Geschrieben am 1. Juni 2019 von für Crimemag, CrimeMAg Juni 2019

Peter Münder: Veit Heinichen „Borderless“

Xenia räumt auf

„Borderless“ ist zwar der elfte Thriller von Veit Heinichen, 62, der im Umfeld von Triest spielt, aber der Spezialist für mafiöse Strukturen und skurrile Marotten des sympathischen Querdenkers Commissario Proteo Laurenti hat nun eine dynamische Runderneuerung vorgenommen: Die beinharte Kung-Fu Kämpferin Xenia Zannier hat Laurenti als Commissario abgelöst; sie will die korrupte Senatorin Romana Costella de Poltieri mitsamt ihrer Banker-Politiker- und Unternehmer-Netzwerke zu Fall bringen und dabei auch den Mord an ihrem Bruder rächen. Nun ist das sonst so beschauliche Grado der Hauptschauplatz: Von hier aus wird Waffenschmuggel im großen Stil organisiert, hier kommt es zum Showdown von zwei  BND-Beamten, Schlepper leiten Flüchtingsboote hierher und chauvinistische Protestaktionen sorgen für Unruhe. Ist die unter pathologischer Platzangst leidende Kommissarin Xenia von diesen extremen Herausforderungen nicht überfordert?  – Eine Besprechung von Peter Münder.

Suchbild mit Autor, aus vergangener Zeit: VH hinter James Joyce in Triest © Peter Münder

Diese ersten Sätze sind doch mal eine klare Ansage: „Such Dir einen neuen Job, Flittchen. Ich mach dich fertig.“ Das Zitat hat sich Commissario Xenia Zannier zusammen mit Fotos, Zeitungsmeldungen und detaillierten Piktogrammen über die verhasste Senatorin Romana Castelli de Poltieri an die Wand geklebt, um das Objekt ihres unbändigen Furors immer im zentralen Fokus zu behalten. Es ist Xenias Leitmotiv, denn jetzt will sie diese in kriminelle Machenschaften verwickelte Strippenzieherin selbst fertig machen. Als Flittchen beschimpft und mit dem Rauswurf aus dem Polizeidienst bedroht, wurde sie als junge Polizistin einige Jahre zuvor, als sie bei einer Razzia im Haus der Senatorin versteckte Geldbündel in der Holzvertäfelung entdeckte: Ein eindeutiges Indiz für Schwarzgeld-Mauscheleien und Steuerhinterziehung – aber die mit vielen dubiosen Politikern und Wirtschaftsbossen bestens vernetzte Poltieri fand immer wieder neue Drehs, um harte Sanktionen zu umgehen. Und die Kämpferin Xenia, die ihren Stressabbau mit Tritten und Handkantenschlägen auf eine selbstgebaute Hölzerner-Mann-Skulptur betreibt, bürstet Direktiven und Einmischungen ihrer Vorgesetzten zugunsten der Senatorin wild entschlossen ab. „Basta“ heißt für sie ganz einfach Schluss mit verlogenem Geschwätz und verlockenden Angeboten, die sich „positiv auf ihre Karriere auswirken könnten“…

Xenia ist jedenfalls eine beeindruckende, mit faszinierenden Macken (pathologische Platzangst, Angst vor allzu intimer Nähe) ausgestattete  Nachfolgerin ihres eigenwilligen Ausbilders und Mentors Proteo Laurenti, der sich ja immer schon unbeirrt von  Interventionsversuchen profilneurotischer Bürokraten und amtlicher Wichtigtuer  an das Ausmisten des von mafiösen Strukturen unterminierten Triester Augias-Stalls machte. Jetzt lebt sie mit dem arbeitslosen deutschen Jung-Archäologen Arne zusammen, der jedoch viel zu anhänglich ist und das Leben für einen permanenten Valentinstag hält. Er spielt den  Rosenkavalier und besorgt schon mal die  Verlobungsringe, was sie als Affront versteht und mit furiosen Wutausbrüchen quittiert. Das fast schon routinemäßige Demolieren und Zerhacken ihrer Möbel kann der lernresistente Schwärmer dann nur noch demütig ertragen, denn die schlagfeste Kommissarin braucht einfach eine gewisse Distanz und will nicht komplett vom Dortmunder Bürschchen vereinnahmt werden. In einer ähnlichen Konstellation, als ihr Verehrer noch Zeno hieß, fauchte Xenia: „Steck dir dein Harmoniebedürfnis irgendwohin, du Herr der Ringe.“ („Im eigenen Schatten“, 2013)

