Drinnen und draussen
Auch so richtet man eine Kultur zugrunde: Die Hauptstadtliteraten Michael Kumpfmüller und Dirk Kurbjuweit versuchen sich an staatstragenden Politkrimis. Das Ergebnis: Kuschelliteratur. Für Genrespielarten mit politischer Perspektive gibt es derzeit wohl nur eine Hoffnung: Irgendjemand muss Heinz Bude überzeugen, einen Kriminalroman zu schreiben. Ein Kommentar von Ulrich Noller.
Zum Beispiel der Mann im Baumarkt: kariertes Hemd, Cordhose, Bauchansatz, beginnende Glatze. Er ist Mitte 50, und seinem Gesicht sieht man an, dass er länger keine guten Zeiten mehr erlebt hat: Sorgenfalten haben sich eingegraben, ein fahler Schleier scheint über seiner Mimik zu liegen.
Der Mann, der gleich eine klasse Beratung in Sachen Akkuschrauber anbieten wird, ist ein Profi. Wenn auch einer von denen, die draußen sind. Früher war er Fach- oder Sachbearbeiter, heute führt er eine Freizeitexistenz, er wurde wegrationalisiert, freigesetzt, frühverrentet, aus dem Arbeitsleben entfernt. Und weil seine Frau längst abgehauen ist und die Kinder keine Zeit haben, verbringt er seine Tage eben im Baumarkt, wenn er sich nicht gerade bei der Arbeitsagentur von seiner 23-jährigen Fallbetreuerin erniedrigen lassen muss.
Die drinnen und die draußen
Eigentlich wäre der Mann eine spannende Figur für einen (Kriminal-)Roman: Als Verzweifelter, als Irrer, als Rächer (Westlake! The Axe!) oder einfach nur als einer, dessen Wege man verfolgt, um mehr über sein Leben herauszufinden. Allein, in der zeitgenössischen deutschen Literatur interessiert man sich nicht für Menschen wie ihn; ebenso wenig wie für Lidlverkäufer, McDonaldsbräter und sonstige Protagonisten aus dem Arbeiter-, Geringverdienenden- oder Hartz-IV-Milieu.
Stattdessen für Leitende Angestellte, Lehrer, Antiquare, hippe Mittdreißiger, Unternehmer, Wissenschaftler, Schriftsteller oder am besten gleich Politiker als oberste Repräsentanten des Systems – und somit des gesellschaftlichen Drinnenseins.
So wie in den aktuellen Romanen von Michael Kumpfmüller und Dirk Kurbjuweit. Interessanterweise versuchen in diesem Frühjahr beide zeitgleich, mit Hilfe von Erzählmustern der Kriminalliteratur, den Alltag und die Biographien von Politikern auszuloten.
Michael Kumpfmüller: Nachricht an alle
Michael Kumpfmüller lässt Nachricht an alle plakativ beginnen: Selden, der Innenminister eines nicht genau benannten europäischen Landes, erhält eine sms von seiner Tochter, die ihm aus einem abstürzenden Flugzeug heraus einen letzten Abschiedsgruß schickt. Kein Anschlag, sondern ein Unfall. Doch so oder so hat der Minister in der Folge kaum Zeit zu trauern: Sein Land schlittert in eine Krise; die Gewerkschaften meutern, Jugendliche rebellieren, die Vorstädte brennen …
Der Erzähler beobachtet Selden bei der Arbeit, wobei ein durchaus vielschichtiges Porträt des Politikers als Mann und Mensch entsteht. Angetrieben wird die Handlung jedoch von Thriller-Elementen: Ein zweiter Strang wird schließlich mit dem Hauptstrang zusammentreffen – bei einem Anschlag auf Selden.
Damit entstehen gleich zwei fundamentale Probleme: Die Grundregeln des Plottens werden erstens nur halbherzig beachtet, die Konstruktion, die eigentlich das A und O eines guten Thrillers darstellt, ist schlampig. So wird zum Beispiel der plakative Einstieg mit der sms aus dem abstürzenden Flugzeug und der toten Tochter des Ministers im Verlauf der Handlung schlicht nicht mehr aufgegriffen. Der Erzähler haftet zweitens über weite Strecken ganz nah dran an Selden, während die anderen Figuren, insbesondere die aus den „unteren Klassen“, Staffage bleiben. Ihre Existenz ergibt sich aus erzähltechnischer Notwendigkeit, nicht aus dem Interesse des Autors heraus. Ihm geht es zentral um den Typus eines Innenministers, eines Prototypen sozusagen, den er nicht nur porträtieren, sondern auch von seinem (in Deutschland) chronisch negativen Ruf als „Kryptofaschisten“ oder Hardliners befreien möchte.
Das Ergebnis ist zwar teilweise recht interessant, und sowieso hat jeder Autor das Recht zu schreiben, was und wie er will. Wer aber mit den Techniken der Kriminalliteratur operiert, muss sich an den Standards des Genres messen lassen, und da sieht Michael Kumpfmüller nicht gut aus. Kriminalliteratur ist nun mal per se zweifelnd, skeptisch, notfalls produktiv paranoid und subversiv. Nachricht an alle hingegen ist strukturell affirmativ und staatstragend.
