Erziehung der Gefühle 4.0
In den letzten zehn Jahren, lese ich, hat sich der Wunsch junger Menschen nach Geschlechtsumwandlung vervielfacht: Zehnmal, hundertmal, zweihundertmal so viele Jugendliche wie davor glauben bzw. fühlen, im falschen Körper zu leben. Sie gehen in die Klinik und wollen sich mit Hormonen und Chirurgie richten lassen. Und, so geht der Bericht weiter, ein Arzt wird skeptisch. A geh, da schau i ja, wie man in Wien sagt.[1]
Mit den Möglichkeiten wachsen die Bedürfnisse. Als ich jung war und mich nicht wie ein Mädchen benahm (das ist eine Weile her), nannten mich die Leute einen verpatzten Buben, in England Tomboy, gelegentlich auch nur Lausbub. Als Pubertierende hasste ich den wachsenden Busen und war todunglücklich, als ich die sehr schmerzhafte Regel bekam. Ich hätte gern auf diese Weiblichkeit verzichtet, lief mit dicken schwarzen Pullovern und kurzen Haaren herum, wie das in Zeiten der Lektüre von Sartre & Co üblich war. Es gab noch keine Möglichkeit, sich geschlechtsumzuwandeln. Meine Maßstäbe bezog ich vom Chef unserer Bande, später von männlichen Kollegen, Philosophen oder sonstwie beeindruckenden Vorbildern. Ich war bestimmend, durchsetzungsfähig, angeberisch, hatte offenbar Führungsqualitäten. Das mit dem Augenaufschlag und Trippelschritten habe ich nie gelernt, fand es auch schwer, die Kerle zu bewundern, oder gar im Dienen oder Putzen oder Kochen eine Lebensaufgabe zu sehen. Heute sage ich, zum Glück bin ich ne Frau, wäre ich ein Mann, dann wäre ich wohl ein Macho. Nun also legen sich Mädchen unters Messer oder lassen sich Hormone spritzen (oder sind das die Jungs, die weiblich werden wollen, ich kenn mich da nicht so gut aus).
Das Private ist politisch. Nicht nur rollt die Gesellschaft zurück zu autoritären, von Gefühlen statt Gedanken bestimmten Entscheidungen. Es ist für mich, und ich bitte um Pardon für sich gekränkt fühlende Transsexuelle, ein Rückfall in antiquierte Vorstellungen von Geschlechterrollen, wenn Mädchen mithilfe fremder Götter in Weiß männlich werden wollen und umgekehrt. Mit der Möglichkeit wachsen offenbar auch die Gefühle. Alles was technisch möglich ist, wird irgendwann auch gemacht. Ich blicke traurig zurück in Zeiten, in denen jeder sein und fühlen konnte, wie er/sie wollte, ohne Operation.
Funktioniert der Rechtsradikalismus ähnlich? Mann kann wieder, und darf, es bieten sich auf den Straßen, in den Kneipen und in neuen Medien viele Anschlussmöglichkeiten. Als anti-liberaler, gewaltbereiter Anhänger einer radikalen Noch-Außenseiter-Clique ist man zudem auch noch was Besonderes, was ja auch die Markenwerbung preist.
Nicht alle, zumindest nicht allzu viele Menschen haben gelernt, ihre Urteilskraft auszubilden, und es gibt genügend Instrumente bzw. Medien, mit deren Hilfe die anstrengende Tätigkeit des Selbstdenkens durch Anlehnung (an Moden, an laute starke Männer, an Cliquen usw.) – ersetzt werden können. Schulen und Universitäten setzen dem nur begrenzt, jedenfalls nicht besonders erfolgreich, etwas entgegen. Wer wäre sonst noch zuständig für die Ermutigung zum Umgang mit verunsichernden Gefühlen? Politiker? Pfarrer? Väter und Lehrer, oder Mütter und Lehrerinnen? Bücher, aus denen wir im vorigen Jahrhundert noch saugten, sind es wohl nicht mehr.
Den skeptisch gewordenen Arzt möchte ich in seinem Misstrauen bestärken. Ich wage zu überlegen, ob medizinische Eingriffe bei Pubertierenden mehr mit Verstümmelung als mit Selbstbestimmung zu tun haben. Das ist eine Definitionsfrage, auch eine Frage der Definitionsmacht. Aus meiner nicht mehrheitsfähigen Sicht tragen auch das Abschneiden des Verstandes, die Nährung von Wutgefühlen und die ganze Konjunktur von gefühliger Befindlichkeit zur Verstümmelung der demokratischen Rechtsordnung bei.
Ob Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Geschlecht, Zugehörigkeit zu Deutschland oder zur Welt, überall herrscht Verunsicherung und Sehnsucht nach überschaubarer Ordnung. Ich habe gegoogelt und gefunden, dass gegen gefährliche „identitätsstiftende“ Verstümmelungen in „fremden“ Ländern mehr Begleitforschung, Gesprächsgruppen und Reflexion helfen können. Zum Fest der Kerzen und Gefühle wünsche ich mir ein paar schöne, feine Instrumente, mit denen ich und viele andere gegen die Verstümmelung der Denkorgane und für eine Erziehung der Fühlorgane wirken könnten.
Anm: [1] Die Zeit vom 22.11.2018, S. 33.
Hazel Rosenstrauch
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