Geschrieben am 1. Dezember 2020 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2020

Mayer & Pohlmeyer zu „Masterpieces of Fantasy Art“

Weder an Regeln noch Schwerkraft gebunden

Oder: Wenn der Orbitalfrontalkortex entscheidet – Von Alf Mayer und Markus Pohlmeyer

Zwei Blickwinkel, zwei Herangehensweisen. Das Buch „Meisterwerke der Fantasykunst“ ist so gewichtig, dass es locker zwei Rezensenten verträgt. Alf Mayer und Markus Pohlmeyer haben sich mit dem monumentalen Band beschäftigt.

Dian Hanson: Masterpieces of Fantasy Art. Mit den Werken von Julie Bell, Philippe Druillet, Frank Frazetta, H.R. Giger, die Brüder Hildebrandt, Jeffrey Catherine Jones, Rodney Matthews, Mœbius, Rowena Morrill, Sanjulian, Boris Vallejo, Michael Whelan u.a. sowie 99 Kurzbiografien. Deutsch, Englisch, Französisch. Verlag Benedikt Taschen, Köln 2020. Nummerierte Erstauflage von 7.500 Exemplaren, Hardcover, Leinen. Format, 29 x 39,5 cm, 6,78 kg, 532 Seiten, 150 Euro. Verlagsinformationen.

Eine Druckqualität wie für die Bilder von Rembrandt und die ebengleiche Aufmerksamkeit für Ausstattung, Gestaltung, Bindung, schweres Papier, alles im Riesenformat und made & printed in Italien, das sind Taschens „Masterpieces of Fantasy Art“. Die Gewichtangaben differieren, meine Waage zeigt 6,9 Kilo für das Buch ohne Kassette an. Ein Mammutwerk, kein Vergleich mit dem Vorläufer von Eckart Sackmann aus dem Jahre 1986 bzw. 1991, die Broschüre damals kam auf 90 Seiten. Jetzt sind es 523 xl-formatige Seiten und Herausgeberin Dian Hanson hat ganze Arbeit geleistet. 

Der große Boris Vallejo steuert ein Grußwort bei, die dreisprachige und mehrteilige Einführung alleine schon bietet Platz für reichlich Illustration. Dann folgen zwölf Künstlerporträts mit jeweils rund 30 Seiten und je einem eingeklebten Vorsatzblatt. 

Zum illustren Dutzend gehören:
Julie Bell, die Visionärin
Philippe Druillet
Frank Frazetta, der Gott
H.R. Giger (siehe weiter unten den Text von Markus Pohlmeyer)
Tim und Greg Hildebrandt
Jeffrey Catherine Jones
Rodney Matthews, ein Rockstar unter den Illustratoren
Mœbius, der psychedelische Surrealist
Rowena Morill
Sanjulian
Boris Vallejo, Meister der Muskulatur
Michael Whelan

So groß und so exquisit reproduziert hat man viele ihrer Werke noch nicht gesehen: Originalgemälde, Entwurfsskizzen, Skulpturen, Kalenderblätter, Zeitschriften, Buchcover. Von Mœbius (Jean Henri Gaston Giraud, 1938 – 2012) gibt es einen Sketch mit Benedikt Taschen als Zauberer. Frank Fazetti, der sich einst mit einem Doppel-Zett schrieb, hat auch das Plakat des Clint Eastwood-Films „The Gauntlet“ gezeichnet. Rowena Morrills „King Dragon“, die Coverillustration für Andrew Offuts Roman, wurde in Saddam Husseins Haus in Bagdad gefunden, nicht das Original, wie erst vermutet, aber eine Kopie davon (als eingeklebtes Beiblatt auf Seite 367). Und es gibt natürlich auch die Abteilung „schrill bis silly“, etwa den „Whale in Waistcoat“ der Brüder Hildebrandt (Seite 271). 

