Geschrieben am 1. März 2020 von für Crimemag, CrimeMag März 2020

Peter Münder über „Middle England“ von Jonathan Coe

Die neue radikale Unentschiedenheit 

Wutbürger gibt es auch in England- aber es wäre kleinkariert, gegenwärtige Irritationen und Turbulenzen allein auf den Brexit zu projizieren oder mit der Inkompetenz einiger politischer Funktionsträger zu erklären. Wut, Frust und Abscheu gegenüber einem debilen, dekadenten Establishment gab es schon unter Queen Victoria, zur Zeit von Disraeli , Palmerston, Gladstone und vor allem während der Thatcher-Regentschaft – von Gordon Brown, Harold Wilson, John Major und dem opportunistischen Bush-Kumpel Tony Blair ganz zu schweigen. Der Romancier Jonathan Coe („Number 11“) versucht mit subtilem Einfühlungsvermögen und dem Verzicht auf vorschnelle Schubladen-Raster, die „radikale Unentschiedenheit“ einer Mittelschicht zu sondieren, die sich früher im Glanz selbstgefälliger Zufriedenheit sonnte: „Middle England“ liefert ein „Bittersweet“- Panorama: Scharfsinnig-analytisch, amüsant und ohne Oberlehrer-Attitüde.

Von Peter Münder 

Two Nations

Als Benjamin Disraeli (Premierminister von Februar-Dezember 1868 und von 1874-1880) 1845 den Roman „Sybil Or The Two Nations“ veröffentlichte und in diesem zweiten Band seiner „Young England Trilogy“ (neben „Coningsby“ und „Tancred“) die Spaltung in zwei Nationen thematisierte – nämlich in Arm und Reich – da war das nicht nur die Geburt der polemisch argumentierenden „Political Novel“, sondern auch eine Sensation: Denn die Stimme des empörten Autors, der die Kluft zwischen diesen beiden Lagern anprangerte , war unüberhörbar: Sie zielte direkt auf bornierte Fabrik- und Großgrundbesitzer, die sich zu keinen Konzessionen gegenüber ausgebeuteten Land-Gruben- und Fabrik-Arbeitern aufraffen wollen. Der eher hanebüchen konstruierte  Plot um den Journalisten Morley, die Brüder Charles Egremont und Lord Marney sowie um Sybil, die arme Tochter eines militanten Chartisten-Führers, ist zwar leicht durchschaubar, die Figuren wirken wie aus einem Baukasten für Holzschnitt-Bastler – aber Disraeli hatte den entscheidenden gesellschaftspolitischen Konflikt seiner Zeit erkannt, die Kampfzonen in den Gruben und Fabriken im Norden selbst besucht und die „One Nation“-Verklärung als Hokuspokus entlarvt. Kein Wunder, dass der „Guardian“ vor einigen Jahren konstatierte, ohne Disraelis Trilogie hätte Dickens nicht „Hard Times“ schreiben können und „Sybil“ als Nr. 11 auf die Liste der 100 besten britischen Romane setzte. Die ziemlich erratischen biographischen Verästelungen dieses exotischen Vogels Disraeli, der ein begnadeter Rhetoriker, Liebhaber knallbunter Westen und guter Freund von Queen Victoria war, kann man übrigens während einer Besichtigung seines Landsitzes Hughenden Manor (High Wycombe, Buckinghamshire) verfolgen: Hier schrieb er seine Romane, hier besuchte ihn die Queen. Eine Ausstellung mit Manuskripten, Briefen und kuriosen Paraphernalia erinnert außerdem  an den Berliner Kongress von 1878, auf dem der Premier zusammen mit Bismarck den russischen Einfluss auf dem Balkan begrenzte. Aber damals war Britain noch „Great“ und das Empire weltumspannend. Wer wie Jonathan Coe versucht, der Frage nachzugehen, was seitdem schiefgegangen ist, wagt sich natürlich auf ein weites Feld.  

