Geschrieben am 4. März 2019 von für Crimemag, CrimeMag März 2019

Katja Bohnet: „Willnot“ von James Sallis

Dead or alive?

Abschied und Neuanfang

James Sallis verabschiedet sich mit jedem weiteren Roman von Verbrechen und Aufklärung. Wie alle guten SchriftstellerInnen wendet er sich dem Menschen zu. Sallis’ Personal wirkt gebrochen. Vom Leben, von Krankheiten, von Anfang an. Es gibt ein Verbrechen, Tote, Vermisste,

„Passiert ja nicht alle Tage, dass gleich zwei vermisste Personen bei einem auf der Veranda stehen.“

einen Sheriff, sogar eine FBI Agentin, Spurensuche. Schlüsselfiguren geistern durch den Roman. Lose Enden bleiben offen. Sallis weigert sich, sie endgültig zu schließen. Eigentlich eine Paradedisziplin der Kurzgeschichte. Vielleicht sind Sallis’ Romane deshalb keine Schinken, nur knapp unter zweihundert Seiten lang. Sallis möchte keine Erwartungen mehr erfüllen. Aufklärung und Katharsis bleiben aus. Das Leben beschädigt Menschen. 

„Teddy Wu, mein damaliger Chef während der Facharztausbildung, sagte uns immer, das Leben sei nur ein langer Erholungsprozess, bevor die tödliche Krankheit zuschlägt.“

Nicht umsonst ist Sallis’ Protagonist Lamar Hale Arzt. Sein Selbstverständnis: „Problemlöser, Ingenieur, … dafür sorgen, dass der Motor läuft“. Er flickt, repariert, operiert und behandelt, was er kann. 

Die spielentscheidenden neunzig Prozent

In Willnot (Achtung! Namen sprechen. Kann für Orte gelten oder für das Personal.) werden in einer Grube Leichen gefunden. Man ruft Lamar Hale in seiner Funktion als Arzt zu dem Massengrab. Ein Motiv und die Herkunft der Toten: unbekannt. Ein vermeintlicher Ex-Marine kommt zurück in die Stadt. Er lag einmal im Koma. Schlaf, ob als geistiges Abtauchen des Menschen, als Anästhesie, Ohnmacht oder als Traum und Grauzone, zieht sich motivisch durch den Roman. Die Grube, der Schlaf kennzeichnen jenseits des Körperlichen die Existenz einer anderen Welt. Bewusstsein, Psyche, ein Bereich, der wie ein Eisberg „unterhalb“ der Oberfläche liegt. Sichtbar sind höchstens zehn Prozent. Vielleicht das Freud’sche Es, in dem Triebe und Sublimiertes sich zu Hause fühlen. 

Alt, schwul und verliebt

Lamar Hale tritt selbstlos auf. Er lebt seinen Beruf, ist als Arzt stets für seine Patienten da. Die Verhältnisse sind persönlich, wie es in einer Kleinstadt eben ist. Jeder kennt jeden. Die Welt ist klein und übersichtlich. Aber das Verbrechen schlummert überall. Heile Welten gibt es nicht. Dieser analytische, wissenschaftstreue, ruhige Arzt gleitet ab und an in andere Welten ab. Er sieht Tote, vergangene Begebenheiten. Diese Realität weist mehr als nur einen doppelten Boden auf. Hale lebt zusammen mit seinem Freund Richard. Ein Lehrer, der seine Arbeit ernst nimmt. Der ganz für seinen Beruf lebt, vom hochbegabten Schüler, der mit sonderbaren Fähigkeiten eher aneckt als bewundert wird, bis zu Verwaltungsaufgaben, die er nicht gerne macht. Weil sie ihn ablenken von dem was er am Besten kann: mit Kindern, Menschen arbeiten, ihnen ihren Fähigkeiten entsprechend den Weg zu eben. Sallis zeichnet diese homosexuelle Beziehung innig und mit Respekt. Zwei alte Männer, die sich auf Augenhöhe mit Humor begegnen. Die sich tief ergeben sind. Die Dialoge sind wunderbar pointiert. 

„Football? Du?“„Ich war damals ein Chamäleon, Schatz. Habe immer mein Bestes gegeben, um mich anzupassen.“
„Ach, die Jugend.“
„Ich bin darüber hinweg.“
„Über was?“
„Über beides.“

Zitatwürdiges in diesem Roman ist auch der ausgezeichneten Übersetzung von Jürgen Bürger und Kathrin Bielefeld zu verdanken. Diese Stärke lässt einen darüber hinwegsehen, dass z.B. Richard in der Beziehung mit Lamar klischeehaft kocht. Als müsse eben einer diese Aufgabe in einer Beziehung nicht nur übernehmen, sondern auch leben. Woher diese Besessenheit im modernen Kriminalroman mit Tipps für Wein, Gerichte und Zubereitungsarten wohl nur kommen mag?

Männer stehen im Zentrum, Frauen sind marginal

„Willnot“ ist ein wunderbarer Roman, der das Dasein in der Schwebe hält. Ein Roman, in dem jede Figur ein eigenständiges Leben führt, eine Geschichte hat. Sallis beschreibt Leben in allen Facetten, Falsches im Richtigen, Richtiges im Falschen. Er erzählt immer aus der Figur heraus. Was man Sallis ankreiden muss und kann: Es ist eine Männerwelt, die Frauen nur als marginal begreift. Frauen spielen Nebenrollen. Sie tauchen, wie die FBI-Agentin Ogden, eher schemenhaft auf. Sie sind Sekretärinnen, Mieterinnen. Tragende Rollen bekleiden sie nicht. Sallis scheint sich auf Männer-Psychen zu konzentrieren und zu verstehen. Kraftmeier und Machos wird man in seinem Werk vergeblich suchen.

Liebeserklärungen

„Willnot“ ist kein waschechter Kriminalroman. Auch kein Thriller. Sallis versperrt sich diesen Einordnungen der Verlage. Seine Welt ist immer noch noir, aber langsam gleitete sie in die Gefilde der Geister ab. In das Land — vielleicht ein anderes Amerika —, in dem Männer ihren Platz suchen. Manche haben ihn gefunden, die meisten suchen noch. Andere haben aufgegeben und sich kurzerhand erschossen. Der Tod ist immer da. Unter den Überlebenden gibt es keine Revierkämpfe. Eher eine stille Solidarität. Selbst Schüsse erfolgen nur, weil sie passieren müssen. Sie sind nicht als Kriegserklärung gemeint. Nur Brandmarken, Narben in dem ewigen Fluss der Notwendigkeit. Es sind feinsinnige, vielschichtige Männer, die sich jeder einfachen Lesart entziehen. Denen das Leben mitspielt, das Verbrechen, besonders die Verhältnisse. 

Vielleicht ist dieser Roman genau das: eine Liebeserklärung an den Mann. 

Katja Bohnet

  • James Sallis: Willnot (2016). Aus dem Englischen von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt. Liebeskind, München 2019. 224 Seiten, 20 Euro.

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