Noch einmal aus der Vergangenheit © Peter Münder

 Xenia war während des großen Erdbebens im Friaul als tausend Menschen ihr Leben verloren  und 45 000 ihr Dach über dem Kopf, mit einem Notkaiserschnitt zwei Monate zu früh auf die Welt gekommen – als Vollwaise. Ihre Rettung in einem improvisierten Lazarett stellte für die Medien damals das spektakuläre „Wunder von Gemona“ dar. Ihr Babyphoto prangte damals in allen Zeitungen; es  veranlasste den österreichischen Reporter und Enthüllungsjournalisten Jordan Becker, Xenia regelmäßig an den Jahrestagen ihrer Rettung  zu besuchen. Daraus entstand eine Freundschaft, die für Xenia von entscheidender Bedeutung  wurde, da Becker die Aktivitäten des organisierten Verbrechens im Mittelmeer-Raum im Fadenkreuz hatte: Geldwäsche und dubiose Finanz-Transaktionen über die MEC-Bank, Menschenhandel, Prostitution, Organhandel, Schleusergeschäfte, Firmenübernahmen – meistens war die hyperaktive Poltieri involviert, was Becker schon früh erkannt und Xenia mitgeteilt hatte. Becker hatte seine Erkenntnisse sogar dem zuständigen Staatsanwalt weitergeleitet, der ihn kaltschnäuzig abblitzen ließ. Wenige Tage später wurde der Reporter ermordet.

Veit Heinichen – ebenfalls beim Triest-Besuch von Peter Münder entstanden

Das alles rückt jetzt stärker in den Fokus, weil die skrupellose  Poltieri nun auch noch für den Vorsitz der OSZE kandidiert. Becker hatte jedenfalls beizeiten (ähnlich wie der seit über zwanzig Jahren in Triest lebende Autor Heinichen) über den nationalen Zaun geblickt, internationale Zusammenhänge erkannt und registriert, dass „nur noch die Behörden in den nationalen Zwinger gepfercht sind, während das organisierte Verbrechen virtuos das Spiel über alle Grenzen hinweg beherrscht“.  

Unwiderstehlicher Sog           

Wie Heinichen die turbulenten Aktionen um die beiden rivalisierenden, in Waffenlieferungen und dubiose Karriere-Manöver verwickelten BND-Bürokraten Körber und Weißenfels, die Chauvi-Protestaktionen der Patria Nostra-Gruppe mit den Vorbereitungen einer internationalen Konferenz, der Ermordung des Reporters Jordan, den riskanten Eskapaden Berliner Magazin-Reporter sowie mit Xenias Ermittlungen gegen die hypertrophe Poltieri zum brisanten Plot verdichtet, das ist ebenso verblüffend wie unwiderstehlich. Denn jetzt verzichtet der Feinschmecker Heinichen auf  gastronomische Exkurse (keine Rezepte mehr!), sorgt mit beschleunigtem Erzähltempo für Speed und Spannung und hat den Blick doch immer auf größere Zusammenhänge gerichtet. Über allem aber thront die auf Frischluft, Weite und Gerechtigkeit fixierte Amazone Xenia, die für alle neurotischen Komplexitäten und gefährlichen Konstellationen eine Lösung findet – sie ist zweifellos die faszinierendste Protagonistin eines hochklassigen Gegenwarts-Thrillers. Heinichens Feinjustierung seiner altbewährten Koordinaten von Triest-Küche und Krimi  hat mit Xenia und Grado jedenfalls wahre Wunder bewirkt. Selten habe ich einen so mitreißenden Pageturner verschlungen.

Peter Münder 

  • Veit Heinichen: Borderless. Piper Verlag, München 2019. 464 Seiten, 16,99 Euro.
Rezensent und Autor – @ Peter Münder

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