„Ich bin nicht in alte Zeiten verliebt“
Robert Hültner, 1950 in Inzell geboren, wurde für seine, in den 20er Jahren spielenden Kriminalromane um den sturköpfigen Inspektor Kajetan schon mehrfach ausgezeichnet. Mit Inspektor Kajetan kehrt zurück ist gerade der fünfte Band der Reihe erschienen. Es sind genau recherchierte und präzise erzählte Geschichten, für die sich der Autor Zeit nimmt. Der erste Band Walching erschien 1993, der bisher letzte Inspektor Kajetan und die Betrüger 2004. Grund genug für ein Gespräch. Von Frank Rumpel
Frank Rumpel: Herr Hültner, Kajetan ist zurück, nachdem er sich im vorangegangenen Roman Inspektor Kajetan und die Betrüger einen eleganten Abgang verschafft hatte. Das las sich wie ein Schlusspunkt. Jetzt ist er wieder da im Jahr 1928. Was gab den Ausschlag dafür, ihn zurückzuholen oder stand das gar nie in Frage?
Robert Hültner: Das stand nie in Frage, weshalb ich Kajetans Abschied im vorhergehenden Roman auch absichtlich vage gehalten habe. Kajetan ist ja auch immer so etwas wie die Perlenschnur, an der ich Geschichten und Dramen aus dieser Zeit aufreihe. Von diesen gibt es noch viele, von denen zu erzählen ist. Natürlich kommt auch hinzu, dass ich aus Leserschaft und Buchhandel immer wieder nach „neuen Kajetans“ angefragt werde. Das motiviert natürlich zusätzlich. Ich habe lediglich das Problem, dass diese Romane immer zeitaufwendige Recherchen erfordern und ich zudem ein relativ langsamer Schreiber bin, so dass ein neuer Kajetan-Roman immer seine Zeit braucht.
F. Rumpel: Nun war Kajetan zunächst ehrgeiziger Inspektor, wurde erst versetzt, dann unehrenhaft entlassen, versuchte sich als Angestellter einer Filmkopieranstalt und als Privatdetektiv über Wasser zu halten. Im neuen Roman ist er nur noch ein Gejagter, der ums Überleben kämpft und sich über die grüne Grenze nach Österreich absetzen will. Wie würden Sie ihn denn charakterisieren, den Kajetan?
R. Hültner: Er ist ein sinnenfroher Vernünftler, ein warmherziger Utilitarist münchnerisch-proletarischer Prägung, ein im besten Sinne „Gerader“, der – auch wenn er nie imstande wäre, dies wortreich zu postulieren – eine sehr präzise, erdige und lebenszugewandte Moral lebt. Was er will und für rechtens hält, ist ihm derart selbstverständlich, dass er es nicht wie eine Fahne vor sich her tragen muss. Sich nicht verbiegen zu lassen, ist jedoch nicht bewusste Entscheidung. Er wäre dazu auch unfähig, er ist da zu wenig flexibel, schon gar nicht fehlerlos und pflegt durchaus auch gern ein gewisses Phlegma. Was sich in seinem Umfeld zu entwickeln beginnt, wird ihm jedoch von Roman zu Roman widerwärtiger. Vor allem, weil er spürt, dass etwa der aufkommende Faschismus mit seinen, Kajetans, Maßgaben, wie ein Leben zu führen ist, nicht mehr in Deckung zu bringen ist. Er verliert zunehmend die Fähigkeit, seine Gegner zu verstehen. Das beginnt ihn zu verwirren, zu ermüden. Doch noch immer keimt in ihm die Hoffnung, dass sich die Dinge zum Guten wenden. Das hält ihn aufrecht, und noch hat er seinen verschmitzten Humor nicht ganz verloren. Aber bei diesem neuen Roman gehts an Grenzen, im konkreten wie im übertragenen Sinne.
F. Rumpel: Im neuen Roman treffen ja, verkürzt gesagt, dörfliche Lebensstrukturen und aus München gesteuerte Polit-Intrigen zusammen und ergeben eine brisante Mischung. Mittendrin ist ein Kajetan nicht unähnlicher Inspektor namens Glaser, der deutliche Zweifel am System hat und doch Rädchen im Getriebe ist. Wann war Ihnen klar, dass diese Geschichte einen solchen Ermittler braucht?
R. Hültner: Da treffen Sie einen wichtigen Punkt, der mir zu Beginn einiges Kopfzerbrechen bereitet hat. Nachdem festgelegt war, dass ich in diesem Roman von Kajetans Flucht erzähle, war sofort klar, dass ich damit einen defensiven Akteur haben werde. Das Schicksal und die Psyche eines Mannes, der sich zum Exil gezwungen sieht, war ernst zu nehmen. Sein Lebensumfeld verlassen zu müssen, ist eine tiefgreifende, verstörende Erfahrung; wer sich mit damit auseindersetzten muss, hat andere Sorgen als die, sich auch noch um Ermittlungen in einem Mordfall zu kümmern. Seine Energie ist davon okkupiert, mit der Bedrohung seines Lebens, seinen Zukunftsängsten und Selbstzweifeln fertig zu werden. Als Motor für eine spannende Ermittlung musste Kajetan also zunächst ausfallen, und diesen Part übernahm der raubeinige Kripo-Beamte vom Land, der wiederum Kajetan geradezu erpresst, sich in Ermittlungen einzuschalten. Und: Richtig ist, dass beide einiges gemeinsam haben – was, will ich hier aber nicht verraten.