In ihrem Vorwort „Fantasy: Damals, heute und immer“ geht Dian Hanson ausführlich auf die Ursprünge der Fantasykunst ein, schlägt den Bogen zu Hieronymus Bosch (um 1450-1516), , Maxfield Parish (1870-1966), zu Jugendstil und dem Arts-and-Crafts-Movement, zu den frühen Science-Fiction-Geschichten und den phantastischen Romanen von Jules Verne oder Edgar Rice Burroughs, der nicht mit Tarzan das literarische Fantasy-Genre beflügelte. Die Erstausgabe von „The Hobbit“ illustriert J.R.R. Tolkien 1937 noch selbst, die Verfilmungen von Peter Jackson vitalisierten 70 Jahre später das bereits totgesagte Genre noch einmal entscheidend. Erfrischend respektlos stellt das Buch „hohe“ Literatur neben die triviale, bezieht auch Comics und Pulp-Magazine ausdrücklich mit ein, macht den Beginn der Fantasy Art mit der Gründung von „Weird Tales“ im Jahr 1923 fest, dem damals ersten Fantasy Fiction Magazin. „Weird Science“, „Thrilling Wonder Stories“, „Creepy“, „Vampirella“ und viele andere Publikationen folgten. Dazu Buchcover für Fantasy- und/ oder Sciene Fiction-Romane von Philip K. Dick, Robert Heinlein, Philip José Farmer, Michael Moorcovk, Theodore Sturgeon, Ray Bradbury, Anne McCaffrey, H.P. Lovecraft, Robert E. Howard und einer ganzen Legion weiterer Autorinnen und Autoren. Andrew Nette übrigens und sein Compagnion Iain McIntyre arbeiten übrigens an einem Projekt mit dem Titel „Dangerous Visions and New Worlds: Radical Science Fiction, 1950- 1980“, da darf man nächstes Jahr auch auf eine Fülle phantastischer Ausgrabungen gefasst sein.

Ihre Argumentation beginnt Dian Hanson mit einem Experiment der Abteilung für Neuroästhetik am University College London, wo 2011 etliche Probanden Bilder klassischer Maler gezeigt bekamen – während ihre Gehirntätigkeit im mittleren Orbitalfrontalkortex per Magnetresonanz-Tomographie (vulgo: MRT-Scan) gemessen wurde, in jenem Teil des Gehirns, der Genuss und Verlangen zugeordnet ist. Zwei der Maler, deren Werke die deutlichsten Reaktionen hervorriefen, waren Guido Reni (1575-1642) und Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780-1867), deren Werk, so Hanson, „sich durch satte Farben und heroische Darstellungen muskulöser Männer, üppiger nackter Frauen und mythischer Geschöpfe auszeichnet. Kurz – Fantasykunst.“

Drachen, betont sie, gehörten immer schon zu christlichen Ikonografie, sie sind sozusagen das offizielle Maskottchen der Fantasykunst, und es gibt sie in allen Formen und Gestalten, von lieb bis ultraböse, hässlich bis zauberschön. Gefügelte Pferde, Kentauren, Adler, Harpyen, Feen, Monster, Quallen, Schönlinge und Hässlinge, Wesen aus anderen Welten, aus der Tiefe oder dem Unbewussten, fotorealistisch, stilisiert, idealisiert – Fantasy Art ist wild gewordene Imagination, an keine Regeln und Schwerkraft gebunden. Oft transgressiv. Subversiv. Ehemals fast unter dem Ladentisch gehandelte Bilder sind heute hoch gehandelte Sammlerobjekte. Digitale Malsoftware und Webseiten wie Elfwood, DeviantArt, Epilogue oder QuantumMuse ermächtigen heutzutage zum Selbstproduzieren.

Abgerundet wird der nicht nur buchstäblich schwergewichtige Band von 99 Kurzporträts: üppig bebilderte, informative Seiten, die anderswo ein eigenes Buch ergeben würden. Nur ein Name daraus stellvertretend genannt: der kanadische Fantasy Art-Künstler Ted Nasmith, der Peter Jackson viele visuelle Vorlagen die „Herr der Ringe“-Trilogie lieferte, etwa die Königssäulen am Anduin, dem größten Fluss von Mittelerde. Oder Norman Saunders, der mit 867 Pulp-Covern in 32 Jahren so etwas wie einen Abbildungsrekord hält, Margaret Brundage, die 1933 Bat-Woman auf ein Cover brachte. Chris Achilleos Album-Cover „Whitesnake Lovehunter“ löst einst einen Skandal aus

