Geschrieben am 4. März 2019 von für Crimemag, CrimeMag März 2019

Iris Tscharf: John Lanchester „Die Mauer“

Die Zeit nach der Mauer ist die Schuld der Alten

Zehntausend Kilometer Beton. Auf der Meerseite bis zu fünf Meter hoch. Drei Meter breit. Alle drei Kilometer ein Wachhaus, dazu noch Treppen, Kasernen, Ausfahrtsschleusen, Lagerräume, Zugangswege. Ein Ungestüm inmitten von Kälte und Dunkelheit ist die Mauer, die in naher Zukunft im Roman von John Lanchester Großbritannien von der Außenwelt abschottet. Sie stielt den Meerblick. Sie bietet keinen Schutz. Sie sorgt für Angst und Schrecken vor und hinter der Mauer. Und Tote. Auf beiden Seiten. Vor, hinter, und auf der Mauer.

Dreihunderttausend Menschen werden benötigt, um dieses Betonmonstrum am Leben zu erhalten, damit andere den Tod finden. Denn die Anderen dürfen diese Mauer keinesfalls überwinden, sonst werden auch die Eigenen, die Verteidiger, zu Anderen. Einer dieser Verteidiger ist Joseph Kavanagh, kurz Yeti genannt. Die nächsten zwei Jahre muss er auf der Mauer Dienst tun, wie alle, die nicht zur Elite gehören oder sich zu den Fortpflanzlern melden. Zwei Jahre. Wenn nichts passiert, wenn man den Dienst überlebt.

Kälte und Dunkelheit sind das Erste, das Joseph auf der Mauer zu spüren bekommt. Die Zeit und die Mauer vermischen sich mit jedem Tag, der an Joseph vorübergleitet, Beton ist allgegenwärtig, er schläft zwischen Beton, er isst auf Beton, er wacht auf Beton. Beton, Beton, Beton. Dazu dieser 12-Stunden-Wachdienst. Blick auf das Meer, zum Horizont, wenn das Wetter es zulässt, die Angst eines dieser Ruderboote zu sichten, einen der aufblasbaren Sitzreifen, einen der Anderen. Die Angst, die Anderen zu übersehen. Die Angst, als Strafe zu den Anderen abgeschoben zu werden. Zwei Jahre. Beton. Meer. Kälte. Dunkelheit. Die Anderen. Angst.

Was Lanchester mit „Die Mauer“ entwirft, ist eine Warnung. Im Roman hat die Generation der Alten nicht eingegriffen, deswegen gibt es für die Jungen eine Zeit vor der Mauer und eine Zeit nach der Mauer. Über die Zeit vor der Mauer reden die Alten nicht. Mit der Zeit nach der Mauer haben die Jungen zu kämpfen. Sich damit abzufinden.

Die Regeln des Systems sind hart: Wer die Anderen die Mauer überwinden lässt, wird selbst aufs Meer verbannt. Die Regeln des Systems sind paradox: Während auf der anderen Seite Menschen verhungern und erfrieren, wirbt man innen für den Dienst der Fortpflanzler, damit genügend Menschen da sind, um die Anderen vom Innen fernzuhalten.

Der britische Autor John Lanchester hat in diesem Roman viele unterschiedliche – und doch immer düstere – Betrachtungsmöglichkeiten über einen Mauereinsatz hinterlassen. So wie die alte Generation durch ihre Untätigkeit diese Mauer, diese Entwicklung, erst möglich gemacht hat, könnte man auch den Wachdienst betrachten, denn Kavanagh ist gezwungen auf dieser Mauer zu warten. Darauf zu warten, ob etwas passiert, wann etwas passiert, ob überhaupt etwas passiert. Es sind die Anderen, die diesen Zeitpunkt festlegen, auch wenn sie schlecht ausgerüstet sind, ist es ihr Vorteil den Zeitpunkt des Angriffs zu wissen. Die Verteidiger warten auf die Anderen und folgen dann den Befehlen anderer. Sie reagieren erst, nachdem die Anderen entschieden haben: Jetzt passiert es.

Wie die alte Generation. Abwarten. Aussitzen. Die Angst, es könnte etwas passieren.

Die Aufteilung des Buches in drei Abschnitte – Die Mauer, Die Anderen, Das Meer – lässt auch vorweg erahnen, wie die Geschichte ihren Lauf nehmen wird. Doch ist es nicht der Lauf der Geschichte, der fesselt, abschreckt, nachdenklich werden lässt, sondern die Einsichten, die Kavanagh erwirbt und die Ansichten, die diese Geschichte widerspiegelt. Der Lauf der Geschichte lebt nämlich alles andere als von emotionalen Höhepunkten, wirkt zwischendurch kalt wie Beton und unterkühlt wie das britische Wetter. Das kann auch eine eingeflochtene Liebesgeschichte nicht auflockern, die sich hinter Unisex-Uniformen abspielt. Auch die zahlreichen Tode bringen keine Emotion in die Geschichte: Wer stirbt, wird ersetzt. Vor und hinter der Mauer.

Emotionen hat das Buch auch gar nicht nötig, denn es ist die Kälte, die beim Lesen frösteln lässt und für Schauder sorgt. „Die Mauer“ ist ein Roman, der davon lebt, sich über unsere aktuellen Entwicklungen klar zu machen. Nüchtern und mit beidseitigem Blick über die Mauer. Es ist ein Roman, der zeigt, dass eine Mauer nicht wie geplant Schutz bietet, sondern durch ihr Vorhandensein einen Untergang heraufbeschwört, von der immer mehr eingeschränkten Freiheit gar nicht zu reden.

Kuishia. Das Ende. Ein Suaheli-Wort, das wohl nicht nur Afrikaner verstehen, sondern auch britische Verteidiger in Lanchesters düsterer Welt fürchten. Denn die Mauer ist Kuishia, Lanchesters Roman wie ein literarisches Mahnmal für eine Zeit vor der Mauer und eine Zeit nach Mauer

„Es lag nicht an uns, es war deren Schuld. Jeder weiß, wo das Problem liegt. Die Diagnose ist nicht schwer – sie ist nicht einmal kontrovers. Sie lautet: Schuld. Die Schuld von Massen. Die Schuld von Generationen. Die Alten haben das Gefühl, die Welt unwiederbringlich vor die Wand gefahren und es dann zugelassen zu haben, dass wir in sie hineingeboren wurden. Und was soll ich dir sagen? Genauso ist es. Das ist genau das, was sie getan haben. Sie wissen es, wir wissen es.“ (Zitat aus dem Ebook, Pos. 803-807)

Iris Tscharf

  • John Lanchester. Die Mauer (The Wall, 2019). Roman. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel. Klett Cotta, Stuttgart 2019.  348 Seiten, 24 Euro.

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