Geschrieben am 1. Juli 2021 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2021

Robert Lorenz über „Midnight Express“ (1978)

Heutzutage müsste Sir Alan Parker vermutlich die ihm von Queen Elizabeth II. verliehene Ritterwürde zurückgeben, machte er solch einen Film. 1979 war er sechs Oscar-Nominierungen wert (u.a. für Beste Regie und als Bester Film), gewann zwei Oscars – für Musik: Giorgio Moroder, und für die beste Drehbuch-Adaption: Oliver Stone; es war dessen Eintrittskarte nach Hollywood.

Der kontroverse „Midnight Express“ ist ein autobiografisch düsterer Trip entlang der Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion. Robert Lorenz hat sich ihn wieder angeschaut.

Midnight Express – 12 Uhr nachts
USA/ GB 1978 – R: Alan Parker; B: Oliver Stone, nach dem autobiographischen Buch „Midnight Express“ von Billy Hayes; K: Michael Seresin; Musik: Giorgio Moroder; mit: Brad Davis, Irene Miracle, Bo Hopkins, Randy Quid, Norbert Weisser, John Hurt. L: 121 Min. FSK: ab 16 (früher ab 18).

Sie werden mehr, die Schweißperlen auf seiner Stirn. Langsam rinnen sie ihm ins Gesicht, in steter Drohung, sein Geheimnis preiszugeben. Billy Hayes (Brad Davis), ein Amerikaner Ende zwanzig, ist in diesem Moment an der Ausweiskontrolle der türkischen Flug­hafensicherung nicht ansatzweise so cool wie die Sonnenbrille, die seinen nervösen Blick verdeckt. Ein Frisbee rettet ihn; denn darüber amüsieren sich die Kontrolleure, die in Alufolie verpackten Haschisch­portionen unter seiner Kleidung bemerken sie nicht. Weiter geht es zum Flughafen, aber Hayes hat kein Glück mehr – jetzt nicht und auch nicht in den darauffolgenden Jahren.

Die türkische Polizei durchsucht ihn, findet die Drogen, immerhin zwei Kilo, inhaftiert ihn. Als er einen Fluchtversuch unternimmt, stehen die Zeichen noch schlechter; der Amerikaner wird verurteilt und interniert. Zwar reist sein Vater (Mike Kellin) aus den USA an, engagiert einen Anwalt, kontaktiert das State Departement, doch seinen Sohn kann er nicht aus der Gewalt der türkischen Justiz lösen. Die Vereinigten Staaten der Nixon-Ad­ministration haben hier keinen guten Stand, niemand lässt sich von den Drohungen des verzweifelten Amerikaners, der seinen unglückseligen Sohn heimholen will, beeindrucken. Vor dessen Augen schließt sich dann die Stahltür der baulich primitiven, menschenunwürdigen Haftanstalt – auf unbestimmte Zeit.

Der alte Hayes muss den jungen Hayes zurücklassen. Letzterer ist nun auf sich allein gestellt; andere Häftlinge aus Europa und den USA, zumeist wegen Belanglosem verurteilt, erklären ihm die Abläufe in den Gefängnistrakten, freunden sich mit ihm an, schmieden Fluchtpläne, verzweifeln an ihrem unwägbaren Schicksal – ein trostspendendes wie trostloses Kollektiv, jederzeit bedroht, auseinanderzufallen, aber für alle der einzige Hoffnungsschimmer.

„Midnight Express“ ist von Kritikern vielfach für seinen latenten Rassismus gerügt worden. In der Tat werden nahezu sämtliche Türken als verschwitzte, schmierige Typen dargestellt, deren gewalttätige Praxis weit außerhalb des westlichen Wertehorizonts liegt. Da ist eine Justiz, die brachiale Strafen gegen Delikte verhängt, die in Westeuropa und Nordamerika nicht annähernd so drastisch gesühnt werden; da sind Gefängniswärter, die prügeln, knüppeln und keinerlei Mitgefühl zeigen; oder quislinghafte Mithäftlinge, die sich zum eigenen Vorteil für keine noch so niederträchtige Missetat zu schade sind, kurz: In Oliver StonesDrehbuch-Variante von Billy Hayes’ literarischer Vorlage, einer realen Leidensgeschichte, begegnen uns bedenkliche kulturelle Stereotype, deren Wirklichkeitsgehalt im Unklaren bleibt – selbst Hayes bedauerte die verzerrte Darstellung von Türken; Stone gewann für sein Drehbuch einen „Oscar“.

Deshalb sollte man „Midnight Express“ vielleicht aus einer anderen, surrealen Perspektive betrachten. Das türkische Gefängnis wird zu einem antihumanitären Ort des Schreckens, ein beklemmendes Synonym für das aussichtslose Dahinleben mit seelischen wie körperlichen Torturen. Den Insassen wird – selbst bei noch so nichtigen Vergehen – die Menschenwürde systematisch aberkannt; der Aufenthalt deformiert mit der Zeit die Psyche der Insassen, was sich besonders in der erschütternden Szene zwischen Billy und seiner einstigen Freundin Susan (Irene Miracle) zeigt.

Die Einstellungen, in denen Billy und seine Knast-Kompagnons in ihren beklagenswertesten Zuständen gezeigt werden, sind ohnehin die am stärksten bewegenden – und daher sehenswertesten – des ganzen Films: mit dem introvertierten Briten Max (John Hurt), der in der „Verrückten“-Sektion landet, oder dem draufgängerischen Amerikaner Jimmy (Randy Quaid), der im „Sanatorium“ malträtiert wird, und schließlich mit Billy selbst, dessen wiederholte Enttäuschungen und aufgestaute Frustrationen sich irgendwann in einem wahnsinnigen Ausbruch der Gewalt entladen.

Eines ist jedenfalls nach den zwei Stunden teilfiktiver (und -realer) Geschichte des Billy Hayes sicher: Einen solchen Ort wünscht sich niemand auf der Welt, und Freiheit gewinnt ihre Bedeutungskraft erst im Angesicht ihres Entzugs. Selten hat ein Film so eindrücklich den Wert von Freiheit als menschlichem Grundrecht verdeutlicht wie die Erzählung von der Tortur des kleinen, gierigen Haschischschmugglers Billy Hayes.

Robert Lorenz, Dr. disc. pol., geb. 1983, ist Politikwissenschaftler und Lektor. Für seine Dissertation „Protest der Physiker. Die ‚Göttinger Erklärung‘ von 1957“ erhielt er 2011 den Förderpreis »Opus Primum« der VolkswagenStiftung für die beste Nachwuchspublikation des Jahres; 2020 war er für den „Siegfried Kracauer Preis“ in der Kategorie „Beste Filmkritik“ nominiert. Er hat mehrere politologische Fachbücher veröffentlicht und betreibt die Website www.filmkuratorium.de.
Sein Buch „Traumafabrik. Hollywood im Film“ ist gerade erschienen. Mehr dazu in unserer nächsten Ausgabe am 1 August.

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