Etwas in der Erde zu finden, das ein Weltbild erschüttert
Saurier, Wilder Westen, Raubtierkapitalismus und (fast) theologische Dispute – Eine Rezension von Markus Pohlmeyer
Michael Crichtons (1942-2008) posthum publizierter Roman „Dragon Teeth“[1]von 1974 ist eine mehrfache Zeitreise: zurück zu den Anfängen von Jurassic Park, zurück zu den Anfängen der Paläontologie in Nordamerika überhaupt.[2]Und zurück zu den Indianerkriegen, zurück in den Wilden Westen, der – brutal, schmutzig, voller Revolverhelden und Desperados – nur ein Abbild des Kampfes zwischen den Fossilienjägern Cope und Marsh darstellt – oder des Raubtierkapitalismus an der Ostküste.
„Die Figur des William Johnson ist rein fiktional.“[3]1875: Johnson, Student, getrieben von einer Wette, gelingt es, als Fotograph an der Expedition des überaus paranoiden Paläontologen Marsh teilzunehmen. Dieser sieht in ihm einen Spion seines Konkurrenten Cope und lässt ihn buchstäblich im Nirgendwo zurück, wo er von Cope für dessen Expedition aufgesammelt wird. Eine unwirklich lange Reise in die unwirklich weiten Plains beginnt – überschattet von den tragischen Indianerkriegen, bedroht von Naturgewalten und niedergewalzt von den bald verschwindenden Bisonherden. In allem lauert Gewalt; und alles getaucht in die Aura der Melancholie. Man überlebt die Bedrohungen, selbst die Begegnung mit Marsh, dem man ein falsches Fossil als Köder auslegt. Die Cope-Truppe will die Knochen verschiffen; Johnson reitet noch einmal zum Ausgrabungsort zurück, um die restlichen Kisten zu holen, wird von Indianern überfallen, die seine Begleiter töten; er entkommt und strandet in Deadwood, einem zivilisatorischen Nichts. Ohne eine Möglichkeit des Fortkommens versucht er, seine Kisten zu verstecken und zu schützen, denn mann/frau vermutet Wertvolles darin. Er baut sich eine Existenz als Fotograph auf, bekommt Flankendeckung durch die Earp-Brüder, muss selbst zum Revolver greifen, überlebt – sehr spannend choreographiert – einen Hinterhalt und bringt die Knochen zu Cope, wobei er und Wyatt Earp den gierigen Marsh so richtig austricksen. Natürlich noch am Rande eine seltsame Liebesgeschichte mit einer Dame voller wechselnder Identitäten. Kurz: Das Ganze wirkt wie ein Initiationsritus eines Yale-Studenten auf dem Weg zum richtigen Mann, mit erbarmungsloser Unterstützung des Wilden Westens. Das Flair hat viel von der späteren – schmutzigen, brutalen, schonungslos grandiosen – Serie DEADWOOD[4] (wo gefühlt jedes zweites Wort Fuck! ist) oder der phantastischen Neuauflage von WESTWORLD.
