Geschrieben am 14. April 2018 von für Crimemag, CrimeMag April 2018

Primärtext: Peter Temple „Wahrheit“

Temple_Wahrheit»Kein Müll verlässt das Grundstück. Diese Anweisung wollte ich schon immer mal erteilen.«

Das Motto des letzten Romans von Peter Temple erhält mit seinem zu frühen Tod – siehe unser Farewell nebenan in dieser CrimeMag-Ausgabe – nun eine neue Schicht. Seiner letzten großen Erzählung stellte er einen Satz von Rainer Maria Rilke voran:

»Aber weil Hiersein viel ist
und weil uns scheinbar alles das Hiesige braucht,
dieses Schwindende, das seltsam uns angeht.
Uns, die Schwindendsten.«

Mit freundlicher Genehmigung des C. Bertelsmann Verlags präsentieren wir Ihnen hier die ersten Seiten von Wahrheit (Truth, Melbourne 2009), 
 Deutsch von Hans M. Herzog, 2011.

Sie fuhren über die West Gate Bridge, hinter ihnen lag eine Wohnung in Altona, eine tote Frau, eigentlich noch ein Teenager, schmutzige, rot gefärbte Haare, ausgebleichte Tätowierungen, Stichverletzungen in Bauch, Brustkorb, Rücken, Gesicht, zu viele, um sie zu zählen. Dem Kind, männlich, zwei oder drei Jahre alt, hatte man den Kopf eingetreten. Überall war Blut. Auf dem Nylonteppich in Pfützen, eine Kette klebriger schwarzer Pfützen.
Villani betrachtete die Hochhäuser der City, zitternd, unbeständig in dem schwefligen Dunst. Er hätte nicht kommen sollen. Es war überflüssig. »Diese Klimaanlage ist im Arsch«, sagte er. »Die zweite diese Woche.«
»Immer wenn ich hier rüberfahre, muss ich dran denken«, sagte Birkerts.
»An was?«
»Mein Opa. War auf der Brücke.«
An einem Frühlingsmorgen im Jahr 1970 ragte es in den Himmel, das halb fertige Stahlgerippe der Brücke, auf dem es von Männern wimmelte, ledigen Männern, Männern mit Frauen, Männern mit Frauen und Kindern, Männern mit Kindern, die sie nicht kannten, Männern, die nichts hatten außer der Arbeit und einem schlimmen, schlimmen Kater, und dann stürzte das Brückenteil zwischen den Trägern 10 und 11 ein.
Einhundertundzwölf Meter, neu errichtet aus Stahl und Beton, zweitausend Tonnen schwer.
Männer und Maschinen, Werkzeuge, Lunchboxen, Toiletten, ganze Schuppen – sogar, wie jemand behauptete, ein schwarzes bellendes Hündchen –, alle fielen durch die Luft. In wenigen Momenten waren fünfunddreißig Männer tot oder lagen im Sterben, die Körper zerschmettert, eingesunken in den übel riechenden, grauen, verkrusteten Schlamm am Ufer des Yarra-Flusses. Überall war Diesel. Ein Feuer brach aus, und langsam stieg eine schmutzige Rauchfahne auf und markierte den Ort der Katastrophe.
»Tot?«, fragte Villani.
»Nein, er war gerade scheißen, ist mit dem Plumpsklo bis ganz nach unten gerutscht.«
»Sein Talent, durch die Scheiße zu rutschen, hat er jedenfalls weitervererbt«, stellte Villani fest und dachte an Singleton, der auch nicht die Hände von der Arbeit lassen, nicht im Büro bleiben konnte. Was man beim Leiter des Morddezernats nicht bewunderte.
Sie fuhren gerade von der Brücke ab, als Birkerts’ Handy klingelte; er hatte es auf Lautsprecher gestellt.
Finucanes tiefe Stimme:
»Chef. Chef, wegen Altona, wir sind jetzt im Haus von dem Bruder des Ehemanns in Maidstone. Er ist hier, der Göttergatte, in der Garage. Schlauch. Na ja, kein Gartenschlauch, so ’n schwarzes Plastikdings, ’ne Art Schwimmbeckenschlauch, verstehen Sie?«
»Ausgezeichnete Arbeit«, sagte Birkerts. »Er hätte inzwischen in Alice Springs sein können. Oder in Tennant Creek.« Finucane hustete. »Tja, also, vielleicht kann die Spurensicherung herkommen, Chef. Und der Wagen.«
»Regeln Sie das, Fin. Könnte auf Pizza hinauslaufen.«
»Ich sag meiner Frau, sie soll mit den Steaks warten.«
Birkerts beendete das Telefonat.