F. Rumpel: Jetzt braucht zwar eine Gschicht net wahr zu sein, bloß schön, wie Sie mal als Motto einem Ihrer Romane vorangestellt haben. Die Fälle, die Sie literarisch verarbeiten, fußen aber, auch im neuen Roman, auf wahren Begebenheiten. Das klingt, Sie haben es schon angedeutet, nach steten Recherchen, die sich immer wieder zu Geschichten verdichten, einen Punkt erreichen, an dem Sie als Autor sagen: Jetzt reichts, jetzt überlege ich mir, wie die Gschicht schön wird. Ist das so?
R. Hültner: Ja, der Prozess ist damit ziemlich genau beschrieben. Ich sammle zunächst ungeordnet Geschichten, höre Menschen zu, die mir aus dieser Zeit berichten, lese Briefe, Tagebücher. Vieles legt sich für lange Zeit ungeordnet in meinem Gedächtnis oder im Zettelkasten ab, bis sich dann doch irgendwann dramaturgische Zusammenhänge herausbilden – ein fast organischer Prozess, bei dem ich nichts forcieren muss und will. Ist es dann aber soweit, dann beginne ich gezielt mit klassischer Recherche, um den jeweiligen Fall faktisch einbetten zu können. Zur Maßgabe, dass „eine Geschichte schön sein“ muss, nur diese Anmerkung: „Schön“ bedeutet natürlich nicht „lieblich“ oder gar „harmonisierend“. „Schön“ ist sie, wenn sie Wesentliches der menschlichen Existenz zum Thema hat, wenn sie berührt. Das kann dann durchaus auch „unschönes“ beinhalten, da das Leben nun einmal so ist.
F. Rumpel: Der neue Roman spielt im oberbayrischen Zellach, das zum Bezirk Dornstein gehört, beides fiktive Orte. Ist es den wahren Fällen geschuldet, dass Sie für Ihre Geschichten Orte erfinden?
R. Hültner: Richtig. Auch wenn viele meiner Fälle schon Generationen zurückliegen, sind sie – gerade auf dem Land – noch immer auf irgendeine Weise präsent. Manche Konflikte und sozialen Risse schlafen nur. Da ich nicht einschätzen kann, was es etwa für den Nachkommen eines Täters bedeutet, wenn eine Geschichte aus seiner Familie wieder ausgegraben wird, bin ich da vorsichtig. Hinzu kommt, dass ich natürlich freier bin, wenn ich fiktive Schauplätze wähle. So wird aus einem historischen Dokument eine Parabel für das Heute. Das ist mir wichtig. Ich bin nicht in alte Zeiten verliebt, schon gar kein Idylliker, sondern nur immer wieder verblüfft, wie stark unser heutiges Leben mit der Vergangenheit verknüpft ist.
F. Rumpel: Sie leben in München und in einem Dorf in den Cevennen. Inwieweit schlägt sich so ein Perspektivwechsel, räumlicher und sprachlicher Abstand denn auf Ihr Schreiben nieder?
R. Hültner: Interessanterweise kann ich in Südfrankreich kaum Prosa schreiben. Die tägliche Wahrnehmung einer anderen Sprache, einer anderen Grammatik, einer anderen ästhetischen und mentalen Ökonomie, all das irritiert mein „deutsches“ Sprachgefühl so stark, dass ich fast jeden Text, den ich dort schreibe, nach meiner Rückkehr wieder umarbeiten muss. Was dafür Lyrik betrifft, so ist es genau umgekehrt – da ist diese Irritation bereichernd; wenn ich dagegen in München im Jahr zwei passable Gedichte zustande bringe, ist es viel. Insgesamt aber wird es wohl doch so sein, dass unbewusst Elemente des romanischen Sprachgebrauchs in meine Prosa einfließen, indem ich beispielsweise etwas mutiger mit Bildhaftigkeit umgehe – und dann darüber erstaunt bin, wie sich dies dann doch wieder mit meinem süddeutschen Wurzeln berührt. Immerhin waren die Römer hier länger als in Frankreich, in Britannien, in Spanien …
Was den Perspektiv-Wechsel betrifft, so ist er weniger bedeutend: Die Menschen haben, einige kulturelle Ungleichzeitigkeiten ausgenommnen, alle die gleichen Bedürfnisse und Handlungsmotive. Die Unmöglichkeit des Verstehens hat außerdem nichts mit nationalen Grenzen zu tun. Der Riss ist da, wo sich Lebensbedingungen unterscheiden. Ich bin sicher, dass sich ein bayerischer Bauer und ein Bauer aus dem Languedoc spontan besser verstehen würden, als es beiden mit Angehörigen der Oberschicht ihrer jeweiligen Länder je möglich wäre.
