Teil 2: Kastura fragt zurück
Letzte Woche hatte Ulrich Noller das neue Buch von Thomas Kastura, Das dunkle Erbe, unter Beschuss genommen. Heute sind die Rollen anders verteilt, das Gespräch geht weiter. Aufgezeichnet von Ulrich Noller.
Kastura: Apropos „Kriterien zur Bewertung von Krimis“. Da möchte ich mal ein paar Bälle zurückspielen und dem Kritiker meinerseits Fragen stellen. Was macht denn einen guten Krimi aus? Einen Krimi der Gegenwartsliteratur wohlgemerkt, denn bei manchen Kritikern habe ich den Eindruck, dass sie ihre geliebten Klassiker zum Maß aller Dinge nehmen (z.B. Simenons Maigret – als ob man heute noch so schreiben könnte). Hast Du auch einen Säulenheiligen? Nun ist es ja so, dass die Ausdifferenzierung des Krimigenres grundsätzlich begrüßt wird. Andererseits scheint das Genre aber so unübersichtlich geworden zu sein, dass immer wieder die Klassiker herangezogen werden, um abweichende Formate als zu wenig krimihaft abzuqualifizieren. Mit anderen Worten: Wie viel Krimi soll ein Krimi enthalten?
Noller: Ach ja, die Klassiker, mit denen habe ich ein Problem: dass ich kaum mehr dazu komme, sie zu lesen, weil ich derartig mit tagesaktuellem Krimikunsthandwerk zugeschüttet werde, dass ich allein schon beim Gedanken daran Atemnot bekomme. Dabei würde ich so gerne! Jedenfalls: Wenn Kritiker Klassiker bemühen, dann ist das meines Eindrucks nach häufig ein Ausdruck von Einfalls- und Ahnungslosigkeit, nach dem Motto „Spannend wie Chandler, lebensnah wie Simenon …“ Gute Kritiker vermeiden so was, und gute Kritiker gibt es durchaus in Deutschland; auch wenn sie in den Medien kaum Raum für gute Kritiken finden. – Klar, natürlich habe ich meine Säulenheiligen, all diejenigen Autorinnen und Autoren, die mich beim Lesen besonders berührt haben, weil sie einen perfekt konstruierten, toll geplotteten, klasse erzählten zeitgemäßen Kriminalroman produziert haben. Wer meine Texte kennt, weiß, dass ich an dieser Stelle immer die Franzosen roundabout Pouy und Pennac nenne, aber auch ein (nicht mehr ganz) junger Bamberger Autor namens Thomas Kastura ist dabei, mit seinem Debütroman, auch wenn der sich seinerzeit schlecht abverkaufte.
Was einen guten Kriminalroman ausmacht? Wie viel Krimi ein Krimi enthalten sollte? Tja, ich habe nichts gegen die Ausdifferenzierung des Genres; im Gegenteil bin ich sogar der Meinung, dass Krimi gar nichts anderes sein kann, als ein sich dynamisch immer weiter ausdifferenzierendes Medium, schließlich ist es schlechterdings nicht möglich, exakt zu definieren, was ein (guter) Kriminalroman überhaupt ist, was heißt, das Entwicklung immer Ausdifferenzierung sein muss. Deshalb: Ein guter Krimi? Das ist einer, der Dich berührt, weil er ein guter Krimi ist. Das ist vermutlich letztlich eine bloß subjektive Einschätzung, die, immerhin, subjektiv ist – auch wenn die einzelnen Parameter dieses Urteils zumindest teilweise objektivierbar sein könnten. Führt aber jetzt zu weit …
Kastura: Dann: die Spannung, im weiteren Sinne auch die Dynamik eines Krimis. Spannung ist ja ohnehin ein sehr subjektives Kriterium, während andere objektivierbarer sind. Gilt: Spannung = Action? Und meint Action dann häufige Ortswechsel, viel Physis (z.B. Schlägereien, Verfolgungsjagden, Anschlussmorde), ausgefallene Tötungsarten, Mörder mit allerlei exotischen Störungen? Ich finde den Trend zur Monstrosität, den man inzwischen bei vielen amerikanischen, britischen und skandinavischen Krimis beobachten kann, bedenklich, genauer: voyeuristisch, blutrünstig. Das ist mir – obwohl teilweise glänzend geplottet – zu trivial. Außerdem besteht die Gefahr, dass das Genre dann verstärkt um sich selbst kreist, dass einfach die Reizschwelle höher gelegt wird nach dem Motto: „Viel hilft viel“. Immer mehr Expertentum und Fachwissen fließt in Krimis ein, inzwischen sind wir alle kleine Rechtsmediziner, auch das führt nirgendwohin. Dabei entwickelt sich die Kriminalliteratur erzählerisch nicht weiter, die Geschichten und Biografien der Figuren treten in den Hintergrund. Dem will ich entgegenwirken. Wie siehst du diese Entwicklung?
