Geschrieben am 1. Juli 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2020

Peter Münder zu Zoë Becks „Paradise City“

Zufrieden, sicher, versorgt und immer überwacht mit implantiertem Chip – Wer vermisst da noch ein abstraktes Freiheitskonzept?

Zoë Becks „Paradise City“ ist ein gelungener kritischer  Gegenentwurf zu Aldous Huxleys „Brave New World“ von 1932: Statt satirischer Übertreibungen, hedonistischer Exzesse und gigantischer Labore voller Teströhren, in denen zufriedene Dumpfbacken-Kreaturen ausgebrütet werden, beschreibt sie in einem Science Fiction-Scenario eine um das Jahr 2050 funktionierende Gesundheits-Diktatur: Nach einer verheerenden  Maser-Epidemie und gigantischen Überschwemmungen hat sich eine Giga-Behörde etabliert, die mit implantierten Chips und Rundum-Video-Überwachung die Aktivitäten der Bevölkerung  kontrolliert. Mit ihrer Protagonistin Liina, einer Journalistin, die an das Prinzip der Aufklärung glaubt und gegen das staatliche Fake News-Verblödungs-System arbeitet, verleiht Zoë Beck ihrem Thriller eine kritische Meta-Ebene mit hohem Spannungsmoment. – Von Peter Münder.

Haben Schakale in der Uckermark eine Frau totgebissen? Wollte der vom einfahrenden Zug schwer verletzte Frankfurter  Agenturchef  Yassin tatsächlich Selbstmord begehen? Und wieso hatte er Liina noch diesen ziemlich idiotischen Recherche-Auftrag für die Uckermark-Schakale gegeben? Mit diesen Krimi-Aspekten umkreist das um 2050 spielende „Paradise City“ eine breite Themen-Palette. Die aktuelle Pandemie-Brisanz war für die in Berlin lebende Autorin („Die Lieferantin“), CulturBooks-Verlegerin, Übersetzerin und Synchron-Regisseurin Zoë Beck, 45, noch nicht absehbar, als sie 2018 ihr Manuskript verfasst hatte.  

Nach Überschwemmungen und einer Masern-Epidemie mit einer Sterberate von 40 Prozent hatten sich neue Strukturen herausgebildet: Nun gibt es trostlose, menschenleere Ortschaften mit verlassenen Häusern im Osten, während sich um die neue Hauptstadt Frankfurt eine Mega-City mit zehn Millionen Einwohnern entwickelte und Berlin zum beschaulichen Sightseeing-Spot für Touristen mutierte. Die digitalisierte Kontrollinstanz KOS kann über einen implantierten Chip alle relevanten medizinischen Daten der Einwohner abrufen und darauf mit Warnungen und Empfehlungen reagieren. Außerdem  liefert jedes  Smartcase mit den darauf gespeicherten Videos, Photos, Hintergrund-Profilen und Bewegungsabläufen perfekte Überwachungs-Daten. 

Aber man kann auch, wie es die für die nichtstaatliche Agentur Gallus arbeitende Liina praktiziert, den Videoblocker aktivieren, um dem bürokratischen Schnüffel-Terror vorübergehend  zu entkommen. Da Liina schon ein zweites, aus Stammzellen gezüchtetes  Spenderherz hat und außerdem schwanger ist, vertraut sie auf die Hinweise von KOS zur Tabletten-Einnahme, Ernährung oder auch zu Ruhepausen. Soweit, so „normal“ – wenn man davon ausgeht, dass zur Rundumbetreuung und Prophylaxe auch der Kampf gegen Trisomie 21 gehört.  

Fake News als Religionsersatz, Freiheit nur noch ein abstraktes Konzept

Liinas Sympathie gilt Systemgegnern wie den „Parallelen“, die sich als nichtkontrollierbare Randexistenzen außerhalb der staatlichen sozialen Versorgungs-Maschinerie ihr Überleben sichern. Die vagabundieren durch verlassene, heruntergekommene Landstriche, wo sie sich in antiquierten  Sozialstrukturen eingerichtet haben. Für Liina sind das so faszinierende Aspekte, dass sie trotz aller Schikanen mit dem Fahrrad Ausflüge in diese Sonderzone unternimmt. Ausgerechnet beim „Mensch ärgere Dich nicht“-Spiel, das ihr dort ein kleines Mädchen erklärt, kostet Liina dann wahre Glücksgefühle aus – hört sich kitschig an, zeigt aber auch, wie differenziert Zoë Beck menschliche Aspekte in Zeiten einer grassierenden „Digitalis“ beschreiben kann.  

 Als man ihrem retardierten Zwillingsbruder einen Gehirnchip implantierte, fing Liina an, sich dieser digitalen Bevormundung zu verweigern. Ihr schwante wohl auch, dass die permanente KOS-Überwachung  als Vorstufe für Euthanasie-Maßnahmen instrumentalisiert werden könnte. 

Die vorherrschende Mainstream-Lethargie, unterstützt von  einer staatlichen Grundversorgung mit medizinischer Absicherung, dürfte solange dominieren, wie der Glaube an ein gut funktionierendes System nicht erschüttert wird, überlegt Liina an einer Stelle: Wenn alle zufrieden sind, weil sie offenbar alles haben, was sie brauchen ­– Sicherheit, Gesundheit, ein Zuhause, Beschäftigung –, dann wird Freiheit „ein viel zu abstraktes Konzept, außerdem kann sich frei bewegen, wer nichts zu verbergen hat“. Für so simpel gestrickte Dumpfbacken, glaubt Liina, werden dann auch Fake News der Regierung zur Religion: „Und die Fake News wissen immer auf alles eine Antwort, wo also ist das Problem?“ 

Es sind diese eingestreuten Denkanstöße zu fundamentalen Fragen, die „Paradise City“ so spannend machen. Der Krimi-Plot läuft ja keineswegs im Leerlauf, er eskaliert schließlich zum blutigen Showdown, bei dem es um undichte Stellen in Liinas Agentur, aber auch um plumpe materielle Interessen im medizinischen Forschungsbereich geht.  

Beeindruckend ist der souveräne, auf effekthascherischen Budenzauber verzichtende Erzählduktus, mit dem Zoë Beck dieses düstere Zukunfts-Szenario entwickelt. Beim Eintauchen in diese Welt entsteht schnell ein starker Sog: Ich würde diesen  beunruhigenden, erhellenden Prozess maximalen Lesegenuss nennen.   

Peter Münder

  • Zoë Beck: Paradise City. Thriller. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 281 Seiten, 16 Euro.

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