Geschrieben am 4. November 2015 von für Crimemag, Film/Fernsehen, Kolumnen und Themen

Max Annas: On Dangerous Ground (2)

Film, Verbrechen und ungleiche Mittel

Max Annas über „Deprisa, deprisa“ von Carlos Saura

Max Annas untersucht auf CrimeMag regelmäßig je einen Film auf seine Idee von und seine Haltung zu Crime, Abweichung, Ordnung und im Zweifelsfall ihre Wiederherstellung. Nach Pietro Germi mit „La città si difende“ von 1951 ( „Jagd ohne Gnade“ bzw. „Bis zum bitteren Ende“) nun „Deprisa, deprisa“ (Los, Tempo!) von Carlos Saura aus dem Jahr 1981.

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Simca, Seat, Renault, die Kamera verharrt schließlich auf einem weiteren Seat. Irgendwo in Spanien. Die Kamera sieht zwei junge Männer in dem Seat, beide haben fast schulterlanges Haar. Der eine beugt sich nach vorn, interessiert sich für Dinge, die unter der Mittelkonsole passieren. Der andere dreht sich nach hinten um, dann zum anderen hin. Sofort ist klar: Die beiden tun etwas, dass als illegal definiert ist und durch Strafverfolgung bedroht wird. Der Ausdruck dessen, der sich umdreht, sagt deutlich: Lass uns endlich von hier fortkommen.

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Das Bild dann innerhalb des Autos, wir werden bestätigt in dem, was wir längst vermuteten, der eine der beiden jungen Männer versucht, den Wagen kurzzuschließen. Bloß springt der Motor nicht an. Die Kamera zeigt uns, wohin der andere sich umblickt. Es ist der Eingang eines großen Wohnhauses. Von dort wird das Unheil kommen. Und es kommt in der Person eines bärtigen Mannes, der drei weiteren Personen die Eingangstür aufhält. Eine Frau, seine Gattin möglicherweise, ein Mädchen, deren gemeinsame Tochter vielleicht, eine weitere Frau, die die Nanny sein könnte. Der Mann und seine Gattin sind ins Gespräch vertieft, weil ja niemand damit rechnet, dass gerade in diesem Augenblick, ausgerechnet, einem das Auto vor der Nase weg gestohlen wird. Aber der Groschen fällt, der Mann reißt die Augen auf, formuliert sein Entsetzen. Die Gattin fragt ihn, ob er den Wagen auch tatsächlich abgesperrt habe, Antwort: natürlich, während die beiden im Auto schon wissen, dass sie entdeckt worden sind.

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Innerhalb der folgenden Minute ändern sich die Machtverhältnisse rund um das Auto zweimal. Der Bürger mobilisiert durch seine Aktion gewordene Empörung andere Bürger, die gemeinsam mit ihm das Auto umstellen und es schubsen, so als wollten sie das Material dafür bestrafen, dass es anderer Leute Interesse geweckt hat. Als einer der schubsenden Männer dann nach der Polizei ruft, zieht der Beifahrer zum Schrecken der Empörten eine Pistole. Deren Verhalten verändert sich sofort, aus Empörung wird Furcht. Zur gleichen Zeit hat der Fahrer endlich die richtigen Kontakte gegeneinander gehalten. Der Motor springt an. Der Beifahrer ruft: „Deprisa, deprisa.“ Schneller, schneller. Der Wagen schießt nach vorn. Mit quietschenden Reifen entkommen die beiden aus dem Wohnviertel auf die Autobahn. Die Szene dauert etwas weniger als drei Minuten.

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Der Moment, in dem Pablo, der Beifahrer, die Waffe zieht, erzählt uns viel über die Figuren im Auto. Eine Schlüsselszene. Er hantiert nicht rum mit dem Ding, sondern zeigt es erst, als sich die Situation zuspitzt. Denn er weiß, welche Wirkung so ein Schießeisen hat, auch wenn man lediglich zeigt, das man über eins verfügt. Pablo und Meca, der Fahrer, sind noch jung, Anfang zwanzig, aber sie haben schon eine Geschichte. Der Dialog im Auto macht deutlich, dass das nicht ihre erste gestohlene Karre ist. Und die souveräne Geste mit der Waffe erzählt davon, dass die beiden auch Erfahrung darin haben, in einer Konfliktsituation die Hierarchie zu etablieren, die eine Waffe, die töten kann, eben schafft. Ein anderer, Sebas, mit dem sie verbündet sind, sagt später, dass er mit zwölf Jahren angefangen hat, das Gesetz zu brechen. Wir rechnen zurück, „Deprisa, deprisa“ ist 1980 gedreht und 1981 uraufgeführt worden, das bringt uns also in die Endphase des spanischen Faschismus. Eine sehr lustige Episode am Rande: In dem Land, das gerade erst formal den Faschismus hinter sich gelassen hatte, empörten sie sich, weil Saura echte Delinquenten im Film einsetzte anstatt professioneller Schauspieler.