»Die Altona-Sache in einer Stunde abgeschlossen«, sagte er.
»Das ist ziemlich gut für die Aufklärungsrate.« Villani hatte Singo im Ohr:
Scheiß auf die Aufklärungsrate. Wichtig ist, dass man anständige Arbeit leistet.
peter temple truth Unknown
Joe Cashin hatte geglaubt, anständige Arbeit zu leisten, und man brauchte den Spreizer, um das unter dem eingestürzten Haus begrabene Auto zu öffnen. Diab war tot, Cashin atmete zwar, aber es war hoffnungslos, zu großer Blutverlust, zu viel gebrochen und gerissen.
Singleton verließ das Krankenhaus nur, um in seinem Wagen zu sitzen, dem alten Falcon. Er alterte selbst, graue Stoppeln sprossen, seine seidigen Haare wurden fettig. Als man ihm nach der Operation sagte, Joe habe eine kleine Chance, und ihn in das Zimmer ließ, nahm er Joes schlaffe Hand und küsste die Fingerknöchel. Dann stand er auf, strich Joes Haare glatt, bückte sich und küsste ihn auf die Stirn.
Finucane war dabei, er war Zeuge, und er erzählte Villani davon. Sie hatten nicht gewusst, dass Singleton zu solchen Gefühlen fähig war.
Als Cashin das nächste Mal aus dem Krankenhaus kam, das zweite Mal in drei Jahren, war er bleich wie ein entrindeter Baum. Singo war inzwischen tot, sein zweiter Schlaganfall, und Villani war kommissarischer Leiter des Morddezernats.
»Die Aufklärungsrate«, sagte Villani. »Dass du diesen Begriff verwendest, ist für mich eine herbe Enttäuschung.«
Sein Handy.
Gavan Kiely, seit zwei Monaten stellvertretender Leiter des Morddezernats.
»Wir haben eine Tote im Prosilio-Tower, das ist in den Docklands«, sagte er. »Paul Dove hat um Unterstützung gebeten.«
»Wieso?«
»Ist überfordert. Ich fliege später nach Auckland, könnte aber vorher hinfahren.«
»Nein«, sagte Villani. »Dieses Kreuz nehme ich auf mich.«

Er ging durch den Flur in das Schlafzimmer, ein Bett groß genug für vier Schläfer, Matratze und Kissen nackt, nicht bezogen. Die Forensik war hier fertig. Er hob ein Kissen mit den Fingerspitzen hoch, roch daran.
Kaum merklicher Parfümduft. Er sog den Duft tiefer ein.
Das zweite Kissen. Ein anderes Parfüm, etwas intensiver.
Er ging durch das leere Ankleidezimmer ins Bad, sah die gläserne Badewanne, neben der ein Bronzearm aus dem Boden aufragte, dessen Hand ein Stück Seife hielt.
Sie lag auf dem Plastiksack in einer Art Yoga-Ruhestellung – Beine leicht gespreizt, Handflächen nach oben, hellrote Zehennägel, lange Beine, schütteres Schamhaar. Die Schulter einer knienden Kriminaltechnikerin aus der Forensik verdeckte Villani die Sicht. Er trat einen Schritt beiseite, sah das Gesicht der Toten und wich zurück. Einen schrecklichen Augenblick lang, in dem ihm das Herz bis zum Hals schlug, dachte er, es sei Lizzie, so groß war die Ähnlichkeit.
Er drehte sich zu der Glaswand um, atmete aus, sein Herzschlag beruhigte sich. Vor ihm lag die triste graue Bucht, und zwischen den Köpfen tauchte ein Stecknadelkopf auf, ein Containerschiff. Nach und nach zeigte es seinen massigen Rumpf, eine riesige, schlingernde, flache, stählerne Nacktschnecke, die Rost, Öl und stinkende Abwasser ausblutete. »Alarmknopf«, sagte Dove. Er trug einen marineblauen Anzug, ein weißes Hemd und einen dunklen Schlips, ein Neurochirurg auf Visite.
