
Keiner bleibt unberührt
In den 90er-Jahren tobten mehrere Kriege auf dem Balkan. Sie brachten den Menschen unermessliches Leid. Ein Land zerfiel. Trotz der Entsendung von UN-Truppen, unzähliger Flüchtlingsschicksale und späterer Verfahren am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag blieb das Interesse des überwiegenden Teils der Europäer eher gering. Diese Kriege nahezu vor unserer „Haustür“ haben mittlerweile Eingang in die Literatur gefunden, die an die einstigen Geschehnisse und Folgen erinnert. In seinem Roman „Blut und Wasser“ verbindet der kroatische Schriftsteller Jurica Pavičić einen Kriminalfall mit der Geschichte seines Landes.
Es sollte ein fröhlicher Tag werden, dieser 23. September 1989. In Misto wird das traditionelle Fischerfest gefeiert. Nichts deutet daraufhin, dass dieser Tag das Leben einer Familie zerstören wird. Doch plötzlich ist Silva verschwunden, die 17-jährige Tochter von Vesna und Jakob. Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf. Spürhunde und Taucher kommen zum Einsatz. Die Medien berichten landesweit von dem Fall. Auch die Eltern der Jugendlichen und ihr Zwillingsbruder Mate suchen nach Silva, verteilen in unzähligen Dörfern und Städten landauf landab Plakate mit dem Gesicht des Mädchens. Doch die Spuren sind und bleiben dürftig. Auch der Fund von Drogen am Haus der Familie sorgt für ein Rätsel. Und ist Adrian, der Sohn des ortsansässigen Bäckers, der schließlich in Verdacht gerät, wirklich der Täter?
Die Zeit vergeht. Jahre ziehen ins Land. Der Krieg bricht aus. Adrian schließt sich dem Militär an. Misto bleibt von Gefechten und Zerstörung verschont. Später geht die langjährige Ehe von Vesna und Jakob in die Brüche, Silvas Vater, der zuvor seinen Job als Buchhalter in einer Firma verloren hat, zieht ins nahe gelegene Split. Statt zu studieren, hält sich ihr Sohn mit Jobs über Wasser und sucht weiterhin nach seiner Schwester. Hinweise führen Mate im Laufe der Zeit auch nach Schweden und Spanien. Eines Tages lernt Mate jene Frau kennen, die bei der Polizei ausgesagt hat, Silva am Tag nach dem Fischerfest am Busbahnhof gesehen haben soll. Wollte die 17-Jährige vielleicht nur an einem anderen Ort, womöglich im Ausland neu anfangen?
Welche Folgen das plötzliche und rätselhafte Verschwinden einer Person auf das Leben ihrer Mitmenschen hat, ist das große Thema von Pavičićs Roman. Ein Ereignis, das an keinem im näheren und weiteren Umkreis spurlos vorbeigeht. Sogar der damals ermittelnde Kommissar Gorki wird von dem ungelösten Fall verfolgt. Auch dessen Leben hat sich mit den Jahren komplett verändert. Aus dem ehrgeizigen Polizisten ist ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden, der in der Immobilien-Branche tätig ist und in seiner kroatischen Heimat den Weg für ausländische Investoren ebnet, die mit riesigen, oft auch prunkvollen Hotelanlagen das Antlitz der kleinen Küstenstadt für immer verändern. Nicht nur zur Freude und zum Gewinn der Einwohner.
Diese Entwicklung eines Landes und eines Ortes, diese einzelnen Phasen und Ereignisse eines Lebens fängt der Autor mit Hilfe verschiedener Perspektiven ein. Mehrere Protagonisten schildern aus ihrer Sicht sowie in Zeitsprüngen ihre Erlebnisse und Gedanken. Die Zeitspanne reicht vom Tag von Silvas Verschwinden 1989 bis ins Jahr 2017, wenige Jahre nachdem die Familie Gewissheit hat, was mit Silva geschehen ist. Mittlerweile ist Mates Tochter, die wie Silva aus dem Gesicht geschnitten ist, erwachsen.
Blut und Wasser“ ist ein spannender, klug konstruierter und thematisch vielschichtiger Roman, gefüllt mit überraschenden Wendungen sowie unterschiedlichen Lebenswegen und Schicksalen. Erst gegen Ende wird der Fall letztlich gelöst. Bis dahin wird der Leser wohl kaum das ganze Ausmaß der Geschehnisse im September 1989 erahnen können. Es ist berührend, wie Mate und sein Vater Jahre lang die Hoffnung nicht aufgegeben haben, wie die Ungewissheit und der Schmerz wie Gift in das Familienleben dringen, und wiederum erschreckend zu lesen, wie die Suche nach dem Täter und das gegenseitige Misstrauen die Gemeinschaft von Misto zunehmend untergraben. Darüber hinaus erfährt der Leser einiges über den verheerenden Krieg und dessen Folgen sowie die teils fatalen Auswirkungen von Kapitalismus und Korruption.
„Blut und Wasser“ ist nicht der erste Roman, in dem sich Pavičić kritisch mit dem Krieg in seiner Heimat auseinandersetzt. Bereits in seinem Debüt „Nachtbus nach Triest“, 1997 erschienen und auch unter dem Namen „Die Zeugen“ bekannt, widmet er sich dem Thema. Der Roman bildete die Vorlage für den gleichnamigen Film, der auf der Berlinale 2004 mit dem Friedenspreis ausgezeichnet wurde. Pavičić, 1965 in Split geboren, zählt zu den namhaftesten Autoren und Journalisten seines Landes. Neben Romanen schrieb er Erzählungen sowie das Drama „Minuta 88“. Im kleinen unabhängigen Berliner Literaturverlag schruf & stipetic sind mehrere seiner Werke in deutscher Übersetzung erschienen.
Jurica Pavičić: Blut und Wasser. aus dem Kroatischen von Blanka Stipetic. Verlag schruf & stipetic, Berlin 2020. 276 Seiten, 12,90 Euro.
Constanze Matthes: 1977 in Großenhain/Sachsen geboren, seit der Kindheit verrückt nach Büchern und Geschichten. Studium der Germanistik, Kommunikations- und Medienwissenschaften sowie Theaterwissenschaft in Leipzig, dabei ein Auslandsaufenthalt in Norwegen und seitdem in dieses Land verliebt. Erste journalistische Erfahrung als freie Journalistin für die Sächsische Zeitung gesammelt, heute unter anderem für das Naumburger Tageblatt/Mitteldeutsche Zeitung tätig. Auf ihrem Blog „Zeichen & Zeiten“ schreibt sie über Bücher, die sie ans Herz legt. Sie lebt und arbeitet in Naumburg/Saale. Constanze Matthes bei CrimeMag. Bei Twitter.