
Das Leben ist nicht mehr als ein langsamer Tod
Nico Walkers „Cherry“ wird angekündigt als der erste große Roman zur Opioid-Epidemie. Tatsächlich ist es eine Selbsttherapie per Schreibmaschine. – Eine Rezension von Johannes Groschupf.
Die New Yorker Firma Purdue Pharma – geführt von den Milliardären Raymond und Mortimer Sackler, die bis vor Kurzem noch als edle Spender von Kunstmuseen weltweit hofiert wurden – brachte 1996 das Schmerzmittel OxyContin auf den Markt. Es wurde zu einem Blockbuster-Medikament, das jährlich für einen Umsatz von einer Milliarde Dollar sorgte, denn es gelang Purdue Pharma, das hochpotente Schmerzmittel als Allerweltsmedikament zu verkaufen: „Ideal für eine große Bandbreite von Schmerzen“, hieß es in der Pressemitteilung zur Markteinführung. Und natürlich: „Die Angst vor Abhängigkeit ist übertrieben.“

Der Marketingfeldzug von Purdue Pharma war beispiellos in seiner Aggression, Verlogenheit und Unverfrorenheit. Die Tabletten wurden wie Bonbons verteilt. Man zielte auf die ländlichen Gebiete jenseits der Großstädte (namentlich West-Virginia in der Region der Appalachen), köderte die dortigen Hausärzte mit fetten Boni, wenn sie OxyContin auch bei alltäglichen Beschwerden verschrieben, gaben unter anderem 34.000 Coupons aus, mit denen Schmerz-Patienten eine Woche lang das starke Medikament kostenlos bekamen. Dann hingen sie am Haken. Für Hunderttausende Amerikaner – zunächst vor allem arme Weiße – wurden die von ihren Ärzten verschriebenen pain killerwie OxyContin, Vicodin oder das synthetische Fentanyl zum Einstieg in die Heroinsucht. Andere, wie etwa Prince 2016, starben an einer Überdosis, da diese Schmerzmittel rasch die Atemwege lähmen.

Für seine illegale Verkaufstaktik musste Purdue Pharma 2007 eine Strafe von 634,5 Millionen Dollar Strafe zahlen, eine der höchsten Strafen, die in der Branche jemals verhängt wurden. Die Sackler-Brüder werden von Kunstmuseen und Bibliotheken seither nicht mehr als Gönner und Mäzene umworben. Doch die Opioid-Epidemie ist zu einem andauernden, alltäglichen Desaster geworden. Täglich sterben in den USA durchschnittlich 140 Menschen an den Folgen von Schmerzmittelmissbrauch. In drei Wochen sind das so viele Tote wie bei 9/11. Die Epidemie nahm ein solches Ausmaß an, dass Präsident Trump 2017 den nationalen Notstand ausrufen musste. Zusätzliche finanzielle Mittel zur Bekämpfung wurden allerdings kaum bereitgestellt.

