
Alle Taten sind alle schon begangen worden, und mehr als nur einmal…
„THE WORD“ aus „The Handmaid’s Tale” (Staffel 2) – ein Essay von Markus Pohlmeyer

Kurz zum Inhalt: „‘The Handmaid’s Tale‘ katapultiert den Zuschauer in eine dystopische Welt, in der eine Gruppe fundamentaler Christen die Herrschaft über die USA an sich gerissen hat. Gebärfähige Frauen werden versklavt, um der männlichen Elite und deren unfruchtbaren Gattinnen die Nachkommenschaft zu sichern. Zu ihnen gehört auch June (Elisabeth Moss). Als Magd Desfred soll sie dem Kommandanten Fred Waterford (Joseph Fiennes) und seiner Frau Serena Joy (Yvonne Strahovski) ein Kind schenken. Bildung, Eigentum und eine eigene Meinung sind für Frauen wie sie tabu – und werden drakonisch geahndet.“ [1]… und ihnen gehört auch nicht einmal mehr der eigene Name: sie sind nur noch ein wechselnder, possessiver Genitiv zum Vornamen ihres jeweiligen Kommandanten. Den eigenen, alten Namen auszusprechen, das wird zu einer Geste des Widerstandes gegen eine solche Damnatio Memoriae. In der deutschen Übersetzung von Margaret Atwoods Romanvorlage ist von der Autorin zu lesen: „Das Wichtigste, was man über die Gesellschaft, die in diesem Buch beschrieben wird, wissen sollte, ist, daß nichts neu ist – außer der Zeit und dem Schauplatz und ein paar Details. Die anderen Taten sind alle irgendwann begangen worden, und mehr als nur einmal.“[2]


Absolut beeindruckend die schauspielerische Leistungen: Waterford als düsterer Patriarch, ein Gespenst, das in seinem dunklen Büro Gott spielt. Serena, seine Frau, einst geistige Mitarchitektin von Gilead, dem neuen Gottesstaat: oft war ich mir unsicher, ob sie in der 2. Staffel die Hauptrolle übernimmt; Serena, die bei einem Anschlag die Fähigkeit verlor, Kinder zu bekommen, die sich nun mit allen Mitteln ein Kind wünscht und die dabei eine soziale Hölle für andere Frauen erschaffen hat. Erst Komplizin, wird sie zur Mittäterin, indem sie sogar ihren Mann ermutigt, die schwangere Desfred zu vergewaltigen, um die Geburt ihres Kindes zu beschleunigen – eine der unerträglichsten Kapitel in dieser Serie, kaum auszuhalten. June wird dafür ‚belohnt‘, indem sie ihre erste Tochter aus dem anderen Leben davor sehen darf. Serena beginnt aber, dafür zu kämpfen, dass in Gilead Jungen und Mädchen die gleiche Ausbildung erhalten sollen, stellt deshalb einen Antrag im Führungsrat und liest dort sogar aus dem Johannes-Evangelium vor. Erklärung: Nick, der Geliebte von June und eigentlicher Vater ihres Babys – da Fred vermutlich unfruchtbar ist (welche Ironie: die Männer schieben dafür die Schuld den Frauen zu) – wurde mit der minderjährigen Eden zwangsverheiratet. Diese sehnt sich nach Liebe, welche Nick ihr nicht geben kann, bis sie verliebt mit einem Wächter ‚durchbrennt‘ – zu ihren Eltern; der Vater liefert die beiden aus; sie wird zusammen mit dem Wächter in einem Schwimmbad ertränkt; zuvor zitiert der Scharfrichter aus dem Alten Testament (Exodus), während sie das paulinische Hohe Lied der Liebe dagegenhält; die staatliche Gewalt siegt.[3]

June findet später in Edens Nachlass eine Bibel mit handschriftlichen Kommentaren. Das Mädchen hat sich im Grunde als Exegetin versucht, was sogar Serena beeindruckt. Um das Wort Gottes zu verstehen, braucht es Lesefähigkeit, auch für Mädchen und Frauen. Nicht ohne Grund heißt diese Folge THE WORD: „Am Anfang war das Wort …“[4]Einer Frau, die beim Lesen ertappt wird, soll beim ersten Mal ein Finger abgeschlagen werden. Dies widerfährt auch Serena, denn sie hat ja aus der Bibel öffentlich vor-gelesen. Das ist die Peripetie in Serenas Seele: sie lässt zu – ein unendliches Opfer für sich selbst –, dass June mit ihrem Baby fliehen kann. Doch June gibt dem Baby den Namen, den Serena ausgesucht hatte, vertraut sie einer flüchtenden Freundin an und bleibt zurück – wegen ihrer anderen Tochter.
Die Bilder dieser Serie sagen oft etwas anderes als die Dialoge. Allein die Ästhetik der roten Roben und weißen Hauben der Mägde: zwischen Unterdrückung und Widerstand wogend, flatternd, schwebend, ein Schwarm – voller Individuen.