Aktion! Spannung! Innovation!
Noller: Nichts gegen Aktion (oder: „Action“), aber die hat natürlich, wie Du sagst, mit der Spannung nichts zu tun, lediglich mit dem Thrill. Spannung entsteht andernorts, mal durch die Dynamik der Konstruktion, mal durch die Charaktere, mal durch die Korrespondenz der Handlung mit der Wirklichkeit, mal durch die Poetik, mal durch einzelne Aspekte oder am besten alles zusammen. Aber ist die Form des Whodunit (auch wenn sie Whydunit wird) wirklich die richtige Methode, um dem Krimigenre erzählerische Entwicklungsimpulse zu verschaffen? Ich habe da meinen Zweifel. Und ich glaube – in Anlehnung an Thomas Wörtche (cf. Interview im Krimijahrbuch 2008) – dass der letzte erzählerische Innovationsschub im Krimigenre vor ca. 20 Jahren erfolgte, mit Pennac, mit Charyn, mit Biermann, mit anderen. Seitdem: Ausdifferenzierung, Redundanz, Imitation, aber nix Neues. Die meisten Deiner Kollegen geben sich damit nicht nur zufrieden, sie haben damit genau das, was sie wollen. Du dagegen suchst, das ist gut. Und mutig. Ich wüsste nämlich nicht, wo anfangen. Aber suche gerne mit. Und ich warte.
Kastura: Um das Erzählerische zu konkretisieren: Die Sprache eines Krimis muss meines Erachtens schon ein gewisses Niveau haben, um z.B. auch international wahrgenommen zu werden. Mir selbst gelingt das nicht immer, im Gegenteil, manchmal vergreife ich mich bei den Metaphern oder die Sprache bleibt banal. Aber hin und wieder ist dann doch eine Perle dabei (siehe das Zitat mit den „Kavernen“, das liest man ja nicht alle Tage). Bei dir habe ich den Eindruck, dass poetische Sprachbilder nicht unbedingt dein Fall sind. Warum eigentlich?
Noller: Da ist sie wieder, die Sache mit der U- und der E-Literatur. Also EINSPRUCH, und zwar dicke: Ein Niveau, finde ich, hat eine Sprache dann, wenn sie (ästhetisch) funktioniert. Dazu braucht sie nicht unbedingt eine hochliterarische Fallhöhe zu haben. Im Gegenteil: Häufig hat der heftigste Trash ein (sprachliches) Niveau, das einen mehr staunen macht als so manches, was „Niveau“ sein will. Und zwar nicht von ungefähr, schließlich sind das die Wurzeln des Genres. Sollte man nicht vergessen: Nur auf dieser Basis funktioniert Krimi dynamisch und authentisch, und dann, aber auch nur dann, meinethalben auch mit dem Anspruch, Literatur-Literatur sein zu wollen, als eine von vielen möglichen Ausdifferenzierungen. Und vielleicht ist das ja tatsächlich irgendwann die spezifisch deutsche Beitrag zur Global Crime Fiction, darüber müsste man vielleicht mal gesondert diskutieren. Jedenfalls: Poesie? Ja bitte, her damit, unbedingt! Wenn’s funktioniert, immer gerne …
Noch einmal die Sache mit dem Reibekuchen
Kastura: Noch mal zu den Köln-Bezügen bzw. im weiteren Sinn zu Ortsbezügen im Krimi. Köln-Folklore ist dir ein Dorn im Auge. Aber du reitest auch gern auf regionalen Ungenauigkeiten herum, etwa, dass im Dunklen Erbe das Polizeipräsidium nicht in Köln-Kalk, sondern in Köln-Deutz liegt (in einem Artikel in der „Stadtrevue“). Für alle Nicht-Kölner: Der Stadtteil Deutz grenzt unmittelbar an den Stadtteil Kalk, vom Kölner Polizeipräsidium in Köln-Kalk blickt man auf Deutz, eine einzige Straße liegt dazwischen. Natürlich ist das ein Flüchtigkeitsfehler meinerseits gewesen, in der nächsten Auflage des Buches wird das Wörtchen korrigiert (im Vierten Mörder hieß es noch korrekt Köln-Kalk). Aber: Muss man das so hoch hängen? Und hört man da nicht den Ortskundigen triumphieren, der endlich ein Haar in der Suppe gefunden hat, also den Regio-Fan, der seine Heimat millimetergenau abgebildet sehen will? Nicht falsch verstehen: Präzision im Ortsdetail ist wichtig, wenn man sich (auch) auf dem Regio-Krimimarkt bewegt. Aber ist das nicht sekundär – schließlich haben wir es mit Fiktionen zu tun?