Villani sah hin: Gummi, mit Grübchen wie ein Golfball, zwischen Dusche und Kopfende der Wanne in die Wand eingelassen.
»Schicke Dusche«, sagte Dove.
Über einem perforierten metallenen Rechteck hing eine Scheibe aus rostfreiem Edelstahl. Auf einem gläsernen Regalbrett lagen ein Dutzend oder mehr Seifenstücke wie zum Verkauf.
Die Technikerin sagte: »Genickbruch. Die Wanne ist leer, aber die Frau ist feucht.«
Sie war neu, Kanadierin, eine burschikose junge Frau, ungeschminkt, sonnengebräunt, Bürstenhaarschnitt.
»Wie bricht man sich im Bad das Genick?«, fragte Villani.
»Das schafft man allein kaum. Ein Genick zu brechen ist nicht leicht.«
»Echt?«
Sie hörte seinen Unterton nicht. »Aber ja. Da muss man Kraft aufwenden.«
»Was noch?«, fragte Villani.
»Nichts, was mir spontan auffällt.«
»Todeszeitpunkt? Begründete Schätzung.«
»Keine vierundzwanzig Stunden, oder ich muss zurück auf die Uni.«
»Die freuen sich bestimmt, Sie wiederzusehen. Haben Sie die Wassertemperatur berücksichtigt?«
»Was?«
Villani streckte den Zeigefinger aus. Der kleine digitale Touchscreen an der Tür stand auf achtundvierzig Grad.
»Hab ich nicht gesehen«, gab sie zu. »Hätte ich aber noch. Zu gegebener Zeit.«
»Zweifellos.«
Ein leichtes Lächeln. »In Ordnung, Lance«, sagte sie. »Mach den Reißverschluss zu.«
Lance war ein hagerer Mann mit Kinnbart. Er versuchte, den Reißverschluss des Leichensacks zu schließen, der unterhalb der Brüste klemmte. Lance ruckte den Schieber hin und her, bekam ihn frei, hüllte die Tote in Plastik.
Nicht unsanft hoben sie den Sack auf die Fahrtrage.
Als sie weg waren, traten Dove und Weber zu ihm.
»Wem gehört das hier?«, fragte Villani.
»Sie finden es gerade heraus«, sagte Dove. »Anscheinend ist es kompliziert.«
»Sie?«
»Die Verwaltung. Die Leute warten unten auf uns.«
»Soll ich das übernehmen?«, sagte Villani.
Dove fasste sich an den Wangenknochen, bekümmert. »Das wäre hilfreich, Chef.«
»Möchten Sie es machen, Web?«, fragte Villani, um Dove zu ärgern.
Weber war Mitte dreißig, sah aus wie zwanzig, ein lediger, bibeltreuer Christ. Er hatte auf dem Land jede Menge Erfahrungen gesammelt: Mütter, die Kleinkinder ertränkten, Söhne, die ihre Mütter mit der Axt erschlugen, ledige Väter mit Umgangsrecht, die ihre Kinder verschwinden ließen. Doch alttestamentarische Morde im ländlichen Wohlfahrtssumpf waren keine Vorbereitung auf tote Frauen, die in Wohnungen mit privaten Aufzügen, gläsernen Badewannen, französischen Seifen und drei Flaschen Moët herumlagen.
»Nein, Chef«, sagte Weber.
Sie gingen auf dem Plastikstreifen entlang, durch die kleine, matt marmorne Diele der Wohnung, durch die Vordertür in einen Flur. Sie warteten auf den Fahrstuhl.
»Wie heißt sie?«, fragte Villani.
»Sie wissen es nicht«, sagte Dove. »Die wissen nichts über sie. Es wurde kein Ausweis gefunden.«
»Nachbarn?«
»Gibt keine. Sechs Wohnungen auf dieser Etage, alle leer.«
Der Aufzug kam, sie fielen dreißig Stockwerke tief. Im sechsten warteten an einem Schreibtisch drei Anzugträger, zwei Männer und eine Frau. Der dickliche Mittfünfziger trat vor, strich welke Haare zurück.
»Alex Manton, Gebäudemanager.«
Dove sagte: »Das ist Inspector Villani, Leiter des Morddezernats.«
Manton streckte die Hand aus. Sie fühlte sich trocken an, kreidig.