„dass Speed die verlockendste aller Droge ist, hat schon Aldous Huxley geschrieben!“ 

„Middle England“-Autor Jonathan Coe ist 1961 in Birmingham geboren, Cambridge-Absolvent und hat sich mit seinen insgesamt elf Romanen in einem spezifisch komisch-ätzenden Stil mit der „Lage der Nation“ beschäftigt. In einer Postkarten-Idylle zeigt er in einer Eingangsszene einen jetzt 55-jährigen Benjamin Trotter als Möchtegern-Autor, der schon seit dreißig Jahren an seinem Roman herumtüftelt, aber viel lieber bei erhaben-tragender Musik von Vaughan Williams den Blick auf den an seinem Haus vorbeirauschenden Severn genießt. Trotter war schon eine Hauptfigur in „The Rotters‘ Club“ und „The Closed Circle“, wir kehren also zurück in ein vertraut-schrilles Ambiente, in dem sich mal wieder familiäre Konflikte mit dem ehedem bei Leyland als Fabrikarbeiter beschäftigten Vater Colin entladen. Wo aber auch Trauer über Colins verstorbene Ehefrau herrscht, und Bestürzung über den schlechten Geschmack von Benjamins Schwester Lois, die den falschen Mann geheiratet hat und nach einem Bombenattentat in Birmingham ihren damaligen Freund verlor. Trotters Nichte Sophie ist Kunstgeschichts-Dozentin und gerät in einen widerlichen Social-Media-Shitstorm, der sie als Rassistin und Transgender-Gegnerin denunziert- was von den beflissenen PC-Wächtern der Uni sofort mit einer längeren Suspendierung quittiert wird. 

Eine gründliche Anhörung, irgendein Bemühen um Wahrheitsfindung findet kaum statt. Erst nach ihrem erfolgreichen Debüt als Kunstexpertin und Moderatorin in einer TV-Sendung kann sie wieder an die Uni zurück. Die komische Wendung in ihrem Leben beschert ihr ein Strafzettel für zu schnelles Fahren: Um sieben Meilen hat sie das Speed-Limit übertreten, was ihr einen Umerziehungskurs einbringt, in dem sie den Kursleiter Ian als Erklärung für ihren Frevel mit dem hübschen Zitat von Aldous Huxley konfrontiert: „Speed ist eben die verlockendste aller Drogen!“ Wie Coe aus dieser Szene dann die fabelhafte Entwicklung zur Romanze und schließlich zur Hochzeit entwickelt, ist einfach grandios und zeigt diesen Satiremeister at his best – auch wenn die Beziehung bald in die Brüche geht. Bittersweet sind viele andere Figuren und Wendungen der Plots gezeichnet.

Wir können einen Blick in den journalistischen Jahrmarkt der Eitelkeiten werfen und erfahren, wie der Kolumnist Doug regelmäßig David Camerons Berater Nigel trifft, um sich Insiderwissen zu verschaffen und sich so der Öffentlichkeit als oberschlauer Politikjournalist zu präsentieren. Diese Konstellation des im Zentrum der Macht stehenden, mit Häme und Zynismus das politische Geschehen kommentierenden Duos hat Coe mit gnadenloser Schärfe auf den Punkt gebracht. Und mit seiner vernichten Kritik des opportunistischen, prinzipienlosen Cameron auch eine hedonistische Elite entlarvt, die völlig abgehoben „von denen da unten“ in einer gut abgefederten Blase dahinschwebt. 

Bedrückende, melancholische Szenen wie etwa Benjamins Ausflug mit dem Vater zum längst stillgelegten und umgebauten ehemaligen Leyland-Fabrik-Gelände, wo Colin Jahrzehnte schuftete und wo jetzt Shopping Malls und Schnäppchenbuden dominieren, vermischt Coe mit dem schrill-verstörenden Spektakel eines erbitterten Kampfes zweier rivalisierenden Clowns, die als Entertainer bei Kindergeburtstagen jobben und übel enden: Ein Schläger landet sogar im Knast. 

Olympia als royalistischer Identitätsstiftungsprozess?

