Unser heutiges Leitmotiv ist Mexiko. Korrupt, gewalttätig, die Hölle. Aber ist das schon das ganze Bild? Jürgen Neubauer lebt in Mexiko und hat seltsame Erlebnisse … Hier ist eines davon:
Xalapa bei Nacht
Eigentlich will ich ja nicht über Verbrechen und Korruption in Mexiko schreiben. Aus Prinzip nicht, und weil die deutsche Online-Journaille sowieso schon ausführlichst über die Gräuel in Mexiko berichtet, weshalb bestens bekannt ist, dass in Mexiko das Blut in den Straßen fließt, während sich die korrupte Polizei mit den Drogenbanden verbrüdert. Aber da der Spiegel natürlich längst nicht alles im Blick hat, muss ich nun doch mit einem knallharten Tatsachenbericht in die Bresche springen und schonungslos die Wahrheit über das Unwesen der Korruption in Xalapa enthüllen.
Eines Abends, kurz nach unserem Umzug von Malinalco nach Xalapa, sind wir auf dem Nachhauseweg von der Innenstadt zu unserem Häuschen im Vorort Las Trancas. Es ist gegen neun und längst dunkel. Gerade hat der Regen aufgehört, in den Pfützen der Schlaglöcher spiegeln sich die gelben Straßenlaternen. An einer Ampel biege ich links ab und sehe, wie plötzlich jemand zwischen den parkenden Autos hervorspringt und winkt.
Lourdes zischt: „Scheiße, Polizei! Sag einfach Ja zu allem und leg dich nicht mit ihm an!“
Ich fahre rechts ran, kurbele die Scheibe runter und sehe in ein pausbäckiges, schnauzbärtiges Gesicht.
„Guten Abend, oficial“, sage ich höflich.
„Sie sind hier links abgebogen?“, fragt er mich, als wäre das nicht offensichtlich.
„Ja“, antworte ich wahrheitsgemäß.
„Hier ist Abbiegen verboten!“, antwortet er streng.
Ich spüre einen Stich im Magen.
„Ai carai! Aber da ist doch gar kein Schild!“
Lourdes knufft mich.
„Doch, da ist ein Schild. Da hinten! Sehen Sie’s?“ Der Polizist zeigt vage die schlecht beleuchtete Straße entlang. Ich verdrehe ein wenig den Kopf und sehe natürlich nichts.
„Darf ich mal Ihre Papiere sehen?“ Lourdes zieht die Papiere aus dem Handschuhfach und ich reiche sie zum Fenster hinaus.
„Abgasuntersuchung?“
Die Plakette klebt zwar an der Scheibe direkt neben ihm, aber ich gebe ihm die Papiere trotzdem. Unter dem Licht der Taschenlampe besieht er sie sich genauestens und reicht sie mir dann wieder zurück.
„Und Ihren Führerschein bitte.“
Ich gebe ihm auch noch meinen mexikanischen Führerschein, ein Plastikkärtchen, das ich in Mexiko-Stadt im Supermarkt gekauft habe. Er sieht ihn sich gar nicht an, sondern steckt ihn ein. Dann zieht er ein Heftchen heraus.
„Missachtung eines Verkehrszeichens, das ist teuer …“ Er öffnet das Heft und hält es mir hin. „Sehen Sie, das sind 1000 Pesos.“
Ich kann die Zahlen im Dunkeln kaum erkennen, aber eine vierstellige sehe ich nirgends. Ehe ich meinen Tatbestand finden kann, hat er mir das Büchlein schon wieder weggezogen.
„Das ist ja bitter“, sage ich zerknirscht. „Aber ich habe wirklich kein Schild gesehen.“
„Doch, da hängt es, wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen.“
Ich glaube es ihm auch so, denn ehrlich gesagt habe ich auch keine Lust, aus dem Auto auszusteigen. Man weiß ja nie. Mir ist mulmig und ich hoffe, dass wir das Ganze möglichst schnell über die Bühne bringen.
