
In Sachen Thalia
Offener Brief von Gerhard Beckmann an den Präsidenten des Bundeskartellamts in Bonn
Sehr geehrter Herr Mundt,
es sind kaum ein Dutzend Jahre vergangen, seit dem auf Papier gedruckten Buch die Zukunft abgesprochen wurde. Es galt für überholt. Mit den Neuen Technologien habe das Buch – so die damals gängig moderne Überzeugung – seine fünfhundert Jahre währende gesellschaftliche Bedeutung und seine Funktion als gesellschaftliches Grund- und Leitmedium verloren. Es werde durch die elektronischen Medien, durch die Digitalisierung unserer Welt verdrängt.
Das Buch ist jedoch seither keineswegs verdrängt worden, und allem Anschein nach ist es auch für die weitere Zukunft nicht ersetzbar. Gerade Pioniere und führende Repräsentanten der Neuen Technologien sind heute von seiner Dringlichkeit und Unentbehrlichkeit überzeugt. Kritische Wissenschafts- und Technologiehistoriker wie der Brite David Edgerton warnen überhaupt vor der herrschenden Gewohnheit, die Zukunft einseitig im Sinne neuer technologischer Erfindungen und Innovationen zu projizieren, „denn die Geschichte der Inventionen entspricht eben nicht der Geschichte einer unerlässlich notwendigen Zukunft, der wir uns anzupassen haben“. Und „Kultur ist der Technologie mitnichten nachgehinkt, eher das Gegenteil: die Annahme, dass Kultur der Technologie hinterherhinkt, ist eine uralte Vorstellung, die unter vielen technologischen Regimes herrschte. Technologie ist im allgemeinen keine revolutionäre Kraft gewesen.“
In seinem wegweisenden, leider bis heute nicht ins Deutsche übersetzten Werk „The Shock of the Old. Technology and Global History since 1900“ hat Professor David Edgerton an vielen Beispielen „die Bedeutung des scheinbar Alten“ dargelegt. Dazu zählt für ihn auch das gedruckte Buch.

Es ist also keineswegs so, dass die Bedeutung und das Fortbestehen des Mediums Buch durch die Neuen Technologien gefährdet wäre. Gefährdet könnte es allerdings durch die Buchbranche selbst sein – in der Bundesrepublik insbesondere durch Großfilialunternehmen. In diesem Zusammenhang spielt nun das Urteil eine wichtige Rolle, mit dem Ihre Behörde, sehr geehrter Herr Mundt, im November vergangenen Jahres das Zusammengehen von Thalia und Osiander gebilligt hat.

Sie haben sich dabei, sehr geehrter Herr Mundt, gewiss an die Vorschriften des bundesdeutschen Kartellrechts gehalten, das im vergangenen Jahre gültig war – aber den Realitäten nicht mehr gerecht werden kann, die sich im Laufe der letzten anderthalb Jahrzehnte insbesondere für den Agrarmarkt und den Buchmarkt wegen des stetig wachsenden Drucks von expandierenden Großfilialisten wie Aldi, Edeka, Rewe oder Thalia auf landwirtschaftliche Betriebe und Lebensmittelhersteller bzw. Buchverlage entwickelt haben. Denn keiner von ihnen erreicht die Position einer 30prozentigen Marktbeherrschung, welche die Genehmigung von weiteren Fusionen etc durch das Kartellamt obligatorisch macht. Keiner von ihnen hat unter diesen Umstände bislang bei missbräuchlicher Ausnutzung seiner Einkaufsmacht gegenüber Lieferanten Sanktionen befürchten müssen – was ihnen auch vis-a-vis kleineren Handelskonkurrenten Wettbewerbsvorteile sicherte. Eine Novellierung des Kartellrechts soll dergleichen wettbewerbsverzerrenden Praktiken nun einen Riegel vorschieben. Ich möchte an Sie appellieren, sehr geehrter Herr Mundt, das oben erwähnte Urteil Ihres Amtes gemäß der neuen Richtlinien dieser Novellierung baldmöglichst zu überprüfen und zu korrigieren. Denn, so gewiss Ihre Beamten sich 2020 an die Regeln des derzeit geltenden Kartellrechts auch gehalten haben, eine gründliche Erfassung des Marktverhaltens der Thalia und seiner Konsequenzen ist meines Erachtens kaum zu erkennen gewesen.