Einerseits setzt Coe also die Tradition der großen Satiriker Kingsley Amis, John Wain, John Braine, Keith Waterhouse u.a. fort. Aber er blickt auch über den Tellerrand, diagnostiziert den britischen Humor wegen seines Trends zur Banalisierung als „Teil unseres Problems“ und begreift das EU-Referendum als Chance, den labilen gesellschaftlichen Unruhezustand angesichts turbulenter Brexit-Debatten in einem Roman zu thematisieren. Ziemlich überfrachtet hatte er allerdings seine Themenliste für diesen Roman: Er sollte auch deswegen in den Midlands angesiedelt sein, weil Coe nach 20 Jahren in Birmingham und 30 Jahren in London wieder zu den Schauplätzen seiner Schul-und Teenagerjahre zurückkehren und die Erinnerung an seine erste große Liebe wiederbeleben wollte: „Walking down Memory Lane“ praktiziert er also, aber mit kritischem, wachen Blick für aberwitzige Exzesse und neuartige Phänomene. Shitstorms in den sozialen Medien, fanatisch-obsessive Political Correctness-Fixierungen und massive Aggressionen, die sich in banalen Alltagssituation entladen – das alles bringt Coe in seinem breit angelegten gesellschaftlichen Panorama zur Entfaltung. Er zeigt aber auch – oder soll das vielleicht nur ein beschwichtigendes Beruhigungs-Mittel sein? – wie elektrisierend und euphorisch die TV-Übertragung der Londoner Olympia-Eröffnungszeremonie auf eben noch total verbiesterten Kontrahenten wirkt und in einem allgemeinen Begeisterungstaumel kulminiert, der mit dem kurzen Auftritt der Queen eine Art royalistischen Identitätsstiftungsprozess auslöst. „Wir sind wieder wer“ scheint nun das Mantra begeisterter Nationalisten zu lauten. Plötzlich ist man als Engländer trotz aller Brexit-Wirren wieder Top Dog – wenigstens für ein paar Olympia-Tage. 

© Valeria Cardi

„Middle England“ also im Kontext der Spaltung einer Nation zu diskutieren, liegt auf der Hand: Nicht nur, weil Jonathan Coe lange nach Disraeli ebenfalls eine Trilogie (Band 1: „The Rotters‘ Club“, 2001, Band 2: „The Closed Circle“, 2004, nun also „Middle England“, 2018) über das Auseinanderdriften unterschiedlicher  gesellschaftlicher Schichten und Denkmuster verfasst hat. In der heißen Brexit-Phase zeigte sich ja auch, dass die Polemik der Leave- und Remain-Gruppierungen grundsätzliche Probleme wie Identitätsschwäche, Intoleranz, Verunsicherung sowie eine „radikale Unentschiedenheit“ berührt. Coe nennt diese kleinkarierten Streitereien „tribalistisch“ – also Auseinandersetzungen wie unter verfeindeten Stämmen. Vorurteile und Aversionen gegen Einwanderer, eine als „Political Correctness-Brigade“ angefeindete BBC oder der Hass auf eine elitäre Funktionärskaste: Geht es dabei nicht auch um den Verlust traditioneller Werte? Altvertraute Wahrheiten, rigide Normen sind offenbar längst in diffusen Grauzonen aufgeweicht; die Auflösung traditioneller Verhaltensmuster hat längst den so innig beschworenen „Nationalcharakter“ lädiert, wenn es ihn überhaupt gibt. Diese Aspekte beleuchtet Coe, ohne dabei den Anspruch zu erheben, endgültige Erkenntnisse entdeckt zu haben.

Aussichtsloser Therapieversucht

Wenn Coe im Roman ein zerstrittenes Paar bei der „Brexit-Therapie“ beschreibt, bei der man sich beraten lässt, um den ans Eingemachte gehenden Streit irgendwie in den Griff zu bekommen; wenn die Therapeutin aber schnell das Handtuch wirft, weil eine Annäherung der  gegensätzlichen Standpunkte völlig aussichtslos ist, dann ist auch offensichtlich, dass ein Rückblick auf die gesellschaftspolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte mit dem Tenor: ab wann lief eigentlich alles schief? – nicht mit simplen Parolen oder einfachen Rezepten eindeutige Erklärungsmuster finden kann. 