F. Rumpel: Die 20er Jahre sind bei Ihnen sehr lebendig. Sie beschreiben die politischen wie gesellschaftlichen Zeitumstände präzise und glaubhaft. Was macht für Sie als Erzähler diese Jahre so interessant?
R. Hültner: Es ist die Zeit, in der die Weichen dafür gestellt wurden, was im 20. Jahrhundert an Katastrophen, aber auch an Aufbrüchen geschah. Und ein einziges Lehrbuch dafür, worauf bei der Analyse heutiger Konflikte zu achten ist. Und sie ist vor allem eine Schatztruhe von individuellen und sozialen Dramen, die noch nicht erzählt worden sind und die unser Bild dieser Zeit erweitern und die Geschehnisse damals und heute verständlicher machen können.
F. Rumpel: Sie haben mal gesagt, Sie seien stark von mündlichen Erzähltraditionen geprägt. Inwieweit schlagen sich die in Ihren Romanen nieder?
R. Hültner: Sicherlich einmal darin, für welche Themen und dramatische Konstellationen ich mich überhaupt interessiere, auf welche Konflikte und welchen Teil unserer Gesellschaft ich meinen Fokus richte und welchen Standpunkt ich dabei einnehme. Es ist kein städtisch-bürgerlich herablassender, aber auch kein idyllisierender Standpunkt, mit dem ich beispielsweise Altmünchner Vorstadtkonflikte oder ländliche Tragödien beschreibe. Hinzukommt, dass es sich beim mündlichen Erzählen um eine unglaublich reiche Kulturtechnik handelt, in der sich die barocke Lust am Kontrast findet, auch die Tendenz zu Tragikomik und Ironie, auch ein schönes, unverstelltes Unterhalten-Wollen, daneben ein fast unerschöpfliches Repertoire an Formen, die auf nur scheinbar chaotische Weise innerhalb eines Vortrags wechseln. Was man da zu hören bekommt, ist schon manchmal richtiger „Jazz“, streift die Avantgarde. Und was vielleicht das Entscheidende ist: Für mich ist aufgrund dieser Tradition das Schreiben immer ein Akt der Kommunikation, des sich Vermittelns, oder, wenn Sie so wollen, der gemeinsamen Produktion von Erfahrung. Von daher ist es auch überhaupt kein sidestep, dass ich in den letzten Jahren auch viel fürs Theater geschrieben habe.
F. Rumpel: Im Roman Die Godin gibt es eine Szene, in der Kajetan in einer Filmkopierfirma arbeitet. Sie selbst waren jahrelang mit einem Wanderkino in kinolosen Dörfern unterwegs, haben historische Filme restauriert, selbst als Regisseur und Dramaturg gearbeitet, Theaterstücke und Drehbücher für den Tatort geschrieben. Welche Erfahrungen haben Sie von diesen Arbeitsfeldern an den Schreibtisch mitgenommen?
R. Hültner: Bei meinen Wanderkino-Tourneen habe ich Entscheidendes darüber gelernt, welche Bedeutung die Dramaturgie einer Erzählung hat. Das waren ganz sinnliche Erfahrungen – wenn man einen Film zehn- oder zwanzigmal vorführt und dabei mitbekommt, dass die Zuschauer immer an der selben Stelle gebannt schweigen, an einer anderen unruhig werden, lachen, manchmal vor Ergriffenheit nach dem Taschentuch greifen, dann fängt man an zu überlegen, wie dies gelingen konnte. Ich habe dabei übrigens nicht nur „ambitionierte“ Filme gezeigt, sondern auch viele, gute kommerzielle Filme. Wie präzise etwa amerikanische Filmerzähler ihre Geschichten „bauen“, hat mich beeindruckt, aber auch nicht weniger die Metaphorik etwa von Fellini oder Emir Kusturica. Beim Drehbuchschreiben trainiert man die Reduktion und die Konzentration auf das Notwendige, aber auch die Bedeutung der jeweiligen Szenik, die ja gerade für meine Romane wichtig sind.
F. Rumpel: Wie weit bestimmen ihre Stoffe die Form? Oder anders gefragt: Welche Rolle spielt für Sie der Kriminalroman?
R. Hültner: Es ist zunächst der jeweilige Stoff, der mich berührt, weil er – neben seiner Unterhaltungsqualität – eine substanzielle Aussage zu unserem Leben und unserer Gegenwart erzeugt. Das sind oft tragische Stoffe, die die klassische Dramenform nahelegen, also in der Form eines Kriminalromans am besten zu erzählen sind. Was mir ebenfalls entgegenkommt ist, dass ich beim Krimi-Schreiben immer mein Publikum vor Augen habe, ich spiele mit seinen Erwartungen, muss genau überlegen, wann ich welche Information platziere, wo ich überrasche, wo ich Spannung ab- oder wieder aufbauen muss. Der Leser oder die Leserin sitzt also immer auf der Schreibtischkante. Ich fühle mich beim Schreiben nie einsam.
F. Rumpel: Vielen Dank für das Gespräch.
Frank Rumpel
Robert Hültner: Inspektor Kajetan kehrt zurück. Roman.
München: Btb 2009. 285 Seiten. 17,95 Euro.