Sprache verkommt oft zu einer Oberfläche der Ideologie und für alternative Fakten: Desfreds erster Fluchtversuch kaschiert die offizielle Lesart als Entführung. Ritualisierte Floskeln – aus der Bibel, dadurch vermeintlich legitimiert – verdecken oft euphemistisch brutale Unterdrückungsstrukturen. Und es gibt diese ambivalente und ambige Sprache der Körperlichkeit. In Rückblenden werden immer wieder Antithesen aufgebaut zwischen den Verhältnis von Damals und Jetzt: In Gilead sind Dienstmägde einem fürchterlichen ‚Ritual‘ unterworfen. Mit Verweis auf Genesis 30,1-3 (Die kinderlose Rahel schickt Jakob zu einer Magd …) werden sie einmal im Monat von ihren Kommandanten (und auf dem Schoß von deren Frauen) zwecks Kinderzeugung vergewaltigt. In ihren alten Leben dagegen erfuhr June von ihrem Ehemann Liebe, Romantik und Erotik. Während sie damals in einem Krankenhaus die erste Tochter zur Welt brachte – ihr Mann und ihre lesbische Freundin waren dabei anwesend –, muss sie ihr zweites Kind allein in einem verlassenen Landhaus gebären – verzweifelt, so verzweifelt, denn die Möglichkeit zu einer weiteren Flucht war gescheitert. Kurz zuvor hatte sie dort auch ihre erste Tochter treffen können, musste langsam das entfremdete Kind wieder an sich erinnern und gewöhnen. An sich: an ihre Mutter und an das Selbst von Damals.

Auch Männer leiden in Gilead unter Gilead: Homosexuelle, anders Religiöse, Fluchthelfer werden verfolgt, hingerichtet, demonstrativ an Mauern aufgehängt. Nick (heimlich im Widerstand) kann und darf nicht zu seinen Gefühlen stehen, wird zwangsverheiratet. Selbst Kommandanten, die sich verfehlen, werden ausradiert oder verstümmelt. Paradoxerweise dienen klinisch reine, weiß funkelnde Krankenhäuser dieser archaischen Bestrafungspraxis. Niemand ist sicher. Frauen, die nicht in diesem System funktionieren, werden in die verseuchten Kolonien oder in Bordelle geschickt, in denen sie wiederum auf die Kommandanten treffen.
Ein Soundtrack, der verstört, der mitreißt: in einer der früheren Folgen z.B. erfährt Desfred, dass ihr Mann noch lebe; Ende. Die zuerst noch zaghaft vorsichtig leise Musik rauscht dann mit Wucht durch den Abspann: diese Hoffnung verdient ein crescendo.
Die Dramatik und Tragik des Ganzen wird immer wieder in kleinen Details eingefangen. Die (einst) hochintellektuelle Serena begleitet ihren Mann auf diplomatischer Mission nach Kanada. Dort wird sie über das Damenprogramm unterrichtet: ein Frau überreicht ihr eine Tafel mit Schaubildern – unausgesprochen: denn in Gilead könne, dürfe man, präziser: frau ja nicht lesen.[5]

Elisabeth Moss ist unfasslich gut: sie spielt June, die Frau von einst, in einer freien Gesellschaft; sie spielt die Magd Desfred, die sich anpasst, um zu überleben, die zusammenbricht, sich ergibt, Verführerin von Fred, Nicks Geliebte, die Mutter, die um ihre Töchter kämpft, die nie aufgibt. Sie ist beide: June und Desfred. Als Fred ihr vorschlägt, noch ein Kind zu zeugen, einen Sohn, zerbricht sie jegliche religiöse Floskeln (‚Gesegnet sei der Tag‘. ‚Möge der Herr uns öffnen!‘… und sonstiges Blablabla) mit „Geh und fick dich ins Knie, Fred!“[6].
Nachwort
Aus einem Artikel von M. Wagner: Die geklaute Braut. Die entführten Kinderbräute in Äthiopien, in: HERDER KORRESPONDENZ 8/2019, 27-29, hier 28:
„In vielen Fällen verstecken die Entführer die Mädchen und vergehen sich so lange an ihnen, bis sie schwanger werden. Als Vater des ungeborenen Kindes steigern sie die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen die Mädchen ‚überlassen‘ werden. Durch die Vermittlung der Dorfältesten gelingt es den Männern, einen deutlich geringeren Brautpreis in Form von Geld oder Nutztieren mit den zukünftigen Schwiergereltern auszuhandeln. […] Nicht selten bevorzugen die Eltern sogar diese Art der frühen Verheiratung der Tochter, da sie nicht für deren Schulgebühren aufkommen können.“
Markus Pohlmeyer
Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine vielfältigen Texte bei CulturMag hier.
[1]P. Schulze, in: Serien Magazin. Ausgabe 1, 2018, 61.

[2]M. Atwood, in: M. Atwood: Der Report der Magd. Roman, übers. v. H. Pfetsch, 4. Aufl., Berlin 2011, Vorsatzblatt. Siehe auch M. Hochgeschwender: Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Frankfurt am Main – Leipzig 2007. Siehe auch G. Seeßlen: Trump! Populismus als Politik, 3. Aufl., Berlin 2017, vor allem das Kapitel „Macho, Barbie und der Sugardaddy“ ab S. 37.
[3]Sie dazu die Episode POSTPARTUM.
[4]Aus dem Prolog des Johannes-Evangeliums. Die Bibel. Einheitsübersetzung, Stuttgart 1980, 1195.
[5]Siehe dazu die Abbildung in The Art and Making of The Handmaid’s Tale, text by A. Robinson, London 2019, 145.
[6]Alle direkten und indirekten Zitate aus: DVD The Handmaid’s Tale. Der Report der Magd. Season 2, © 2018 Twentieth Century Fox Film Coporation. Zeichensetzung von mir.