„Na ja, da kann man eben nichts machen. Und wie bezahle ich das jetzt?“
„Da müssen Sie auf die Wache der Straßenpolizei. Sie haben vierzehn Tage Zeit. Da können Sie dann auch Ihren Führerschein wieder abholen.“
Ich bin erschrocken, dass er wegen dieser Kleinigkeit gleich meinen Führerschein behalten will. Es klingt plötzlich alles furchtbar kompliziert und langwierig.
„Und wo ist die?“
Er nennt mir eine Adresse, mit der ich natürlich nichts anfangen kann. Nervös überlege ich mir, ob ich ihm nicht irgendwie einen Deal anbieten kann. In Mexiko-Stadt lautet das Zauberwort „Wie regeln wir das?“ Aber ich war noch nie in der Verlegenheit, es ausprobieren zu müssen, und habe Schiss, die Frage zu stellen. Was, wenn er sauer wird?
„Wo ist denn das? Wir sind nicht von hier“, frage ich resignierend.
„Ach, du bist nicht von hier? Woher kommst du denn?“ Wie das in Mexiko so oft passiert, wird er plötzlich vertraulich. Ich habe keine Ahnung, ob das ein gutes Zeichen ist oder nicht.
„Wir sind grade aus Mexiko-Stadt hierher gezogen.“
„Aha, aus Mexiko-Stadt. Ja, da wohnt ein Cousin von mir.“ Er holt meinen Führerschein wieder aus der Tasche und sieht ihn sich an. „Wo wohnt ihr denn da?“
„In Coyoacán.“ Das Gespräch nimmt eine sonderbare Wendung, aber keine, die mich sonderlich erleichtert. Es kann doch nicht sein, dass er sich plötzlich für meine Biografie interessiert. „Wir sind erst seit zwei Wochen in Xalapa. Deswegen kenne ich die Schilder noch nicht.“ Ich zucke die Schulter. „Aber so lerne ich sie dann eben kennen.“
„Soso, aus Mexiko-Stadt. Und du kennst Xalapa nicht? Pass auf, ich rufe mal meinen Vorgesetzten. Vielleicht können wir da ja was machen.“
Ich schöpfe neuen Mut. „Was machen“ klingt gut. Vielleicht ist das der erhoffte Deal. Er ruft ins Dunkel, und ein Stück weiter vorn erkenne ich einen zweiten Polizisten, der zwischen den parkenden Autos auf Verkehrssünder lauert.
„Schau mal, Chef, die beiden sind erst seit zwei Wochen in Xalapa. Was meinst du, können wir da was machen?“
Der andere tritt ans Fenster und nimmt meinen Führerschein. Er beugt sich zu mir herunter und verzieht sein Pferdegesicht zu einem strengen Blick.
„Hier ist Abbiegen verboten!“
Das weiß ich inzwischen. Ich sage mein Sprüchlein auf: „Wir sind erst seit zwei Wochen hier. Deswegen kenne ich die Schilder noch nicht.“ Aber der Vorgesetzte macht nicht den Eindruck, als interessiere ihn das. Im Gegenteil.
„Also, wenn ich in eine neue Stadt komme, dann sehe ich mir zuerst alle Schilder und Straßenführungen an“, klärt er mich auf. Was ich ihm sofort abnehme. Er wird uns also nicht mit einer Ermahnung davonkommen lassen. Ich frage mich nur, was jetzt noch kommt. Irgendwie dauert dieses Spiel schon ziemlich lange, und irgendwie ist ziemlich wenig passiert.
„Ja, das werde ich jetzt auch tun. Und das Schild hier vergesse ich jetzt auch ganz bestimmt nicht“, beteuere ich demütig.
Er sieht mich dumm an und dreht meinen Führerschein zwischen den Fingern. Ich schaue dumm zurück und warte. Dann frage ich: „Können Sie mir bitte sagen, wo und wie ich bezahlen muss?“
Plötzlich geht alles ganz schnell. Der erste Polizist nimmt seinem Kollegen meinen Führerschein aus der Hand, wirft ihn mir durchs Autofenster auf den Schoß und ruft:
„Komm, wir nehmen den nächsten!“
Winkend und ohne ein weiteres Wort springt er hinaus auf die Straße, der andere hinterher.
Jürgen Neubauer
Die Bilder: Noël Orlando aus Xalapa. Dieser Text erschien auch hier