»Wir sollten im Besprechungsraum reden, Inspector«, sagte Manton.
In dem Raum hing ein diffus meermäßig anmutendes, mindestens fünf mal drei Meter großes Gemälde an der Wand, blaugraue, möglicherweise mit einem Mopp aufgetragene Schlieren. Sie nahmen an einem langen Tisch mit Beinen aus verchromtem Rohr Platz.
»Wem gehört das Apartment?«, fragte Villani.
»Einer Firma namens Shollonel Pty. Ltd., Firmensitz im Libanon«, sagte Menton. »Unseres Wissens ist es nicht bewohnt.«
»Sie sind sich nicht sicher?«
»Nun, so etwas zu wissen, ist keine Selbstverständlichkeit. Leute kaufen Wohnungen, um darin zu wohnen, als Geldanlage, für spätere Nutzung. Manche wohnen da überhaupt nicht, andere für kurze oder lange Zeiträume. Wir bitten die Leute, sich anzumelden, wenn sie hier wohnhaft sind. Aber man kann sie nicht zwingen.«
»Wie wurde sie gefunden?«, fragte Villani.
»Sylvia«, sagte Manton. »Unsere Chefconcierge, Sylvia Allegro.«
Die Frau, ein Puppengesicht. »Die Wohnungstür war nicht ganz geschlossen«, sagte sie. »Das Schloss schnappte nicht ein. Dadurch wird in der Wohnung ein Alarmton ausgelöst. Wenn man die Tür nicht innerhalb von zwei Minuten schließt, wird die Security alarmiert, die in der Wohnung anruft. Falls das zu nichts führt, fahren Sicherheitsleute nach oben.«
»Die binnen vier, fünf Minuten eintreffen?«, sagte Villani.
Sylvia sah Manton an, der den anderen Mann ansah, Mittvierziger, ein Kopf wie die Eichel eines Penis.
»Wohl nicht ganz«, sagte der Mann.
»Und Sie sind?«, fragte Villani.
»David Condy, Securitychef für Apartments und Hotel.«
Er war Engländer.
»Was heißt ›nicht ganz‹?«
»Wie man mir sagte, hat die gesamte Elektronik gestern Abend bei ihrer ersten großen Generalprobe versagt. Bei der Eröffnung des Kasinos. Orion. Vierhundert Gäste.«
»Zur offenen Tür. Gibt Ihnen das elektronische System den Zeitpunkt an?«
»Im Prinzip ja. Aber da das …«
»Also nein?«
»Ja. Nein.«
»Da oben gibt es Alarmknöpfe.«
»In allen Wohnungen.«
»Die nicht betätigt wurden?«
Condy schob sich einen Finger unter den Hemdkragen. »Dafür gibt es kein Indiz.«
»Sie wissen es nicht?«
»Es ist schwer zu sagen. Wegen des Systemversagens haben wir keine Aufzeichnungen.«
»Dann ist es nicht schwer«, sagte Villani, »sondern unmöglich.«
Manton hob eine Patschehand. »Ein Wort zu den Gründen, Inspector, es war eine umfassende IT-Fehlfunktion. Da sie mit dieser Angelegenheit zeitlich zusammenfällt, stehen wir ein wenig blöd da.«
Villani sah die Frau an. »Das Bett wurde abgezogen. Wie könnte man sich der Laken und so weiter entledigen?«
»Entledigen?«
»Sie loswerden.«
Die Frau warf einen kurzen Blick auf Manton. »Nun, der Müllschlucker, nehme ich an«, sagte sie.
»Lässt sich feststellen, woher der Müll gekommen ist?«
»Nein.«
»Erklären Sie mir dieses Gebäude, Mr. Manton. Ein Überblick genügt.«
Mantons rechte Hand konsultierte seine Haare. »Wenn man oben beginnt, vier Etagen mit Penthouses. Dann kommen sechs Etagen mit vier Wohnungen pro Stockwerk. Darunter liegen vierzehn Etagen mit Apartments, sechs pro Stock. Es folgen die drei Freizeitetagen, Swimmingpools, Fitnessräume, Wellnesseinrichtungen und dergleichen. Anschließend noch zwölf Etagen mit Apartments, acht pro Stockwerk. Dann die vier Kasinoetagen, das zehnstöckige Hotel sowie zwei Stockwerke für Catering und Housekeeping. Und diese drei Etagen hier mit Empfangsbereichen, sprich Concierge, Verwaltung und Security. Das Kasino hat seine eigene Security, doch deren Systeme sind mit denen des Gebäudes verzahnt.«
»Oder auch nicht.« Villani zeigte nach unten.