Noller: Ach Thomas, das falsch gesetzte Polizeipräsidium wollte ich aus diesem Text eigentlich raushalten, wollte es nicht so hoch hängen … aber jetzt … Also: In Deinen beiden Kölner Büchern gibt es ein Dutzend Stellen, an denen man Dir Deine Köln-Unkenntnis süffisant vorhalten könnte. Mache ich nicht, ist mir zu blöd, schließlich geht es mir eben nicht um stadtplanhafte Authentizität. Ist mir letztlich wurscht. Im Gegenteil, ich finde es sogar völlig legitim, eine Stadt als Folie zu verwenden, auch wenn man sie nicht wie seine Westentasche kennt. Aber, sorry, genau das tust Du nicht. Durch Deine (oben beschriebene) Köln-Tümelei suggerierst Du eine Vertrautheit und Intimität, die nicht da ist, die nicht funktioniert – und die in dem versehentlich falsch gesetzten Polizeipräsidium auf den Punkt gebracht wird. Mich würde das nicht stören, gäbe es nicht diese ganzen „Kartoffelpuffer“, „Veedel“ etcpp. Und die, siehe oben, haben in einem guten Kriminalroman, speziell in einem mit (internationalem) Anspruch nichts zu suchen. – Abgesehen davon: ist die Sache mit dem Polizeipräsidium, unter uns gesagt, so ein Big Point, der für einen Kritiker, der in einem lokalen Medium rezensiert, einfach zu verlockend ist. Musste ich mitnehmen, bezahle jetzt dafür aber einen hohen Preis: Den, dass ich mich seitdem über mich selbst ärgere, auf den billigen Effekt gesetzt zu haben …
Zum Schluss: Wahrhaftigkeit
Kastura: Fiktionen, das wirft die Frage nach der Authentizität eines Krimis auf, nach seiner Wahrhaftigkeit. Das dunkle Erbe sei meine wahrste Geschichte, habe ich dir einige Monate vor Erscheinen des Buches in einem kurzen Gespräch angekündigt. Schon damals hattest du Zweifel, ob zu viel Selbsterlebtes in einen Krimi Eingang finden sollte – ohne Das dunkle Erbe zu kennen. Nun habe ich in dem Roman den Krebstod meines besten Freundes verarbeitet, die Themen „Freundschaft“ und „Rückschau halten“ habe ich zugleich in die Krimihandlung hineingespiegelt. Ich bin der Ansicht, ein guter Autor muss in seinen Büchern etwas Persönliches von sich preisgeben, mal mehr, mal weniger. Wenn man das bewusst vermeidet, bleiben die Geschichten hölzern, papieren, und das merkt auch der Leser, wenn wie im Versuchslabor Plots durchexperimentiert werden. Tja, und Selbsterlebtes ist meistens eher krimifern, da die meisten Krimiautoren und die meisten Krimileser mit Gefahrenabwehr und Strafverfolgung kaum in Berührung kommen. Dennoch kann es einen Platz im Krimi haben, vor allem, wenn es mit der eigentlichen Krimihandlung verwoben ist. Es fügt dem Kriminalroman eine Ebene hinzu, bereichert ihn. Spielt das in deiner Auffassung vom Krimi eine Rolle? Ist die Ermittlungsarbeit wirklich nur eine Folie, um nebenbei ein paar gesellschaftliche o.ä. Themen zu behandeln, oder kann es auch mal andersrum sein?
Noller: Was soll ich sagen? Hervorragend. Und Respekt! Gut, dass Dein Kumpel solch einen Freund hatte, wie Du ihm einer warst. Und bist.
Kastura: Vielleicht dreht er sich ja im Grabe um, wer weiß? Jedenfalls: Eine Lese-Doppelschicht brauchst Du nicht einzulegen. Irgendjemand hat mal gesagt: Kein Buch wird besser, wenn man es ein zweites Mal liest. Schließlich sind wir nicht im Germanistikseminar, und die Lebenszeit ist begrenzt. Warte lieber auf Band 3 … Spielstand: 1:1
Ulrich Noller
Thomas Kastura: Das dunkle Erbe. Roman. München: Droemer 2008. 377 Seiten. 18,00 Euro.
Foto: Irene Kliever