Gelesen. Gehört. Gesehen (11)
Es sind die Jahre, in denen die Söhne ihre Väter fragen, wo sie im Krieg gewesen sind und was sie getan haben: „Warst du dort ein anderer als zu Hause? Hast du nie deine Familie an die Wand gestellt, nie deinen Sohn getroffen, wenn du abgedrückt hast?“ Das fragt der eine (Philipp Luidl) und bekommt keine Antwort. Und ein anderer prügelt auf seinen Vater ein, weil er mit dem Blick auf ihn die „Veranlagung zu Grausamkeit und Heimtücke“ in sich selbst erkennt (John Fante).
Es sind die Jahre, in dem einem die großen Schulferien wie eine Ewigkeit vorkommen, von der dann aber doch nur ein einziges Bild bleibt: Ein Tennis spielendes Paar am frühen Morgen, das sich zum Schluss umarmt, „sie dann sich langsam voneinander lösten, bis sich nur noch ihre Fingerspitzen berührten, lange, lange, lange (Günter Ohnemus).
Da ist die Sehnsucht, lockt die Ferne und das Abenteuer, da werden Eindrücke und Erlebnisse zu Gedichten und Geschichten, zu Reportagen und Romanen: „Morgenlicht“ und „Nur wir zwei“, „Trautes Heim – Glück allein“, „Beat Hotel“, „Soul-Time“ und „La fabricia“. Es sind 18 internationale Autor*innen, die über ihre Jugend und ihren Alltag schreiben, über ihr Aufbegehren und ihren Aufbruch bis hin zum vorläufigen Ende.
Versammelt sind sie in einem von Design-Studierenden der Hochschule Augsburg gestalteten literarischen Magazin mit dem Titel „Marotte“. Marotte, das ist laut Duden eine seltsame, schrullige Eigenart, ist hier aber zugleich eine augenzwinkernde Bezeichnung der Arbeit des Herausgebers und „Maro“-Verlegers Benno Käsmayr.
Käsmayr hat seinen Verlag 1969 gegründet und gleich zu Beginn einen Bestseller veröffentlicht: „ … ein Sammelsurium von Zetteln, von Bierdeckeln, von beschriebenen Prospekten“, zeitgemäß und auch zeitübergreifend ergänzt mit einer Menge auf Speed rausgehauener Einschübe und Kommentare, auf Matritzen getippt und per Hand nächtens durchgenudelt – „Trip Generation“ von Tiny (Heinrich) Stricker, ein bundesdeutsches Gegenstück zu Jack Kerouac´s „On the road“. Henryk M. Broder und ein paar andere Typen wählen es auf der Mainzer Minipressenmesse zum „Alternativbuch des Jahres“ (als Mega-Gag gemeint, Subkulturelles fand Broder schon damals scheiße, obwohl er … aber das ist ein Kapitel für sich, demnächst einmal hier in dieser Kolumne).
Benno Käsmayr jedoch kann zügig nachlegen und an Rowohlt die Taschenbuchlizenz verkaufen. Mit Carl Weissner hat der inzwischen sechsundzwanzigjährige Kleinverleger ein weiteres Ass im Ärmel. Der aus den amerikanischen Zentren der kulturellen Revolte New York und San Francisco nach Mannheim zurück gekehrte Fulbright-Student und Cut-up-Autor vermittelt und übersetzt ihm den „Dirty Old Man“ Charles Bukowski: „Im Oktober war die erste Auflage verkauft … die nächste war 2500, die übernächste 5000, dann 10.000 … und dann hat auch bald 2001 gemerkt, was da am Laufen ist und hat das ins Programm genommen. Und dann riefen die nur noch an: 2000 von den Blauen, also von den Gedichten, 5000 von den Roten, denn mittlerweile war auch schon das zweite Buch mit Short Stories ‚Kaputt in Hollywood‘ erschienen.“
Die von Benno Käsmayr in einem Interview mit Frank Schäfer grob skizzierte Verlagsgeschichte schließt die grandios zusammengestellten „unveröffentlichten und wiederentdeckten, abenteuerliche und verrückte, erzählende und lyrische Beiträge“ ab. Es ist eine Zeitreise, von Mitte der Sechziger bis heute. Erinnert wird an V.O. Stomps, den Verleger der Raben- und später der Eremitenpresse, in der mit Originalgrafiken ausgestattet neue Gedichte und Kurzprosa der seinerzeit (1969) jungen deutschen Autoren wie Peter O. Chotjewitz, Otto Jägersberg, Günter Seuren u.a. erscheinen.
Carl Weissner schreibt über das legendäre Hotel Garni im Pariser Quartier Latin, in dem zwischen 1957 und 1963 nahezu „die beinahe komplette 1. Mannschaft der Beat Autoren“ mitunter monatelang wohnt, schreibt und musiziert (und so ziemlich alle verfügbaren Drogen konsumiert).
Barbara Kalender und Jörg Schröder (ehemaliger März Verleger) berichten, wie sie sich von dem gelernten Drucker Käsmayr bei der Konzeption eines Work-in-progress Projekts beraten ließen und Charles Bukowski äußert sich anlässlich seiner „Ochsentour“ durch Deutschland (1978) mit dem Statement: „Ich höre nicht auf, über das zu schreiben, was übrig ist: ein streunender Hund, der die Straße runterläuft; eine Frau, die ihren Mann umbringt; die Gedanken und Gefühle eines Triebtäters, wenn er in einen Hamburger beißt; das Leben in der Fabrik; das Leben in den Straßen und Behausungen der Armen und Krüppel und Geisteskranken, so einen Dreck, ich schreibe eine Menge solchen Dreck …“
„Marotte“, das literarische Magazin des Maro Verlags, liest sich wie eine einzige groß angelegte Story, hat Spannung und Witz, ist informativ und innovativ. Ein Meisterwerk der Dialog-Erzählung ist beispielsweise „Das Hippie-Hemd“ von dem hierzulande immer noch relativ unbekannten amerikanischen Autor Gerald Locklin, Professor Emeritus an der California State University, Long Beach. „Hä, du, gefällt dir mein Hemd?“ – „Ja, gefällt mir. Hab´s die ganze Zeit bewundert. Es ist – Klasse.“ – „Nimm’s, Bob.“ – „Was …?“ – „Nimm´s Bob, ich will, dass du´s nimmst.“
Damit beginnt´s, und es endet böse. Und dann doch wieder nicht. Es ist nicht das einzige Stück großartiger unterhaltsamer Literatur für die Benno Käsmayer mit seinem Augsburger Verlag seit nun schon weit über 40 Jahren steht. „Marotte“ gibt Anlass, sein Gesamtprogramm neu zu entdecken.
Marotte. Ein literarisches Magazin. Maro Verlag, Augsburg 2016, 207 Seiten, 15 €