»Unter uns liegen die Geschäftsetagen, Einzelhandel, Bewirtung, das Einkaufszentrum im Erdgeschoss. Fünf unterirdische Ebenen mit Parkmöglichkeiten und Haustechnik.«
Die Tür, die in Villanis Blickfeld lag, ging auf. Ein Mann trat ein, gefolgt von einer Frau, gleiche Größe, Anzüge, weiße Hemden.
»Wir platzen hier einfach mal rein«, sagte der Mann laut. »Machen Sie uns bitte miteinander bekannt, Alex.«
Manton stand auf. »Inspector Villani, das ist Guy Ulyatt von der Marscay Corporation.«
Ulyatt war dick und rosa, gelbseidige Haare, Knollennase. »Ist mir ein Vergnügen, Inspector«, sagte er. Er bot ihm nicht die Hand, setzte sich. Die Frau nahm neben ihm Platz.
Villani sagte zu Manton: »Hat diese Person uns etwas mitzuteilen?«
»Verzeihung, Verzeihung«, sagte Ulyatt. »Ich bin Leiter der Abteilung Firmenangelegenheiten von Marscay.«
»Haben Sie uns etwas mitzuteilen?«, fragte Villani.
»Ich sorge dafür, dass Sie die größtmögliche Unterstützung erhalten. Was natürlich keine Kritik an Alex beinhaltet.«
»Mr. Manton hilft uns«, sagte Villani. »Falls Sie nichts beizutragen haben – danke sehr und adieu.«
»Wie bitte?«, sagte Ulyatt. »Ich vertrete die Eigentümer dieses Gebäudes.«
In dem großen Raum wurde es still. Villani sah Dove an. Er wollte, dass der etwas daraus lernte. Dove hielt dem Blick stand, doch was er lernte, blieb unklar.
»Uns. Gehört. Das. Gebäude«, sagte Ulyatt, jedes Wort einzeln betont.
»Was hab ich damit zu tun?«, fragte Villani.
»Wir möchten mit Ihnen zusammenarbeiten. Die Auswirkungen auf Prosilio und seine Bewohner minimieren.«
»Morddezernat, Mr. Elliot«, sagte Villani. »Wir sind vom Morddezernat.«
»Ich heiße Ulyatt.« Er buchstabierte.
»Ja«, sagte Villani. »Vielleicht unterhalten Sie sich mit einer anderen Sektion meiner Behörde. Der Abteilung zur Minimierung von Auswirkungen. Wenn es eine gäbe, würde ich es bestimmt als Letzter erfahren.«
Ulyatt lächelte, ein leutseliger Fisch, ein Zackenbarsch. »Warum beruhigen wir uns nicht und klären das? Julie?«
Die Frau lächelte. Sie hatte rabenschwarze Haare, hatte unter dem Messer gelegen, kannte die Nadel, die Hautabschleifung durch Dermabrasion, war gründlich poliert bis runter zu den Reifen wie ein Mercedes aus zweiter Hand.
»Julie Sorenson, die Leiterin unserer Medienabteilung«, sagte Ulyatt.
»Hi«, sagte sie, zeigte vanilleweiße Zähne, Augen wie die eines toten Hirschs. »Stephen, nicht wahr?«
»Hi und bye-bye«, sagte Villani. »Das gilt auch für Sie, Mr. Elliot. War mir ein Vergnügen, aber wir sind hier sehr beschäftigt. Es geht um eine Tote.«
Ulyatt schaute nicht mehr wie ein Fisch. »Es heißt Ulyatt. Ich versuche hier zu helfen, Inspector, und stoße auf Feindseligkeit. Wie kommt das?«
»Wir brauchen Folgendes, Mr. Manton«, sagte Villani.
»Fertig?«
»Sylvia?«, sagte Manton.
Sie hielt ihren Stift bereit.