„Sie sind ja doch wie mein Minister im Roman! Sie sind sehr abgeklärt, ruhig. Das ist genau meine Fantasie eines guten Innenministers!“, so der Autor in einem Gespräch in der Zeit kurz nach Veröffentlichung des Buches zu seinem Gegenüber Wolfgang Schäuble – allen Ernstes. Literatur als Marketing der Politik, mit der Haltung von Kriminalliteratur der Welt gegenüber hat das nichts zu tun.
Dirk Kurbjuweit: Nicht die ganze Wahrheit
Dabei, tief drinnen, sogar ganz tief drinnen findet man Dirk Kurbjuweit, der nur nebenbei literarische Geschichten schreibt, ansonsten aber als Leiter des Berliner Spiegel-Büros arbeitet. In seiner als „Roman“ deklarierten Erzählung Nicht die ganze Wahrheit bedient er sich ebenfalls aus dem Fundus der Kriminalliteratur, um von den Nebenschauplätzen, den Abgründen und Seitenwegen der jüngeren Politik zu erzählen. Der Detektiv Artur Koenen beschattet im Auftrag der Ehefrau eines hochrangigen Politikers eine junge, linke Abgeordnete und bricht in ihre Wohnung ein, um Details über das Liebesleben der Frau herauszufinden. Je mehr der Ermittler sich dem Gegenstand seiner Ermittlungen nähert, desto mehr wächst allerdings seine Irritation: Der liebestolle Parteivorsitzende privat … und vor allem diese junge Linke … und überhaupt die Liebe der beiden – all das fasziniert ihn zusehends, und bald dreht sich die Handlung, weil dem Detektiv das, was doch eigentlich beendet werden soll, als das einzig Bewahrenswerte erscheint. Muss bloß noch ein gutes Ende erfunden werden, aber da hat der Erzähler ja schon eine Idee.
Autor Kurbjuweit kennt das beschriebene Milieu natürlich nur allzu gut, und er ist einer, der weiß, wie er zu schreiben hat. Insofern ist Nicht die ganze Wahrheit eine blendend erzählte Geschichte, die auf ungewohnte Weise von den Nuancen und Schattenseiten der Politik erzählt.
Andererseits verhält es sich auch hier so, dass kriminalliterarischer Wille und genretypischer Stil letztlich nichts bedeuten. Der Detektiv funktioniert nur deshalb, weil er reines Erzählprinzip ist und als handelnde Person nicht sichtbar wird. Ein subversiver Ansatz ist bei dieser Erzählung nicht erkennbar, die Story wagt sich aus dem Reichstagsmilieu niemals wirklich hinaus, zum Beispiel in einen Baumarkt oder zu McDonalds – und ist deshalb letztlich kein Kriminalroman, sondern eine Liebesschmonzette auf Primetime-Niveau. So tickt sie, die Berliner Blase aus Medien und Politik in ihrem mittigen Drinnen, so eingesponnen und selbstreferentiell, dass sie die Existenz des großen Draußen vermutlich längst verdrängt und vergessen hat.
Heinz Bude: Die Ausgeschlossenen
Wer in Deutschland in diesen Tagen trotzdem etwas über den Mann aus dem Baumarkt, über die Verkäuferin im Discounter, über die Bräter beim Schnellimbiss und sonstige Modernisierungsverlierer erfahren möchte, die von ihren Fallmanagern und Bereichsleitern überwacht und drangsaliert werden, der wird weder im „Krimi“ noch in der Kriminalliteratur noch im Politkrimi fündig, sondern in der Wissenschaft.
Zum Beispiel in dem schmalen Buch Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft von Heinz Bude. Schon länger wird in der Soziologie die Theorie von der „social exclusion“ diskutiert, Heinz Bude bringt diese Diskussion in seinem Buch auf den Punkt, und zwar mit Hilfe genau beobachteter, gut recherchierter, treffend formulierter Alltagsrealität aus dem Draußen der Gesellschaft. Das Ergebnis liest sich, etwa wenn Bude die Lebensverhältnisse in den Ghettos des Prekariats skizziert, wie ein richtig gut geschriebener Kriminalroman.
Vielleicht sollte ja einmal – auf der Suche nach dem zeitgemäßen Politkrimi – ein Lektor mit Heinz Bude Kontakt aufnehmen. Der Soziologe könnte unseren Literaten etwa Seminare anbieten, in denen der Blick nach draußen geübt wird. Oder gleich selbst einen Politkrimi verfassen. Heinz Bude weiß, worauf es ankommt. Aber vermutlich möchte gerade deswegen sowieso keiner mit ihm sprechen.
Ulrich Noller
Michael Kumpfmüller: Nachricht an alle. Kiepenheuer & Witsch 2008. 384 Seiten. 19,95 Euro.
Dirk Kurbjuweit: Nicht die ganze Wahrheit. Nagel & Kimche 2008. 219 Seiten. 19,90 Euro.
Heinz Bude: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. Hanser 2006. 144 Seiten. 14,90 Euro.