Geschrieben am 1. April 2021 von für Crimemag, CrimeMag April 2021

Playing Video Games (6): Papers, Please

A Dystopian Document Thriller

Fast alle kennen diesen Moment beim Einreisen in gewisse Länder: Passkontrolle. Man legt mit verschwitzten Fingern die Papiere vor. Man wird von kalten Augen ohne jeden Anflug von Empathie gemustert. Sekunden werden zur Ewigkeit. Kalter Schweiß bildet sich. Und vor dem inneren Auge laufen probeweise blitzschnell Szenen zwischen Gefängnisaufenthalt oder einem vorzeitigen Rückflug ab. Alles hängt in dieser Situation scheinbar an der Willkür der Beamten. Ein zweiter Film im Kopf beginnt. Diesmal spielt die Fantasie alle möglichen und unmöglichen Szenarien durch, wie man sich gnadenlos an diesem Menschen rächen könnte. 

Fast alle haben das so schon mal erlebt. Aber: hat sich nach einer schnellen Verurteilung schon mal wer gefragt, wie es in diesem Menschen, der hinter der Glasscheibe seinen Dienst verrichtet, aussieht? Wie es sich anfühlt, auf der anderen Seite zu stehen und den ganzen Tag Papiere zu kontrollieren? In dämliche Gesichter zu blicken und immer die gleichen Fragen zu beantworten? Lucas Pope hat genau das getan. Und weil er Indie Game Developer ist, hat er dieser Spezies ein liebevoll-absurdes Spiel gewidmet. 

In Papers, Please – A Dystopian Document Thriller schlüpft man dazu in die Rolle dieser vielgehassten und wenig beachteten Person, die schlechtgelaunt für einen kurzen Moment alle Macht hat, die Leben von Menschen zu verändern – man wird Grenz-Inspektor in einer radikalen Diktatur. 

Die Begrüßung gleich am Anfang zieht einen in das neue Leben. Allein die Tatsache, hier überhaupt eine Arbeit zu haben, ist ein großes Privileg: „Herzlichen Glückwunsch. Die Arbeitslotterie des Monats Oktober ist abgeschlossen, und Ihr Name wurde gezogen. Melden Sie sich umgehend zum Arbeitseinsatz beim Ministerium für Grenzschutz am Grenzübergang Grestin. Eine Wohnung der Klasse 8 wird Ihnen und Ihrer Familie in Ost-Grestin zur Verfügung gestellt. Es lebe Arstotzka.“

Wir erfahren weiter: Der kommunistische Staat Arstotzka hat gerade erst einen sechs Jahre andauernden Krieg gegen sein Nachbarland Kolechien beendet und die ihm rechtmäßig zustehende Hälfte der Grenzstadt Grestin zurückerobert.

Die Aufgabe als Inspektor:in der Einwanderungsbehörde besteht darin, die Einreisewilligen zu überwachen, die aus Kolechien in den arstotzkanischen Teil von Grestin wollen. Was es besonders schwer macht: unter den Immigranten, Besucherinnen und Arbeitsuchenden verstecken sich Kleinkriminelle, Drogendealer, Spioninnen und Terroristen. Die große Frage lautet also jedes Mal: ablehnen oder genehmigen?

Nur anhand der Dokumente, die von den Reisenden vorgelegt werden, muss man entscheiden, wer nach Arstotzka einreisen darf, wer abgewiesen wird – oder wer interniert wird. Dabei helfen die primitiven Kontroll-Einrichtungen des Ministeriums für Grenzschutz, z.B. zur Durchsuchung oder zur Fingerabdruck-Analyse.

Die Tage voller Entscheidungen über Menschen-Schicksale vergehen im Flug. Jeden Abend wird genau abgerechnet, wie viele Fehler man gemacht hat. Und in einer humorlosen Diktatur bedeutet jeder Verstoß natürlich Lohnabzug. Jeden Abend wird vorgerechnet, wie lange man noch heizen oder Medikamente für die Familie bezahlen kann. Wer versagt, fliegt. Wohin, das möchte man lieber nicht wissen. Richtig anstrengend wird es auch, weil mit jedem weiteren Tag die Vorschriften und Ausnahmeregelungen für die unterschiedlichen Landsleute immer komplizierter werden und die gnadenlose Bürokratie immer deutlicher ihre Zähne zeigt. Manche Fehler können dann auch direkt zu Terroranschlägen und vielen Toten führen. 

Das Gameplay (das Kontrollieren der Pässe) ist kurzweilig und schnell, das ungewöhnliche Artwork und das Sounddesign zwischen Bombast und Trash machen das Erlebnis stimmig. Das Spiel sieht aus, als wäre es im letzten Jahrhundert für den C64 entstanden. Lucas Pope kultiviert hier kunstvoll einen konsequenten 8bit Pixel Look, der mit Augenzwinkern den sozialistischen Realismus zitiert. Und das Wichtigste: Überraschenderweise macht es auch noch Spaß.

Während man in Papers, Please über den Entscheidungen brütet und dann auf den Lohnzettel starrt, ahnt man, dass allein schon das blanke Überleben in einer Diktatur nicht ganz ohne ist. Hat man darüber hinaus die Ambitionen, etwas Gutes zu tun oder sogar subversive Ideen im Kopf, dann muss man nicht nur schnell selbst dran glauben, sondern auch die eigenen Angehörigen. Wir lernen hier: Auch die fiesesten Kontrolleure sind echte Menschen. Mit Gefühlen, mit Familien, die ernährt werden und mit Wohnungen, die geheizt werden müssen. 

Dieses Umdrehen von Rollenklischees, dieses gezwungen werden, die Welt auch mal aus einer anderen Perspektive zu sehen, macht Papers, Please zu einer wertvollen und bleibenden Erfahrung.

Zum Trailer mit der stimmungsvollen Musik:


Mehr über den Game Design Einzelkämpfer Lucas hier.

© für die Bilder und alle Infos, wo und wie man Papers, Please – A Dystopian Document Thriller spielen kann, hier.

Der allgemeine Trend zur Verfilmung von Spielen greift auch hier. Papers, Please als dramatischer Kurzfilm:

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