Johnsons Geschichte könnte als horizontale Ebene bezeichnet werden; aber es tut sich auch ein vertikaler Tunnel auf: am oberen Ende werden die Jurassic Park-Filme stehen. Doch in die Tiefe führt eine mentalitätsgeschichtliche Wende, ausgelöst von den Fossilienfunden. Darwins Evolutionstheorie ist noch jung und umstritten, provoziert heftige Diskussionen und Abwehrreaktionen. So fehlen im Roman natürlich auch religiöse Fanatiker nicht. Darwins (falsch verstandene) Theorien werden auch zugleich in das Kapitalistische Selbstverständnis hineinprojiziert: „Hier in New York war das Neue American Museum of Natural History eben erst von anderen Selfmademen wie Andrew Carnegie, J. Pierpont Morgan und Marshal Field angemietet worden. Denn so eifrig religiöse Männer die neue Lehre der Evolution in Verruf zu bringen suchten, so engagiert versuchten wohlhabende Männer, sie zu fördern. Im Prinzip des Überlebens des Stärkeren sahen sie eine neue, wissenschaftliche Rechtfertigung für ihren eigenen Aufstieg und ihre oft skrupellose Lebensführung.“[5]
Exkurs: Evolution vs. Religion
Die sog. Bonewars zwischen Cope und Marsh führten zur Entdeckung zahlreichen Dinosaurier. Prominentestes Beispiel in diesem Roman sind die Fossilien von Brontosaurus („Drachenzähne“[6]): „Etwa um 1880 setzte in den USA und bei Wissenschaftlern wie auch in der breiten Öffentlichkeit ein wahres Dinosaurierfieber ein. Dieser sog. ‚Große Dinosaurierrausch‘ wurde von zwei ebenso sturen wie bornierten Ostküstenmogulen entfacht, nämlich Edward Drinker Cope aus Philadelphia und Charles Othniel Marsh aus Yale. […] Bei ihrer Sammlerfehde heuerten Cope und Marsh unterschiedliche Mannschaften an, die für sie im amerikanischen Westen auf Fossiliensuche gehen sollten. Auf diese Weise kamen beide Männer in den Besitz Hunderter von fossilen Knochen. Der Wettstreit verlief sehr hitzig; die Männer im Feld kämpften nicht nur gegen Indianer, sondern beschossen sich auch gegenseitig, versteckten ihre eigenen Funde und eigneten sich die der gegnerischen Seite an. Auch ihre Arbeitgeber fochten die Fehde in der Presse aus und bezeichneten den anderen als Plagiator und Verleumder. Die Funde wurden beinahe ausnahmslos als neue Arten bezeichnet; und obwohl viele der 136 Dinosaurierarten, die Cope und Marsh im Laufe von gut 20 Jahren benannt haben, mittlerweile revidiert wurden, findet man unten den übrigen Dinosauriern, die sie beschrieben haben, auch so bekannte Vertreter wie Stegosaurus, Diplodocus und Apatosaurus[…].“[7]
Das Buch inszeniert (Dieses Verfahren wäre fast polyphon zu nennen!) in den Figurenkonstellationen und Figurenreden verschiedene Diskurse zu Evolution vs. Religion und die damit einhergehenden mentalitätsgeschichtlichen Umbrüche,[8]welche nicht nur die Existenz anderer Lebensformen vordem Menschen belegen, sondern in ganz andere Dimensionen von Zeitmaßstäben jenseits biblischer Kategorien geradezu hineinzwingen: „»Das soll doch wohl ein Witz sein!«, rief Morton. »Vier Milliarden Jahre? Das ist doch völlig absurd.« »Ich kenne niemanden, der damals dabei war«, sagte Cope sanft.“[9]
Exkurs – Die Donnerechse
Ein sehr gutes Argument von Cope, denn z.B. für den Philosophen Fichte sei Schöpfung „[…] der absolute Grundirrtum aller falschen Metaphysik und Religionslehre […].“[10]Dazu folgende Begründung: „[…] denn eine Schöpfung läßt sich gar nicht ordentlich denken […] und es hat noch nie irgendein Mensch sie also gedacht.“[11]Und niemand war dabei! Mit welcher Analogie dazu sollten wir auch arbeiten?