Ein Riss quer durch die britische Gesellschaft, wie er 1984/85 während des einjährigen Bergarbeiterstreiks zum blutigen Showdown zwischen der Regierung Thatcher und dem Gewerkschaftsboss Scargill führte, wird in „Middle England“ zwar auch angedeutet. Doch damals endete der Machtkampf in der brutalen Zerschlagung der Gewerkschaften und mit dem gigantischen Verlust von Arbeitsplätzen. Jetzt wird Britannien (noch?!) während der Brexit-Phase von einem ähnlichen Desaster zum Glück verschont. Aber welche düsteren Folgen auf die Briten zukommen, lässt sich nicht absehen; dieser Punkt wird im Roman auch ausgeblendet. Der eher Joke-affine Jonathan Coe tendiert nämlich meistens doch dazu, mit milder Ironie allzu harte und unangenehme Themen nur mit Samthandschuhen anzugehen, auch wenn er vielleicht nur den „typisch englischen“ Hang zur Konfliktvermeidung entlarven will. Wenn im Roman also die vorsichtige Frage beim ersten Abtasten zweier Männer lautet: „Do you like Trump?“ und die Antwort lautet „No, I don‘t“, was mit großer Erleichterung von beiden Seiten aufgenommen wird, dann hört man zwischen den Zeilen auch den zufriedenen  Seufzer heraus: Diese Klippen mit drohenden Konfliktherden sind zum Glück umschifft!

Zur vertiefenden Brexit-Debatte trägt „Middle England“ jedoch kaum etwas bei: Natürlich sind es viele Faktoren, die zum Prozess einer radikalen Unentschiedenheit, einer allgemeinen Verunsicherung und zum Frust über eine Umwertung aller Werte beitrugen. Entscheidende EU-Defizite werden jedoch nicht angesprochen: Weder die Korruption in Balkan-Staaten, noch die ohne Beteiligung betroffener Bürger getroffenen Brüsseler Hinterstuben-Entscheidungen, noch die Berliner Besserwisser-Brigade, die meint, den Briten vorschreiben zu können, wie sie mit Immigrationsproblemen oder dem richtigen Mischen von Schweinefutter zu verfahren haben. Die grenzenlose Lernresistenz Brüsseler Bürokraten hinsichtlich viel zu schneller und dilettantisch eingefädelter Beitrittsverhandlungen, das Ignorieren der Bevölkerung bei wichtigen Entscheidungsprozessen usw. – all das wird vom Satiriker Coe ausgeblendet. Dieses Manko – das ja in den meisten Brexit-Debatten vorherrscht – führt jedenfalls zu plumpen Strickmustern, die Brexit-Befürworter als idiotische Dumpfbacken oder notorische Nörgler  verhöhnen.

Jonathan Coe hatte übrigens in einem „Guardian“-Interview argumentiert, man könnte während der Turbulenzen bis zur endgültigen Lösung der Brexit-Frage auf einfache Mittel zurückgreifen: „Den Film „Some like it hot“ oder Victoria Wood-Videos ansehen und PG Wodehouse lesen, um uns selbst daran zu erinnern, dass Leichtigkeit und Frohsinn in der Welt noch nicht abhanden gekommen sind“. Im Ernst? Oder will Jonathan Coe uns mit der Devise „Keep Calm and Carry on with Jeeves“ nur auf den Arm nehmen? Schließlich ist er ja der Spezialist für Satire und Jolliness.

Mein Fazit: Trotz einiger Vorbehalte wegen des Hangs zur mitunter seichten Jolliness als empfohlenes Schmerzmittel beeindruckt und begeistert dieser Romancier mal wieder. Denn Jonathan Coe will uns nicht irgendwelche einfachen Lösungen oder Wahrheiten unterjubeln; er sucht vielmehr nach Zusammenhängen und Entwicklungen, die er meistens auch differenziert mit ironisch-ätzender Grandezza präsentieren kann. 

  • Jonathan Coe: Middle England. Aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs. Folio Verlag Wien 2020, 477 S., 25,- Euro.

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