
Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt
Ich überlege mir gerade, ob ich den Titel der Kolumne so bringen kann, oder ob ein Hit von 1983 mir die werberelevante Zielgruppe zwischen 19 und 49 verprellt (sorry, ihr alten Säck*innen, ich schätze Eure Aufmerksamkeitsspanne, die im Gegensatz zu Euren jüngeren Artgenossen die 3 Sekunden oft übersteigt, Eure humanistische Grundbildung, die mir das Angeben mit den Rudimenten der meinen erleichtert und Eure Fähigkeit zu vernetztem Denken, die seltsamerweise auch besser ausgeprägt ist als die der „Digital Natives“. Aber ich muss langsam aus den sozial- und sonstig -romantischen Träumen, die sich mit Delfinen in den Kanälen von Venedig und nachdenklichen Politikern anfühlten wie ein zweimonatiger Trip auf Pilzen, erwachen und zurück auf den Boden der Realität kommen, also der Maxime des Wachstums Genüge tun, potente Werbekunden an Bord locken. Und da seid Ihr eben, trotz aller persönlichen Sympathie, einfach nicht von Belang). Kann man das denn heutzutage wirklich noch bringen: „Wir steigern das Bruttosozialprodukt“? Doch da höre ich Finanzminister Olaf Scholz in der Bundespressekonferenz genau diesen Songtitel zitieren. Nun ist Scholz zwar auch ein alter Sack, aber da auch er es sich nicht leisten kann, nur Menschen Ü50 anzusprechen, will ich es mal riskieren.

(Sehr geehrter Herr Seehofer, ich habe zwar nicht von alten MÜLL-Säck*innen gesprochen, und Olaf Scholz ist nicht unbedingt Ihr Lieblingskumpel, aber vielleicht möchten Sie mich ja trotzdem anzeigen? Oder noch lieber, mich ins Innenministerium einladen… Im Dienste des Wachstums, in diesem Fall meiner Leserschaft, käme mir ein solcher Push meiner Kolumne sehr entgegen!)

Ich habe mich ohnehin nur für den Titel entschieden, weil ich den lustigen Gag: „Wobei es, zeitgemäß wohl eher „Jetzt wird wieder in die Ellbogen gespuckt“ heissen müsste.“ unterbringen wollte. Das habe ich hiermit ziemlich unelegant getan.

Die Zeit der anmutigen Introspektion ist vorbei, die Zeit der Effizienz ist wieder angebrochen. Und in dieser ist Zeit Geld. Deswegen wird das hier kurz. Und unlustig. Der Ernst des Lebens (oder wie die Menschen, die außer ihrem blöden Job kein Leben haben, es nennen: „Die Normalität“) hat wieder begonnen, und ich habe schlechte Laune. Zunächst einmal weil Corona für mich bedeutete, viel Zeit für schöne Dinge und kein schlechtes Gewissen zu haben, und ich jetzt wieder möglichst viel Scheisse in möglichst kurzer Zeit erledigen muss und dabei ständig ein schlechtes Gewissen habe.
Ich bin aber auch einfach sauer auf mich, weil ich, trotz allem pragmatischen Pessimismus, so ein kleines Fünkchen Hoffnung hatte, dass wir irgendetwas aus dieser Zeit lernen. Dabei hätte ich sofort als die ersten „Wir müssen etwas aus dieser Krise lernen“-Rufe erschallten – wohlgemerkt Anfang März, als die Krise bei uns noch nicht einmal richtig begonnen hatte – jegliche Hoffnung fahren lassen sollen. Etwas zu lernen erfordert Zeit, umzudenken beinhaltet „denken“, nicht nur als Wort. Aber wir, wir saublöde Menschheit, wir haben uns weder Zeit genommen, noch gedacht. Und falls doch, ist das Ergebnis – nämlich den Karren genauso weiter Richtung Wand zu steuern, sogar mit erhöhter Geschwindigkeit, um den „Verlust“ wieder einzufahren – ein erbärmliches.