Der gute alte mediale Orbitalfrontalkortex also, in diesem Buch der Bücher bekommt er reichlich Futter. Oder wie die Künstlerin Rowena Morrill es sagt: „Ich finde, die Dynamik von männlich/ weiblich in der Fantasyart ist großartig. So etwas sehen die Leute gerne.“ Boris Vallejo, der Meister der „muscle art“ ergänzt: „Wir alle fühlen uns von Körpern angezogen, sonst würden wir nicht existieren!“

Argument gemacht. Gönnen Sie also Ihrem Orbitalfrontalkortex einen anregenden Spaziergang …

Alf Mayer

Markus Pohlmeyer: Genau die Phantasie, die wir brauchen

Ein beeindruckend bebilderter Band, wichtig und wuchtig, eine detailreiche Dokumentation und zugleich fulminante Feier der Fantasy Art. Mit Begleittexten (auf Englisch, Französisch und Deutsch) zu verschiedenen Künstlern und Künstlerinnen und mit einer Einführung in die historische Entwicklung dieser Gattung. Wie fließend jedoch bisweilen die Grenzen zwischen Science Fiction und Fantasy sind, das zeigen die abgedruckten Cover von Comics und Romanen oder Filmplakate. Das zeigt auch das unheimliche Werk von HR Giger, dieses Ineinandergleitenfließen, Ineinandergefügtsein von Organischem und Maschinellem, wo nicht zu entscheiden wäre, was jeweils Vorbild, Vorlage des anderen war.[1] Zu finden auch Zeichnungen von Giger für den legendärsten Dune-Film, der nie gedreht wurde. Und erstaunlich: Drachen eignen sich einfach für jeden Hinter- und Vordergrund, ob mit Burgen, Ruinen, finsteren Landschaften, Höhlen, Wolken, kraftstrotzenden Helden und geheimnisvollen Schönheiten, die entweder diese Ungeheuer mit geheimnisvollen Kräften beherrschen (Die Drachenkönigin in Game of Thrones ist ein gutes Beispiel für solche Allianzen.) oder vor ihnen gerettet werden müssen. 

Dieses Buch war auch für mich die Gelegenheit, zum ersten Mal[2] Conan, der Barbar zu sehen; ich schließe mich folgendem Kommentar voll und ganz an: „[… A]us der Distanz wirkt allerdings gerade der Protagonist unfreiwillig komisch. Immer wieder wird betont, dass sich Conans Charakter[3] ganz auf seine Veräußerlichung reduziert.“[4] Aber derartige Reduktion prägt keineswegs das Gesamtbild dieses Genres: „Die Fantasy präsentiert eine bis ins Detail vorgeprägte und vor-imaginierte Welt, während das Märchen gerade von seiner Zeit- und Ortlosigkeit lebt.“[5] Welche Räume, Konstellationen und Möglichkeiten Fantasy Art dabei ästhetisch entdecken und erschließen kann, beweist eindrucksvoll dieser Band. Zu beachten: Natur ist hier eine Hauptdarstellerin mit eigener Würde, sei es in ihrer gefährlichen Erhabenheit, in ihrer faszinierenden Schönheit oder in ihrem fragilen Bedrohtsein. 

Und nein, überhaupt nicht langweilig, auch wenn immer wieder das gleiche Figureninventar stereoptyp wiederholt wird: Zu den geheimnisvollen Schönheiten, wilden Muskelmännern und (un)sympathischen Drachen gesellen sich auch phantastische Tiere, andere Unholde, Monster, Zwerge, hier und da Roboter – in imaginierten Landschaften, die manchmal wie echt wirken. Das Bild „Galactic Love“[6] von Julie Bell und Boris Vallejo bring alles zusammen: eine wüste Welt, ein riesiges Raumschiff (weitere im Hintergrund wie auch eine unheimliche Stadt), drohende Drachenwesen, rabiate Roboter(heere), maskuliner Muskelmann und schutzsuchende Schöne mit farbigen Flügeln. Sich selbst dafür eine passende Geschichte auszudenken: die kann nur episch sein!

