
Am 3. September 1973 berichtet der „Spiegel“ von einem Kriminalfall: „Salah Bougrine. 35, aus Algerien, vergaß in der Marseiller Buslinie 72 erst einen Fahrschein zu kaufen, dann diesen lochen zu lassen. Weil ihn der Fahrer des Wagens, Désiré-Emile Gerlache, 49, deswegen öffentlich rügte, erwürgte der Algerier den Franzosen.“ In der Folge sei es im Süden Frankreichs „zu einem Ausbruch von Rassenhass wie nie zuvor“ gekommen. In Toulouse, Marseille und anderen Städten wurde regelrecht Jagd auf nordafrikanische Einwanderer gemacht, in einer Woche kamen sieben Menschen ums Leben. Unter den Tätern waren auch als Zivilisten verkleidete Armeeangehörige.
Ganz korrekt war die Berichterstattung des deutschen Nachrichtenmagazins allerdings nicht. Der Busfahrer wurde nicht erwürgt. Bougrine, der sich offenbar in einem Zustand geistiger Verwirrung befand und sich später an nichts erinnern konnte, hatte seinem Opfer die Kehle durchgeschnitten. Und vielleicht war es nicht zuletzt die Grausamkeit des Verbrechens, die einen seit Monaten schwelenden ethnischen Konflikt zu einem gewalttätigen Ausbruch brachte. Eine besondere Rolle spielten hier die „Pieds-Noirs“ („Schwarzfüße“), vom „Spiegel“ als „Algerienfranzosen“ bezeichnet, die sich 1962 nach der endgültigen Aufgabe der Kolonien im „Mutterland“ ansiedelten. Mit offenen Armen aufgenommen wurden die Neuankömmlinge, die teils seit Generationen in Nordafrika ansässig gewesen waren, allerdings auch nicht. Zudem fanden sie sich in einem Frankreich wieder, das sie nicht verstanden und dessen politisches System, verantwortlich für den Verlust ihrer Heimat, sie verabscheuten.

Eine hochexplosive Situation also, in der Dominique Manotti ihren historischen Politthriller „Marseille. 73“ ansiedelt. Die Handlung beginnt einige Tage vor dem Mord an Gerlache. Théodore Daquin, Commissaire bei der Brigade Criminelle in Marseille, wäre lieber woanders. Doch bislang blieben seine Versetzungswünsche ungehört. Immerhin hat er bereits einen großen Fall gelöst und ist dabei einigen einflussreichen Leuten auf die Füße getreten. Auch jetzt werden seine Ermittlungen nicht ohne innerpolizeiliche Konflikte abgehen. Ein junger Algerier ist erschossen worden, wahrscheinlich ein Mord aus Rache. Seine Familie nimmt sich einen Anwalt und stellt auf eigene Faust Nachforschungen an, der offiziellen Polizeiarbeit traut man nicht. Und das zu Recht, wie sich schon bald herausstellt. Beweismittel werden verschlampt, Befragungen nachlässig durchgeführt. Stattdessen verwenden die Beamten von der Police Urbaine ihre Energie darauf, dem Opfer einen kriminellen Hintergrund anzudichten, um den Mord als Racheakt im Gangstermilieu erscheinen zu lassen. Doch mit der integren Truppe um Daquin haben sie nicht gerechnet. Selbst der Plan, den Ruf des ebenso aufrechten wie coolen Ermittlers, dessen sexuelle Vorlieben im konservativen Polizeimilieu auf wenig Verständnis stoßen dürften, zu ruinieren, geht schief. Der Zufall bzw. die offenkundige Sympathie der Autorin für ihren Helden will es so.
Gerechtigkeit allerdings gibt nur sehr bedingt, denn Dominique Manotti hält sich an die historischen Tatsachen. Fünfzehn gewaltsame Tode gab es in der algerischen Bevölkerung von Marseille im Sommer und Herbst 1973, informiert die Nachbemerkung, und nur zwei Täter wurden gefasst. Allein diese Umstände rechtfertigen den dokumentarischen Erzählstil, dem sich die Autorin seit vielen Jahren verpflichtet hat und der gelegentlich ein bisschen didaktisch daherkommt. Weniger spannend sind Manottis Romane deshalb nicht, eher das Gegenteil. Denn die Zusammenhänge erschließen sich, ohne dass die Erzählerin stilistisch auftrumpfen würde. Und das ist ein Kunststück.
Bliebe noch darauf hinzuweisen, dass Verlag und Übersetzerin mit dieser deutschen Ausgabe wieder vorbildliche Arbeit geleistet haben. Der Roman liest sich flüssig und das Glossar im Anhang ist ausgesprochen nützlich.
Dominique Manotti: Marseille. 73 (Marseille 73, 2020). Aus dem Französischen von Iris Konopnik. Argument Verlag, Hamburg 2020. 397 Seiten, 23 Euro.