„Durch sein Zusammengehen mit Osiander“, schreiben Sie, „kann Thalia seine starke Marktposition weiter ausbauen“ – ohne irgendwelche negativen Auswirkungen für andere Markteilnehmer zu erwägen und abzuwägen. Darum seien hier einige kritische, den freien Wettbewerb behindernden Punkte vermerkt, die in der Buchbranche eigentlich als offenes Geheimnis gelten dürften:
– Mit jedem Übernahme- und Kooperationsschritt erhöht Thalia – ohne sie auszuhandeln, ohne Gegenleistung, also automatisch, und bis zu Beginn des angelaufenen Jahres rückwirkend – die Einkaufskonditionen für die Verlage, bei denen der Großfilialist Titel einkäuft. Es ist allein die Zunahme an Größe und nicht zusätzliche buchhändlerische Verkaufstätigkeit, die auf Grund der Größe zu erzwungenen höheren Konditionsforderungen führt.
– Von Verlagen, die sich den Forderungen Thalias verweigern, werden keine Titel bezogen. Sie werden „ausgelistet“. (Konkret war jüngst betroffen – laut Insider-Informationen aber nicht als einziger Verlag – Kein & Aber.) Ergo hat das vom Kartellamt abgesegnete Zusammengehen mit Osiander die wettbewerbsmäßige Diskriminierung von Verlagen zur Folge.
– Im Fall Kein & Aber ist erstmals dokumentarisch – über das Schweizer Fernsehen – öffentlich bekannt geworden, dass die Forderungen von Thalia um die 60 Prozent betragen. Das liegt um rund zehn Prozent oberhalb des durch die deutsche Buchpreisbindung fixierten Limits. Thalia versucht also auch noch Verlagspartner zu gesetzeswidrigem Verhalten zu nötigen – im Erfolgsfall mit der zusätzlichen schriftlichen Verpflichtung, es zu verschweigen – was als Anstiftung zu mafiösem Verhalten verstanden werden könnte.
– Einkaufskonditionen in Höhe von 60 Prozent sind, wie in der erwähnten Sendung des Schweizer Fernsehens der Verleger Daniel Kampa bestätigte, für einen Verlag wirtschaftlich nicht mehr tragbar: Das heißt dann, ein Verlag befindet sich in einer existenziellen Notlage. Entweder muss er sich auf Konditionen einlassen, die er sich nicht leisten kann, oder auf Umsätze verzichten, die er dringend braucht.
– Das Einkaufsprinzip von Thalia – es werden nur Titel geführt, bei denen die – illegalen – Konditionsforderungem erfüllt werden –, hat das flächendeckende Einerlei des Bücherangebots als Konsequenz, das laut kritischen Branchenbeobachtern zu dem Verlust von sechs Millionen deutschen Buchlesern entscheidend beigetragen hat.
– Bedeutet das Zusammengehen mit Osiander da etwa nicht einen weiteren Verlust an Arbeits- und Existenzchancen für Autorinnen und Autoren und an Wettbewerbsmöglichkeiten für Verlage, einen Verlust an der Vielfältigkeit von Geist und Leben, welche die von Ihrem bedeutsamen wichtigen Amt zu gewährleistende Wettbewerbsgerechtigkeit zu Nutz und Frommen der Bevölkerung unseres Landes erhalten möchte?
– Der wachsende negative Einfluss eines Großfilialisten wie Thalia reicht bis tief in Programmgestaltung und Titelpräsentation großer Verlage. Die exorbitanten Zusatzkosten, die sie verursachen, sind ein Grund dafür, dass es heute an Marketing und allgemeiner Werbung für Bücher mangelt, die für Buchhändler und Leser so notwendig wäre. Thalia – wie auch Amazon – knappst wohl sogar den Barsortimenten bis um zehn und mehr Prozente ab als überhaupt berechtigt und gesetzlich statthaft – und gefährdet damit ein einzigartiges, systemrelevantes Element, das unseren Buchhandel mit Amazon konkurrenzfähig macht. Und, sie kommen mir ganz besonders infam vor, solche Geschichten: Hat Thalia wirklich, wie ich gehört habe, seine Größe als Erfolgsstory aufgezogen, um widerstrebende selbständige Sortimenter unter Druck zu setzen, damit sie bei Thalia unterkriechen?
Mit freundlichen Grüßen,
Gerhard Beckmann
Siehe auch: Gerhard Beckmann: Starke Argumente für die Buchpreisbindung. Fakten zur großen Wirksamkeit von Buchhandlungen vor Ort. Gerhard Beckmann zu einer wichtigen Innsbrucker Pilotstudie – CulturMag August 2020.
Gerhard Beckmann: Offener Brief in Sachen Marktmacht im Buchhandel, CulturMag Dezember 2020.
Sein Wutschrei gegen Amazon hier, seine Texte bei uns hier. Gerhard Beckmann, den wir als regelmäßigen Mitarbeiter von CulturMag mit Freude an Bord haben, ist eine der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im Buchmarktstellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor.