
The Under presents Tempest
Shakespeares letztes Stück The Tempest trifft auf neuste Gaming Technologie: Virtual Reality – von Christopher Werth
Wer diesen Sommer per VR-Brille das Spiel The Under presents startete, konnte eine Überraschung finden: Ein Spiel im Spiel. In The Under presents erkundet man gemeinsam mit anderen zusammen ein geheimnisvolles Theater in einer dunklen Wüste. Das Besondere: Immer mal wieder werden die schrägen Künstler:innen und das Personal, die das Theater bevölkern, von echten Schauspieler:innen übernommen, die live mitspielen, um alles noch lebendiger und abwechslungsreicher zu machen.Wenn man das Spiel startet, landet man zunächst in einer dunklen Wüste. Durch Fingerschnipsen bekommt man Hände – und aus einer Spalte im Wüstenboden fliegen einem zwei goldenen Armreifen an die Handgelenke. Mit den Reifen hat man die Möglichkeit, sich zu bewegen. Hat man das geschafft, erscheint auf einem Sockel eine goldene Maske. Wenn man sie aufsetzt, wird die eigentliche Spielwelt sichtbar. Man sieht ein wie von David Lynch persönlich entworfenes Theater, das „The Under“. Hier muss man irgendwie reinkommen und versuchen, das experimentelle Cabaret-Programm zu starten.

In der Lockdown Zeit, als viele Schauspieler:innen arbeitslos wurden, entstand die Idee, noch zusätzlich ein neues Theater in die Szenerie einzubauen, um ein ganz neues, interaktives Theaterstück anzubieten. Zur Zeit der Aufführungen von Tempest stand dann neben dem bekannten Haus „The Under“ ein zweites mysteriöses Theater. Diesmal im ausladenden Art Deco Stil. Im Eingangsbereich konnte man die Tickets für die Vorstellungen für 14,99€ buchen, um zum ausgewählten Zeitpunkt die Vorstellungen zu besuchen. Eine gute Möglichkeit, Schauspieler:innen trotz Pandemie zu beschäftigen und von zu Hause aus mit VR-Headsets und Touch-Controllern ausgestattet aufzutreten zu lassen.
Zu Beginn der Vorstellung sammeln sich die virtuellen Theaterbesucher:innen im Foyer. Dabei bietet sich schon mal die Möglichkeit, mit den verschiedenen anonymen Mitpieler:innen zu interagieren und die Funktionsweisen der einheitlich schwarzen Avatare mit den goldenen Masken kennen und steuern zu lernen.

Dann geht’s los. Alle nehmen mit Blick aufs Meer an einem Lagerfeuer platz. Eine Schauspielerin beginnt in privater Haltung und ganz locker zu erzählen, stellt sich und das Spielprinzip vor. Jeder bekommt die Rolle eines Geistes zugewiesen, und mit neu gelernten Zauberkräften setzen dann alle gemeinsam die Handlung in Bewegung und starten mit einem gewaltigen Sturm in die magische Welt von Tempest. In jeder weiteren Szene bekommen die Zuschauer:innen neue Aufgaben und spielen so gemeinsam mit der Schauspielerin die verschiedenen Szenen durch. Den Schiffbruch, die Insel, die Romanze. Dabei bleiben alle jederzeit aktiv und die gesamte Zeit gefordert. Die Schauspielerin wechselt dabei immer wieder gekonnt zwischen lockerem Ton und sprachgewaltigen Versen, wenn sie zwischen ihrer Rolle als Spielleiterin im Game und den Shakespeare-Rollen, die sie abwechselnd verkörpert, hin und her springt. Am Ende eines verrückten Tripps sitzen wieder alle am Lagefeuer und können Applaus klatschen und damit ein letztes visuelles Inferno auslösen. Dann heißt es sich verabschieden und alle befinden sich wieder im Foyer des Theaters. Natürlich wäre es interessant, mehr über die anderen Besucher:innen zu erfahren, weil man ja gerade eine verrückte Erfahrung miteinander geteilt hat – aber alle bleiben anonym.

Bleibt die Frage: warum ausgerechnet The Tempest als Vorlage? Warum nicht lieber ein neues Stück, von zeitgenössischen Autor:innen mit aktuellen Themen und in heutiger Sprache? Vielleicht sogar extra für diesen Anlass entwickelt und geschrieben? Das Künstler- und Entwickler:innen-Kollektiv Tender Claws aus Los Angeles, das hinter diesem Spiel steht, hat seine Gründe. The Tempest hat eine ganze Menge zu bieten. Nicht umsonst zählt es seit vier Jahrhunderten zu Shakespeares erfolgreichsten Stücken. Story, Setting und die Spielszenen bieten jede Menge Potential für die endlosen Gestaltungsmöglichkeiten von VR. Die einsame, geheimnisvolle Insel, auf der die Handlung spielt, ist eine symbolisch aufgeladene Fantasiewelt, die ganz unter dem Zauber des „Master of Ceremony“, der Hauptfigur Prospero steht. Kein Bühnenbild der Welt kann hier mit den Möglichkeiten von VR mithalten, die Zuschauer in immer wieder neue, immersive Settings entführen und die Magie erleben lassen. Kongenial umgesetzt ist auch Shakespeares „Spiel im Spiel“. Die durch den Abend führende Schauspielerin zieht in der Rolle des Prospero die Fäden, übernimmt die Regie und kann allen VR-Zuschauer:innen immer wieder neue Rollen und Funktionen geben. Und vor allem: was gibt es Besseres, als sich während einer globalen Pandemie an einen utopischen Ort zu begeben, an dem Ungerechtigkeiten gerade gerückt, Liebende vereinigt und Ideen für eine bessere Zukunft gesponnen werden?
Die Interaktionen zwischen Schaupieler:innen und Zuschauer:innen machen jede einzelne Vorstellung zu einem Original – jedes Mal ein bisschen anders – und dadurch zu einem unwiederholbaren, intensiven Erlebnis. Man kann also nur gespannt sein, welche Projekte hier noch an den Schnittstellen der Disziplinen entstehen werden – und besonders darauf, was Tender Claws als nächstes entwickeln wird. Die Kraft des Theaters, sie wirkt auch im neusten technischen Gewand.

Originaltitel: The Under presents Tempest
Entwickler-Studio und Credist: Tender Claws
Plattform: Oculus
Quelle der Bilder: © Tender Claws
Christopher Werths Texte bei uns hier.
Playing Video Games (1): Firewatch