»Alle Bänder der Videoüberwachung seit gestern fünfzehn Uhr, sämtliche Aufzüge, Parkdecks«, sagte Villani. »Dazu die Dienstpläne, außerdem Informationen über das gesamte Kommen und Gehen, Autos, Menschen, Lieferanten, Händ- ler, einfach alles.«
Ulyatt pfiff. »Ziemlich starker Tobak«, sagte er. »Da brauchen wir viel mehr Zeit.«
»Haben Sie das notiert?«, sagte Villani zu Sylvia Allegro.
»Ja.«
»Außerdem die Lebensläufe und Dienstpläne sämtlicher Mitarbeiter, die Zugang zum sechsunddreißigsten Stock haben oder anderen Personen Zugang gewähren können. Und eine Liste der Eigentümer auf dieser Etage sowie der anderen Etagen mit Zugang zu dieser Etage. Dazu die Gästeliste der Kasinoeröffnung.«
»Die haben wir nicht«, sagte Ulyatt. »Das ist Orions Angelegenheit.«
»Die Kasinoeröffnung fand in Ihrem Gebäude statt«, sagte Villani. »Ich schlage vor, Sie besorgen sich die Liste. Wenn Orion nicht kooperieren will, lassen Sie es Inspector Dove wissen.«
Ulyatt schüttelte den Kopf.
»Wir zeigen das Opfer heute Abend im Fernsehen und bitten um Informationen«, sagte Villani.
»Ich verstehe nicht, warum das zu diesem Zeitpunkt nötig sein sollte«, sagte Ulyatt.
Villani sah ihn zunächst nicht an, sondern schaute Dove, Weber, Manton und Allegro in die Augen, ließ nur Condy aus, der wegsah. Dann fixierte er Ulyatt. »All diese Reichen zahlen für das Sicherheits-Komplettpaket, den Alarmknopf, die Kameras«, sagte er. »In Ihrem Gebäude wird eine Frau ermordet, und Sie legen mir Steine in den Weg?«
»Die Frau wurde tot aufgefunden«, sagte Ulyatt. »Für mich steht nicht fest, dass sie ermordet wurde. Und ich sehe keinen Grund, warum Sie das Fernsehen involvieren sollten, ehe Sie die Informationen überprüft haben, die Sie anfordern. Und die wir schnellstmöglich beschaffen werden, das kann ich Ihnen versichern.«
»Ich brauche mir nicht sagen zu lassen, wie ich Ermitlungen durchführe«, sagte Villani. »Und ich will es mir auch nicht sagen lassen.«
»Ich bemühe mich zu helfen. Ich kann es auch weiter oben in der Nahrungskette versuchen«, sagte Ulyatt.
»Was?«
»Mit Regierungspolitikern sprechen.«
Villani war seit halb fünf wach und spürte den langen Tag in den Knochen, war wie erloschen. »Sie wollen mit Regierungspolitikern sprechen«, sagte er.
Ulyatt bleckte die Zähne. »Natürlich nur als letztes Mittel.«
»Dann greifen Sie zu Ihrem Mittel, Mann«, sagte Villani, dessen Brenner dank der Zündflamme seines Zorns wieder auf Touren kam. »Sie haben es hier mit dem untersten Ende der Nahrungskette zu tun, jetzt geht’s nur noch aufwärts.«
»Ich werde auf jeden Fall unsere Ansicht vorbringen«, sagte Ulyatt, sah ihn lange und missmutig an, stand auf, die Frau stand auch auf. Er machte auf seinen schwarzen Schuhen kehrt, die Frau auch, beide trugen schmale schwarze Schuhe, beide hatten schlaffe Hintern, einer breit, der andere schmal, die Schönheitsoperationen hatten sich nicht auf ihren Arsch erstreckt. Im Gehen zog Ulyatt sein Handy hervor.
»Kein Müll verlässt das Grundstück, Mr. Manton«, sagte Villani. »Diese Anweisung wollte ich schon immer mal erteilen.« …

Auszug aus: 
Peter Temple:
Wahrheit (Truth, Melbourne 2009). 
 Deutsch von Hans M. Herzog. C. Bertelsmann Verlag, München 2011. – Mit freundlicher Erlaubnis des Verlages.

Die CrimeMag-Besprechung aus 2011 von Thomas Wörtche finden Sie hier.

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