In ihrem Buch „Dopesick: Dealers, Doctors, and the Drug Company That Addicted America“ (ab 26. August ebenfalls wie „Cherry“ bei Heyne Hardcore, d. Red.) von 2018 berichtet die Journalistin Beth Macy eindrucksvoll von den Verheerungen, die die Opioid-Krise in Familien, Gemeinden, Kleinstädten der Bergbaugegenden von West-Virginia und zunehmend auch in den Großstädten des rust beltanrichtet. Macy nutzt die Mittel der erzählenden Reportage – akribische Recherche, persönliche Storys und Interviews, Prozessberichte –, um ein plastisches, teilweise erschütterndes Bild der Opioid-Katastrophe zu zeichnen. Eine literarische Auseinandersetzung mit diesem gesellschaftlichen Desaster steht jedoch noch aus.
Nico Walkers „Cherry“ wurde vom New York Magazine als „der erste große Roman über die Opioid-Krise“ gepriesen. Walker, 1985 geboren, in Cleveland aufgewachsen, Mittelstandskind und College-Aussteiger, verdingte sich 19-jährig als Sanitäter bei der US-Armee und ging für zwei Jahre in den Irak, wo er 250 Kampfeinsätze mitmachte. Als er zurückkam, war er traumatisiert, depressiv und drogenabhängig – und finanzierte seine Heroinsucht schließlich durch Banküberfälle. Nach zehn Überfällen innerhalb von vier Monaten wurde er gefasst und zu elf Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis schrieb er dann auf einer – wie es die Legende verlangt – alten, rostigen Schreibmaschine im Laufe von vier Jahren sein Leben nieder. Der Roman erschien 2018 bei Alfred A. Knopf und avancierte zum Bestseller, die Filmrechte wurden bereits für eine Million Dollar verkauft. Im November 2020 soll Walker freikommen.
„Cherry“ also – im US-Army-Slang bezeichnet „Cherry“ einen unerfahrenen Neuling im Kampfeinsatz, dessen Verhalten unberechenbar sein kann – hat drei thematische Hauptstränge: die Langeweile und Perspektivlosigkeit eines College-Drop-outs, die sinnlose Brutalität der Terroranschläge wie auch der US-Militäreinsätze im Irak, das qualvolle Überleben als Heroin-Junkie. Walker erzählt völlig unprätentiös und kunstlos. Gelegentlich bringt er mit wenigen Sätzen eine Situation auf den Punkt.
„Wir schaffen uns einen Hund an“, hatten wir gesagt. „Dann sind wir keine Junkies mehr.“ Also schafften wir uns einen Hund an. Junkies blieben wir trotzdem. Junkies mit Hund.
Zu Beginn zeigt Walker noch einen trockenen Witz, wenn er von seinen höflichen Banküberfällen („Ist nichts Persönliches“, versichert er den Kassiererinnen stets) berichtet. Doch das ist nur der Vorspann, der ein Versprechen auf einen einigermaßen dramatischen Handlungsbogen gibt, das nicht eingelöst wird. Von nun an gibt es nur noch zersplitterte Szenen, mal angestrengt bedeutsame, meist aber belanglose Situationen, gelegentlich skurrile oder brutale Anekdoten, die sich zum Mosaik eines vertanen Lebens fügen.
Dann gehe ich die Straße runter, von oben bis unten mit Blut und Dreck besudelt, und nichts ergibt irgendeinen Sinn.
Die Dialoge sind bis an die Schmerzgrenze banal.
„Warum bist du immer so gemein zu mir?“
„Ich bin nicht gemein zu dir. Und jetzt verpiss dich bitte, okay?“
„Ich liebe dich.“
„Hör auf. Du weißt selbst, dass das Quatsch ist.“
Sie trat mich noch einmal.
„Scheiße, Libby!“, sagte ich. „Was soll das?“
„Tut mir leid.“
Mag sein, dass Junkies und gestresste Dealer eher in restringierten Sprachcodes kommunizieren. Mag sein, dass Nico Walker in seinen literarischen Studien nicht über Hemingway und Bukowski hinausgekommen ist. Auf jeden Fall ist es frustrierend, als Leser diesen leeren Dialogen zu folgen. Da bekommt man Freitagabends in der Berliner U-Bahn-Linie 8 zwischen Hermannstraße und Kottbusser Tor Unterhaltungen mit mehr Esprit geboten.
Was seine Figuren angeht, sieht es nicht besser aus. Erinnerungen an die Studenten- und Soldatenzeit eignen sich stets, um eine Reihe von originellen und skurrilen Charakteren aufzubieten, die zumindest für eine Anekdote gut sind. Aber dieser Erzähler hat keine Freunde, in der Armee gibt es offenbar nur kranke Arschlöcher, unter den Drogendealern sieht es noch schlimmer aus. Von den Frauen wird meist nur erwähnt, dass sie „einen amtlichen Vorbau“ haben. Auch von den sonstigen Gestalten bleibt einem keine im Gedächtnis, noch nicht einmal Emily, seine große Liebe, die er kurz vor dem Auslandseinsatz heiratet. Während er im Irak ist, telefonieren sie eifrig (den Wortlaut sparen wir uns lieber), doch als er zurückkehrt, ist die Beziehung vorbei, ohne dass man erfährt, was es eigentlich war.
Ich fuhr nach Ohio zurück. Auf dem Weg hielt ich in Elba. Emily wollte die Scheidung, also ließen wir uns scheiden. Anschließend fuhr ich nach Hause. Ich hatte ein bisschen Geld gespart und begann, allerlei Drogen einzuwerfen.
Und wo ist jetzt der große Roman zur Opioid-Epidemie? Walker sieht nichts außer sich selbst. Wo ist hier überhaupt ein „großer Roman“?
„That’s not writing; that’s typing“, sagte Truman Capote einst über Kerouacs angestrengte und oberflächliche Schreibweise. Auch Nico Walker hat tapfer in die Tasten der mechanischen Schreibmaschine gehackt, die ihm im Gefängnis zur Verfügung stand. Ganz offensichtlich hat er sich mit diesen Seiten (380 sind es in der deutschen Ausgabe) viel von der Seele geschrieben. Man darf dankbar sein, dass er zumindest auf Larmoyanz und billige Schuldzuweisungen verzichtet. Er gibt Einblicke in die achselzuckende Ratlosigkeit einer jungen Generation, die wie beiläufig in Auslandseinsätze der Armee, in Drogensucht und Beschaffungskriminalität und Gefängnis abrutscht – alles überaus ehrwürdige literarische Sujets, die Vorgänger wie Hubert Selby jr, William Burroughs, Edward Bunker und viele andere zu souveräner Prosa herausgefordert haben. Bei Nico Walker bleibt die Erzählung flach, ich-bezogen, hilflos. Er hat kein Auge für das besondere Detail. Er hat kein Ohr für Dialoge. Er hat kein Gespür für die Tragödie seiner Generation.
Der große Roman zur gegenwärtigen Opioid-Krise muss noch geschrieben werden.
Johannes Groschupf
- Nico Walker: Cherry (2018). Aus dem Amerikanischen von Daniel Müller. Wilhelm Heyne Verlag, München 2019. Hardcover, 380 Seiten, 22 Euro. – Siehe auch das Interview von Alf Mayer mit Nico Walker in dieser CrimeMag-Ausgabe nebenan.
Anm. d. Redaktion: „Berlin Preppers„, der neue Roman von Johannes Groschupf, erscheint am 13 Mai in der von Thomas Wörtche herausgebenen Reihe bei Suhrkamp. Wir sind dabei, Johannes Groschupf noch öfter zu Kritiken bei uns zu überreden – selten genug, dass ein Autor sich auf das Rezensionsfeld wagt.