Beim Graben wurde eine phantastische Entdeckung gemacht – Cope: „»Dreiundzwanzig, möglicherweise dreißig Meter lang, mit einem Kopf vielleicht zehn Meter über dem Boden.« Und gleich hier gab er ihm einen Namen, Brontosaurus, »Donnerechse«, weil es gedonnert haben musste, wenn er ging. »Aber vielleicht«, sagte er, »sollte ich ihn Apatosaurus nennen oder >unwirkliche Echse<. Denn es scheint unglaublich, dass so eine Kreatur je existiert hat …«“[12]Und Brontosaurus darf schon in „The Diaries of Adam and Eve“ von Mark Twain, zwischen 1893-1905 verfasst,[13]einen seiner ersten literarischen Auftritte feiern. Adam: „Als der riesige Brontosaurus ins Lager gestapft kam, sah sie [Eva; Anm. MP] in ihm eine Bereicherung, ich dagegen eine Katastrophe […]. Sie wollte ihn an uns gewöhnen, ich wollte ihm unsere Heimstatt zum Geschenk machen und ausziehen. […]“[14]„Tja, sie hatte noch eine Idee für diese Koloss zur Hand: sie meinte, wenn wir ihn zähmen und freundlich stimmen könnten, dann könnten wir ihn in den Fluss stellen und als Brücke benutzen.“[15]Und das war nur der Anfang: Brachiosaurus,Argentinosaurus, Sauroposeidon, Amphicoelias[16]… sollten folgen. Im Vergleich zu diesen Riesen wirkt die Donnerechse klein.
Was aber, wenn Gott seine Vollkommenheit erst nach und nach erhält?
Im Grunde stellen die seltsamen Knochen in den Kisten für alle in Deadwood ein großes Geheimnis dar (vielleicht doch ein Goldschatz?); nur für Johnson wird ihr inmaterieller Wert immer bedeutsamer, so dass er sie mit seinem Leben beschützt. Hinter all dem Revolverheldengetue dummer Idioten, der kriegführenden Kavallerie und auch der indianischen Gegengewalt, hinter all dem Kapitalismus und der intriganten Bedeutungssucht von Cope und Marsh eröffneten sich durch diese Fossilien ganze Kaskaden von Fragen und weiteren Entdeckungen, die ein neues Weltbild zur Folge haben sollten und die für uns im 21. Jahrhundert so vertraut wirken. Folgendes klingt fast wie ein theologischer Disput: „»Na, dann müssen Sie mir zustimmen, dass es keine ausgestorbenen Tiere geben kann, weil der Herr in seiner Vollkommenheit nie zulassen würde, dass eine Linie seiner Schöpfung ausstirbt.« »[…] Was aber, wenn Gott seine Vollkommenheit erst nach und nach erhält und vergangene Schöpfungen verwirft, um neue zu schaffen?«“[17]Eine unglaubliche Bemerkung von Cope, die schon den Weg in eine moderne Prozesstheologie aufzeigen kann, welche Kosmologie und Evolution mit neuen Konzepten von Gott zusammenzudenken sucht.
Obwohl kein T-Rex gigantomanisch und mit vollem Selbstbewusstsein um die Ecke röhrt (was er vermutlich auch nie getan hat), dieser Roman liest sich spannend: etwas in der Erde zu finden, das so alt, so groß war – und unser Weltbild erschüttert. Das ist der wirkliche Donner dieser schrecklichen Echsen (Dinosaurier). Alles Menschliche scheint auf der geologischen Zeitskala zur Bedeutungslosigkeit zusammenzuschrumpfen. Und in jenem Wahnsinn des Wilden Westens schimmert auf, was Wissenschaft sein kann und wofür die Mühe lohnt: das Gewand einer Wahrheit von kosmischer Größe berühren zu dürfen, mehr zu sein als nur eine brutale von Gier, Gewalt und Machtphantasien getriebene Fehlkonstruktion der Evolution. („Ihre Stirn legte sich in Falten. »Fossilien. Alte Knochen«, erklärte er. »Kann man davon gut leben?« »Nein, nein. Es ist nur für die Wissenschaft«, erklärte er.“[18]) Johnson erfährt an sich selbst, wie auf einmal so viel mehr auf dem Spiel steht – und darüber wächst er über sich hinaus: Er wird wirklich zum Studenten, zum Sucher, zu einem, der sich bemüht.