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Sauras Art zu erzählen ist extrem ökonomisch. Zuerst der Autoraub. Dann werden die Personen in wenigen Strichen vorgestellt. Da ist noch Ángela, die in einer Vorstadtbar arbeitet. Pablo und Ángela beginnen etwas miteinander, dann gehen sie zu dritt zu Schießübungen, die sie abbrechen, als die Bullen von Ferne zu sehen sind. Sebas kommt hinzu und behauptet das Unvermeidliche, dass eine Frau bei so was dabeizuhaben nur zu Komplikationen führt. Trotzdem einigen sie sich darauf, zu viert zu arbeiten. Zwanzig Minuten sind vergangen. Alles ist gesagt. Alles gezeigt. Jetzt kann die Geschichte richtig beginnen.

Was die Strategie angeht, sich Geld zu beschaffen, sind Pablo, Meca, Ángela und Sebas offen und opportunistisch. Saura zeigt die drei Überfälle als Holzschnitte. Während des ersten hält Ángela einen Wachmann mit ihrer Waffe unter Kontrolle. Den Überfall selbst, den die drei Männer begehen, sehen wir nicht. Dann der kleine Transporter, den sie mit ihrem Wagen von der Straße abdrängen. Mit den Geldkoffern entkommen. Wenn der eine Typ nicht geschossen hätte, dann hätte Ángela nicht darauf bestanden zurückzukehren. Sie hat ihn dann mit einem Schuss in den Rücken erledigt. Und dann die Bank. Wo alles schiefgeht.

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Es ist Jahre her, dass ich „Deprisa, deprisa“ zuletzt gesehen habe, bis letzte Woche. Aber diese Bilder haben mich verfolgt in den vergangenen Jahren. Soweit ich sie erinnerte. Ángela, die sich einen Schnurrbart anklebt und das Kinn tönt, damit sich die Leute an vier Männer erinnern. Die Wohnung irgendwo hinter den Bahnschienen, die ein Leben repräsentiert, das von Stadt und Zivilisation abgeschnitten ist. Die Präsenz der Bullen, die überall lauern und eine Ruppigkeit an den Tag legen, die an zeitgemäße demokratische Umgangsformen noch nicht angepasst ist. Und die in der Folge des Banküberfalls tatsächlich dabei sind, einen Stadtteil kurz und klein zu schießen, um vier Räuber(Innen!) zu fangen. Naja… ums Fangen ging es ihnen dabei nicht wirklich.

Der Film ist mir wieder eingefallen bei einer Recherche in Spanien anno 2006, wo die Zeichen des Zusammenbruchs alle schon zu erkennen waren und die internationale Wirtschaftspresse Wetten darauf abgeschlossen hatte, wann die Bau-Blase platzen würde. Sie haben sich dabei um ein Jahr oder zwei verschätzt und verwettet. Aber der Zusammenbruch ist ja gekommen. Und er ist mir wieder eingefallen, als ich in diese Ecke in Neukölln gezogen bin, unlängst erst, so nah zu Kreuzberg, dass die Vermarktungsheinis von Kreuzkölln reden. Spanisch scheint mir hier die Sprache Nummer eins zu sein im Kiez, wie sie sagen, weit vor Deutsch, Türkisch oder Arabisch. Im Kaffeehaus jedenfalls ist es nützlich, Englisch zu reden, weil mein Spanisch nicht besonders gut ist und das Deutsch der spanischen Servicekräfte ebenfalls nicht. Zahlen kann ich keine nennen, aber ein guter Teil der spanischen Generation zwischen 20 und 30 wohnt in meinem Viertel. Direkt bei mir um die Ecke. Schließlich hat die spanische Regierung letzte Woche bekannt gegeben, dass die Arbeitslosenzahlen im Land gesunken seien. Da gibt es einen Zusammenhang.

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Ich habe dann angefangen, nach diesen Bildern zu suchen im zeitgenössischen spanischen Kino. Bildern von Leuten, die den Raub umzukehren versuchen, der den Banken, der Bauindustrie und mit ihnen verbündeten Leuten der Francisten und der Sozialisten so unfassbar viel Geld eingebracht hat. Immer mit Ángela und Pablo und Meca und Sebas vor Augen. Aber ich habe diese Filme nicht gefunden. Santiago Gómez Rojas vom Spanischen Filmfest Berlin hat mir dann bestätigt, dass das ein nicht existierendes Sujet ist. Ich bin in eine politische Romantikfalle getappt. Stattdessen beschäftigen sich spanische Filme – Spielfilm wie Dokumentarfilm – mit dem Exil. Ángela und Pablo und Meca und Sebas habe ich im heutigen Film Spaniens nicht getroffen. Vielleicht war ich naiv.