Für mich war in diesem Buch jedoch das überraschendste Bild (von M. Whelan, 2016), bei dem all das eben Aufgezählte fehlt, ein Bild, das jedoch im Grunde den Ausgangspunkt aller Fantasy beschreibt: Nacht. In einer schwebenden Kugel, voller Sterne auf der Oberfläche, von Innen durch eine Glühbirne beleuchtet, sitzt ein Mädchen auf einer Decke und liest. Um die Kugel herum eine Industrieruine (?), die sich skeletthaft in einen dunklen Himmel öffnet, wo hauchdünn die Mondsichel scheint. Der Begleittext erklärt: „In a World of Her Own, a personal work inspired by a quote from Stanley Kubrick: ‘However vast the darkness, we must supply our own light.’”[7]  

Nach Andreas Friedrich sei „[…] das Fantastische als Erzählform nicht der Komplementärentwurf zum Realen, sondern zum Realistischen […].“[8] Darum ist folgende Doppeldimension nicht unwichtig: „Märchen und Fantasy haben nicht nur strukturkonservativen, sondern auch […] strukturbrechenden Charakter.“[9] Und somit wäre auch das kritisches Potential von Fantasy hervorzuheben: „Es mag pathetisch klingen, aber: Haben uns denn Rationalismus und Wissenschaftsgläubigkeit nicht an den Rand der nuklearen und ökologischen Vernichtung gebracht und – vielleicht noch viel schlimmer – an die Schwelle zur beliebigen Reproduzierbarkeit gebracht? Ist die Fantasie nicht diejenige Gabe, die den Menschen als solchen definiert und unverwechselbar macht?“[10] Wie richtig diese rhetorische Frage anthropologisch auch sein mag, so sind doch viele Fantasy-Bilder, -Romane und -Filme von Krieg, Gewalt und Kampf geprägt, auch das – leider – eine menschliche Konstante. Aber: Wir brauchen Phantasie, um den Absolutheitsanspruch des rein Faktischen zu brechen. Und wie nötig wiederum Wissenschaft sein kann, das zeigt dramatisch die Corona-Krise. Und: Ich bin froh, dass es Eisenbahnen gibt, denn die Drachen-Linien sind, nun ja, etwas unrealistisch. 

Und wenn in Corona-Zeiten das Reisen immer schwerer und unmöglicher wird, so hilft dieser Band – mit seinen fast 7 kg und randvoll mit unglaublich individueller Phantasie – träumend sich auf den Weg zu machen. Dian Hanson bringt es auf den Punkt, wenn sie darlegt, „[…] dass ein Flug mit einer Rakete und ein Ritt auf einem Drachen zwei völlig verschiedene Dinge sind.“[11] Und plötzlich wirkt ein Aus-Flug mit der Drachen-Linie doch nicht mehr ganz so unrealistisch. (Augenzwinkern …) 

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Texte – inzwischen mehr als hundert – bei uns hier.


[1] Siehe dazu auch HR Giger: Giger, Köln 2018 (TASCHEN).

[2]… und zum letzten Mal – Ja, ich weiß: sag niemals nie …

[3] Gespielt von Arnold Schwarzenegger.

[4] M. Stiglegger, in: Filmgenres. Fantasy- und Märchenfilm, hg. v. A. Friedrich, Stuttgart 2003, 132.

[5] A. Friedrich, in: Fantasy- und Märchenfilm (s. Anm. 4), 10.

[6] D. Hanson: Masterpieces of Fantasy Art, Köln 2020, 116 f.

 [7] Hanson: Masterpieces (s. Anm. 6), 460. Bild auf S. 461.

[8] A. Friedrich, in: Fantasy- und Märchenfilm (s. Anm. 4), 9.

[9] A. Friedrich, in: Fantasy- und Märchenfilm (s. Anm. 4), 12.

[10] A. Friedrich, in: Fantasy- und Märchenfilm (s. Anm. 4), 13

[11] Hanson: Masterpieces (s. Anm. 6), 91.