Das spannende Buch bietet außerdem zur Orientierung eine Karte, dazu auf den Seiten 309-318 kurze Biographien (… wie es mit Cope, Marsh, Earp und Sternberg weiterging), Anmerkungen des Autors, ein Nachwort (wie eine kleine Elegie auf M. Crichton) und eine Bibliografie. Charles H. Sternberg möge hier das Schlusswort haben: „How wonderful are the works of an Almighty hand! The life that now is, how small a fraction of the life that has been! Miles of strata, mountain high, are but the stony sepulchers of the life of the past.”[19]
Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine CulturMag-Texte hier.
Anmerkungen:
[1]Michael Crichton: Dragon Teeth. Wie alles begann. Roman, übers. v. K. Berr, Blessing Verlag, München 2018.
[2]Vgl. dazu M. Jaffe: The Gilded Dinosaur. The Fossil War Between E. D. Cope and O. C. Marsh and the Rise of American Science, New York 2000.
[3]So Crichton: Dragon (s. Anm. 1), 312.
[4]Beispielsweise DEADWOOD. Die komplette erste Season. © 2004 Home Box Office, Inc. Siehe dazu auch D. Lavery: Reading DEADWOOD, London – New York 2006.
[5]Crichton: Dragon (s. Anm. 1), 32. So gibt es einen Diplodocus carnegii– oder auch einen Chrichtonsaurus(siehe dazuD. B. Weishampel u.a.: The Dinosauria, 2. Aufl., University of California Press 2007, 366).
[6]Crichton: Dragon (s. Anm. 1), 205.
[7]D. Lessem: Dinosaurierforscher. Die abenteuerliche Suche nach einer untergegangenen Zeit, übers. v. G. Bosch, Basel – Boston – Berlin 1994, 24 f. Zur berühmt-berüchtigten Fehlrekonstruktion des Elasmosaurusdurch Cope (der kurzerhand Hals und Schwanz verwechselt hatte und so den Kopf falsch platzierte) siehe R. Ellis: Sea dragons: predators of the prehistoric oceans, University Press of Kansas, 2003, 5 f. Für die Beschäftigung mit den Quellentexten (in Auswahl) sei empfohlen D. B. Weishampel – N. M. White (Hrsg.): The Dinosaur Papers 1676-1906, Washington – London 2003 (Vor allem auch mit der für die Entdeckung der Dinosaurier so wichtigen europäischen Perspektive!).
[8]Vgl. dazu M. Foucault: Die Ordnung der Dinge, in: Ders.: Die Hauptwerke, mit e. Nachwort v. E. Honneth u. Martin Saar, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2016, 199-207 („Monstren und Fossile“).
[9]Crichton: Dragon (s. Anm. 1), 128.
[10]J. G. Fichte: Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre (1806), in: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, hg. v. F. Medicus, 5. Band, Darmstadt 2013, 103-307, hier 191.
[11]Fichte: Anweisung (s. Anm. 10), 191. Vgl. dazu auch K. Müller: Gott – größer als der Monotheismus? Kosmologie, Neurologie und Atheismus als Anamnesen einer verdrängten Denkform, in F. Meier-Hamidi – K. Müller (Hrsg.): Persönlich und alles zugleich. Theorien der All-Einheit und christliche Gottrede, Regensburg 2010, 9-46.
[12]Crichton: Dragon (s. Anm. 1), 158 f. Die langanhaltende Debatte, ob Brontosaurus eigentlich Apatosaurussei oder nicht, soll hier nur kurz erwähnt werden.
[13]Vgl. dazu auch das Nachwort, in: Mark Twain: The Diaries of Adam and Eve/Die Tagebücher von Adam und Eva, hg. u. übers. v. A. Nohl, 4. Aufl., München 2010, 115.
[14]Mark Twain: The Diaries of Adam and Eve/Die Tagebücher von Adam und Eva, hg. u. übers. v. A. Nohl, 4. Aufl., München 2010, 91.
[15]Mark Twain (s. Anm. 14), 93.
[17]Crichton: Dragon (s. Anm. 1), 166.
[18]Crichton: Dragon (s. Anm. 1), 63.
[19]C. H. Sternberg: The Life Of A Fossil Hunter (1909), Indiana University Press 1990, 277.