist zum Stillstand gekommen“ – Überall lese ich davon, dass ich die erzwungene Entschleunigung als Chance sehen soll, und unsere Gesellschaft durch die Krise den Optimierungswahn, in dem wir alle gefangen sind, überdenken wird.

Jetzt endlich, wird mir aus den sozialen Medien entgegengebüllt, habe ich Zeit für mein tägliches Bodyweight- und HIIT-Training (die Anleitung dazu gibt es auch auf YouTube, also #noexcuses). Jetzt habe ich Zeit, all die Bücher zu lesen, meine Eltern regelmäßig anzurufen, Ordnung in meinen Kleiderschrank und mein fehlerhaftes, aus Zeitmangel unsorgfältig geführtes Leben, zu bringen, im Hier und Jetzt zu leben, aber auch zu reflektieren, was in der Vergangenheit zu meinem Glück beigetragen hat und was nicht, und den Blick nach vorn nicht vergessen, denn es wird eine Zeit nach der Krise geben, und auf die kann man sich vorbereiten, indem man, in aller Ruhe, seine Ziele neu definiert, seine Bewerbungsunterlagen auf Vordermann bringt und auch und gerade in der Krise, sein Netzwerk weiter pflegt. Jetzt kann ich lernen, Brot zu backen, Gemüse zu fermentieren oder Badvorleger zu klöppeln und gleichzeitig kann ich mich dabei in Achtsamkeit üben, indem ich mich nur auf eben diese Tätigkeit konzentriere. Eine Fremdsprache lernen, Dankbarkeit empfinden und Netflix leergucken. Und als Kreative bin ich alle 5 Minuten dazu aufgerufen, auf meinen Balkon zu rennen und irgendetwas von mir zu geben: Ein Lied, einen Sprechchor, einen lebensbejahenden Tanz. Sowieso ist jetzt die Zeit, in der wir, räumlich getrennt und doch gemeinsam, Videos drehen, Podcasts aufnehmen und Drehbücher schreiben können.

Ja, niemand zwingt mich dazu, wie mich auch in der Zeit vor Corona niemand gezwungen hat. Nach wie vor liegt es ganz bei mir, ob ich mich auf die Seite der selbstmitleidigen Looser oder der selbstverantwortlichen Macher stellen will – mit ganz viel Achtsamkeit und Besinnung versteht sich.

Ich frage mich in diesen Tagen oft, ob ich bisher in einem Paralleluniversum gelebt habe. Denn nach wie vor sind meine Tage ausgefüllt. Mir ist zwar viel Arbeit weggebrochen, aber selbst das merke ich nur (und schmerzlich) finanziell. Von Langeweile oder strukturlosen Tagen keine Spur. Wenn ich Facebook und Co glauben soll, bin ich damit aber ziemlich allein. Auf die verwegene Idee, die Zeit zu nutzen, indem man sie eben nicht „nutzt“, sondern einfach nur lebt, scheint niemand zu kommen. Und das schlechte Gewissen, das einem vermittelt wird, wenn man das einfach tut, ist in der Krise auf keinen Fall kleiner geworden.

Tatsächlich zeigt die momentane Situation, dass etwas mit uns und der Gesellschaft, in der wir leben nicht stimmt. Aber auch, dass es wahrscheinlich eine noch wesentlich größere Katastrophe braucht, damit sich daran etwas ändert.

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