Willkommene Irritation
Thomas Wörtche über J. G. Ballards vorletzten Roman – und überhaupt zu einen hierzulande sträflich vernachlässigten Autor.
Die Mittelschicht dreht durch. Im Londoner Chelsea Marina brennen Barrikaden, „gelangweilte Teenager versuchen sich als Drogendealer und Autodiebe“, Geschäfte werden geplündert, auf Kulturtempel wie das National Film Theater und die Tate Modern werden Sprengstoffanschläge verübt, brave leitenden Angestellte bedienen ihre Hypotheken, Abgaben und Steuern nicht und fackeln, bevor sie zwangsgeräumt werden, eher ihre Eigenheime ab. Ein auslösendes Ereignis gibt es nicht, eine explizit politische Zielrichtung ist nicht erkennbar. „Dada tobt in der Stadt“. Eine andere Qualität scheint allerdings ein Bombenattentat auf dem Flughafen Heathrow zu haben, bei dem Menschen ums Leben kommen. Darunter auch die Ex-Gattin des Psychologen David Markham, der Hauptfigur von James Graham Ballards Roman „Millenium People“.
Die üblichen Verdächtigen für Bombenattentate kommen nicht in Frage, also macht sich Markham als Akt der Selbsttherapie auf, die wahren Täter und deren Motive zu finden. Dabei stößt er auf eine Clique von Verschwörern um den charismatischen Kinderarzt Richard Gould, eine Art „Doktor Moreau“ (nach H.G. Wells diabolischem Menschenmanipulator) von Chelsea, der Revolte, Gewalt und Chaos als Schock-Therapie gegen jede Art gesellschaftlicher Formatierung begreift.
„Millenium People“ ist der vorletzte Roman Ballards, im Original 2003 erschienen. James Graham Ballard (1930 – 2009), man kann es nicht genug unterstreichen, gehört zu den großen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, wie man in aller Welt weiß. Nur in Deutschland scheint sich das nicht herumgesprochen zu haben – kaum ein anderer Autor seines Ranges hat eine solch fatale Publikationsgeschichte, die jahrzehntelang zwischen den Extremen Bastei und Suhrkamp hin und her gependelt war, nie mit gutem Ende. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Tatsächlich ist Ballard ein Autor, der ein hohes Irritationspotential besitzt. Weil sein Frühwerk sich mit zukünftigen ökologischen Katastrophen befasste, wurde er als Science Fiction Autor rubriziert, obwohl er kaum genre-typische Topoi benutzte. Also schlug man ihn der „New Wave“ zu, die sich mit dem „Inner Space“ beschäftigte, aber auch das stimmte nicht wirklich. Nach einer Reihe experimenteller Texte wandte sich Ballard der Mittelschicht und ihrer Neurosen und Psychopathologien zu – sein Roman „Crash“ wurde von David Cronenberg verfilmt, sein autobiographischer Roman „Im Reich der Sonne“ von Steven Spielberg und „High Rise“ jüngst von Ben Wheatley. An der zurückhaltenden deutschen Rezeption änderte das nichts. Und das ist beklagenswert, weil Ballard immer wieder die surrealen, bizarren, psychotischen und irrationalen neuralgischen Punkte unserer sich als ach so rationale strukturiert gebenden Gesellschaften attackiert.
Auch „Millenium People“ verzichtet auf Thesen oder Antworten, sieht aber sehr genau das gewalttätige Potential einer Mittelklasse, deren Verfall sich kristallklar abzeichnet. Unter anderem, weil sie sich gegen den „Hirntod“, der durch die Dauertyrannei von Medien und virtuellen Realitäten entsteht, nicht mehr anders als mit Gewalt wehren kann – oder das zumindest glaubt. Ballards brillante, spröde und eisige Prosa, die den Exzess als Normalzustand beschreibt, trägt erheblich zu seinem Irritationspotential bei. Dabei sind doch literarische Irritationen genau das, was wir dringend brauchen.
James Graham Ballard: Millenium People (Millenium People, 2003). Deutsch von Jan Bender. Diaphanes, Berlin/Zürich 2018. 356 Seiten, 20 Euro.
© 10/2018 Thomas Wörtche