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„Deprisa, deprisa“ ist ein Film des Übergangs. Das gilt für das Portrait der Gruppe junger Menschen in einer Phase politischer und sozialer Ungewissheit wie als Ausdruck der Suche seines Regisseurs nach einem Stil und einer Aufgabe. Das zweite zuerst. Carlos Saura hatte 1981 schon ein Vierteljahrhundert als Filmemacher hinter sich und dreizehn Spielfilme im Gepäck. In den 1970ern war er berühmt geworden mit komischen Tragödien aus dem spanischen Großbürgertum, in denen er die Akteure als Clowns und Narren darstellte. Brandgefährliche, bewaffnete Clowns und Narren mit sehr viel Macht. Der Kollege Alf Mayer erinnert sich an eine Pressekonferenz bei der Berlinale 1978 anlässlich der Aufführung von „Elisa, mia vida“. Befragt zur Zensur sagte er in etwa, dass sie den Stil schule. „Deprisa, deprisa“, der 1981 den Goldenen Bären in Berlin gewann, ist frei von feinsinnigen Stilübungen. Und lebt davon. Ein raues Stück, das die Abweichung nicht verklärt, sondern als logische Konsequenz einer nicht überwundenen Politik darstellt.

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In der Transition befinden sich auch Ángela und Pablo und Meca und Sebas. Fünf Jahre nach dem Tod Francos bietet die spanische Gesellschaft wenig an, um Armut und Fantasielosigkeit zu entkommen. Eine Szene, vielleicht eine zweite Schlüsselszene: Die vier und Sebas Freundin Maria auf dem Cerro de los Ángeles, dem Hügel der Engel in Getafe, einem südlichen Stadtteil von Madrid. Was sie wissen: Der Hügel wird als geographisches Zentrum Spaniens bezeichnet. Was sie nicht wissen: Warum sind die Heiligengesichter alle zerschossen? Sie sind auf der einen Seite in der Lage, sich vorzustellen, zwei alte Frauen zu fragen, die das Denkmal voller Ehrfurcht betrachten (und wissend um seine Geschichte auch voller Abscheu!). Aber sie besitzen nicht genug Konzentration, sich die Antwort der Frauen auch anzuhören. Im Bürgerkrieg exekutierten republikanische Garden das Denkmal symbolisch als Ausdruck der öffentlichen Präsenz des Katholizismus. Ein schwerer politischer Fehler. Die Faschisten hielten sich zur selben zeit nicht mit Symbolpolitik dieser Art auf. Ángela und Pablo und Meca und Sebas (und Maria) ist es gleich. Sie lachen über die zerschossenen Gesichter in unschuldiger Ignoranz.

deprisa_deprisa_1Kein Film über Gangster

Diese Ignoranz der Figuren bestimmt das Genre in einem negativen Sinn. „Deprisa, deprisa!“ ist kein Gangsterfilm, nicht einmal ein Film über Gangster. Bestenfalls einer über Leute, die sich zusammenschließen, um eine Umverteilung zu ihren Gunsten vorzunehmen. Gangster fragen sich nicht gegenseitig, was sie mit der erbeuteten Kohle anstellen wollen. Oder wenn… Dann haben sie vernünftige Antworten auf diese Frage. Den vier Umverteilern aus Sauras Film kommen nur profane Dinge in den Sinn. Was sie mit ihrem Anteil machen wolle, fragt Pablo Ángela abends im Bett. Eine Wohnung kaufen, sagt sie. Das sei aber teuer, so er dann. Ja, erwidert sie, aber man kann ja auch Ratenzahlung machen. Hier wird das Dilemma deutlich. Gangster zahlen keine Raten. In diesem Satz kommt das Scheitern klar zutage. Das Scheitern der Figuren, aber auch das der Generation, über die Saura spricht. Wer so normal sein will wie alle anderen, kann nicht vom rechten Weg abweichen. Wer es aber tut, kommt dabei um.

Ángela kommt als einzige nicht um. Dass sie im letzten Bild des Films mit dem größten Teil der Beute des schiefgegangenen Bankraubes im ersten Licht des Tages davon gehen kann, schließt Saura kurz mit einer der vielen Subgeschichten, die „Deprisa, deprisa“ so stark machen. Pablo liegt verblutend auf dem Bett, ein Arzt kommt, ein älterer Mann, der die Situation sofort erfasst und wieder verschwinden möchte. Ángela bedroht ihn zunächst mit der Waffe, dann besticht sie ihn mit einer Million Peseten. Er sagt zu, mit den Instrumenten wiederzukommen, die nötig sind, um eine Kugel aus Pablos Bauch zu entfernen. Dann verlässt er die Wohnung, und Ángela und wir warten darauf, dass ein Polizeikommando auftaucht. Aber es kommt nicht. Der alte Mann hat nur das Geld genommen und ist einfach damit verschwunden. Er hat nicht einmal die Bullen gerufen. Auf alte Faschisten kann man sich halt nicht verlassen.

Max Annas

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Deprisa, deprisa (deutscher Titel: Los, Tempo!); Regie und Drehbuch: Carlos Saura; Spanien, Frankreich 1981; Kamera: Teo Escamilia; Musik: Los Chunguitos, Marismenos, La Marelu, Lole y Manuel, Emilio de Diego; DarstellerInnen: Berta Socuéllamos Zarco, Jose Antonio Valdelomar González, Jesús Arias Aranzeque, Jose María Hervás Roldán. Länge: 107 Minuten.

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Zum „Dangerous Ground“ (1) von Max Annas, seinem Ausflug zu Pietro Germi und „La città si difende“ von 1951 ( „Jagd ohne Gnade“ bzw. „Bis zum bitteren Ende“), geht es hier.

 

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