Dabei war das ein wirklich netter Hinweis, den wir mit der Seuche bekommen haben: Keine Naturkatastrophe, die die halbe Welt unbewohnbar macht, kein Dritter Weltkrieg, sondern eine Pandemie, die hauptsächlich das angegriffen hat, was uns und den Planeten, auf dem wir leben, kaputtmacht: die Wirtschaft in ihrer jetzigen Form. Das Virus hat zunächst einmal keinen Unterschied zwischen Arm und Reich gemacht. Dass es jetzt die Armen sind, die die Folgen tragen, ist menschengemacht. Und, da es möglich wäre, ihnen zu helfen und sie zu schützen, auch so gewollt. (Neulich zeigte mir Facebook eine Werbung für eine Antifaltencreme für den Intimbereich: „Ihre Vagina hat das Beste verdient. Beseitigen Sie alle Hindernisse und genießen Sie mit allen Sinnen!“ – In einer Welt, in der es Leute gibt, die 80 Euro für ein Tiegelchen Fett für ihre ohnehin inaktiven Geschlechtsteile ausgeben können, müsste es doch eigentlich möglich sein, dass kein Mensch unter den Folgen von Armut leiden muss.)
Wie kann man derart deutlich vor Augen geführt kriegen, dass es so nicht mehr weitergeht und so bestimmt zum Normalzustand zurückkehren wollen? Freudig spucken wir wieder in die Hände! (Was für ein Bild übrigens: Wir sollen uns selbst bespucken, um das Bruttosozialprodukt zu steigern…). Die Herde ist ganz offensichtlich immun gegen Intelligenz. Und die Schwarmintelligenz äusserte sich hauptsächlich in Form von Toilettenpapier-Hamsterei. (Ich gelobe hiermit feierlich, dass ich das Wort „Toilettenpapier“ zum letzten Mal in einem meiner Texte benutze!)
Apropos Schwarmintelligenz: Die Heuschrecke, das Tier der Apokalypse, bewegt sich nur deshalb im Schwarm fort, weil sie Angst hat, von ihren Artgenossen gefressen zu werden. Die werden nämlich zu Kannibalen, wenn der Schwarm nicht rechtzeitig eine andere Nahrungsquelle auftut. Eigentlich schade, dass wir, die selbsternannte „Krone der Schöpfung“, wenig mehr in der Birne haben als ein Grashüpfer.

Etwas Hoffnung machen könnte es einem eigentlich, dass Forscher der britischen Universität Nottingham jetzt herausgefunden haben, dass es in unserer Galaxie noch 36 weitere Planeten mit intelligentem Leben geben soll. (Fragt mich nicht, wie die ausgerechnet auf 36 kommen…) Zumindest irgendwo da draußen könnte sowas also existieren. Aber erstens befürchte ich, dass die uns als Massstab für intelligentes Leben nehmen, und zweitens bin ich bei näherer Betrachtung recht froh, dass die Entfernung zu diesen angenommenen Zivilisationen etwa 17.000 Lichtjahre beträgt, und es mit heutiger Technik deshalb praktisch unmöglich ist, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Ich hoffe, das wird auch noch so bleiben, solange ich lebe. Denn wenn auch nur eine dieser Zivilisationen halb so „intelligent“ wäre wie unsere, welche Kriege würden uns bevorstehen? Welche neuen Rassen, Hautfarben, Augenformen, Religionen und Geschlechter gäbe es da zu verachten, zu unterjochen, zu vernichten und als minderwertig zu betrachten? Ich bin mir ziemlich sicher, dass das eine willkommene Abwechslung für uns „intelligente Zivilisation“ wäre – Ist es doch inzwischen ziemlich langweilig geworden auf unserem kleinen Planten mit den paar Variationsmöglichkeiten. „Die Juden“ oder „Die Neger“ sind doch ein alter Hut. „Die Grünhäutigen“ wäre da schon wesentlich spannender…

Aber ich will Eure und meine Zeit nicht länger mit Menschheits-Bashing verschwenden. Mir ist durchaus bewusst, dass ich mich vor allem deshalb so sehr über all das aufrege, weil auch ich, trotz aller großartigen Erkenntnisse der letzten Monate, wieder nach dem Motto „Fressen oder gefressen werden“ im Schwarm auf der Flucht bin, nach dem nächsten Job giere, meinen Wert an meinem Erfolg messe… Ausserdem ist Zeit ja, wie gesagt, Geld, und Ihr werdet mit vollgespuckten Händen nicht den Nerv haben, lange auf dem Bildschirm rumzuscrollen. Wenn ich schon nicht mehr an die Menschheit glauben kann, will ich zumindest versuchen, wieder etwas mehr an mich selbst zu glauben, mir im Juli etwas von meiner neuen Normalität, die sich soviel besser angefühlt hat, als die alte, zurückzuerobern und dann eine gutgelaunte und unglaublich lange August-Kolumne über Hundebabys oder so schreiben.
Iris Boss lebt und arbeitet in Berlin. Dort studierte sie Schauspiel und verließ die Universität der Künste mit einem Diplom mit Auszeichnung. 2001 und 2002 wurde sie mit einem Stipendium für Schauspielnachwuchs der Ernst Göhner Stiftung ausgezeichnet. Seitdem ist sie auf allen Feldern des Schauspielerberufs tätig. Neben der Arbeit auf der Bühne ( u.a. Volksbühne Berlin, Junges Theater Göttingen, Konzertdirektion Landgraf), steht sie für Film- und Fernsehproduktionen vor der Kamera, ist in Hörspielen ( u.a. RBB ) zu hören, tritt mit Lesungen auf und arbeitet als Moderatorin und Synchronsprecherin. In ihrem Blog „bossbloggt“ schreibt sie über ihre Beobachtungen und Gedanken auf langen Theatertourneen durch die deutschsprachige Provinz und in ihrem Berliner Alltag.
Iris Boss bei CulturMag.