
Manchmal packt mich die Lust, die Kiezgeschichten in den Boulevardblättern zu lesen. Da findet sich so einiges, was ich in meinem tristen Alltag nie erleben werde. Sei es der Betrunkene in Marzahn, der, bewaffnet mit einem Messer, einen Dönerladen betrat und siebzig Döner zum Mitnehmen forderte. Der Besitzer verjagte den „Kunden“ mit einem Dönerspieß. Warum wollte der Dönerwirt den Mann nicht als Kundschaft? Vielleicht überstieg die Bestellung die vom Dönerladen üblich angesetzte Abgabe in haushaltsüblichen Mengen? Oder war er überzeugt, der Betrunkene könne die etwa 210 € nicht bezahlen? Da wäre dann noch die Geschichte der zwei Jugendfreundinnen, die 40 Jahre Tür an Tür gelebt und sich erst letzte Woche wiedererkannt haben. Oder der betrunkene Autofahrer, der seinen Wagen im Gleisbett der Straßenbahn versenkte, keinen Weg rausfand und sich entschloss, nach Hause zu laufen und eine Runde zu pennen, bis ihn die Polizei unsanft weckte. Die folgende Geschichte wird mir lange im Gedächtnis bleiben, vor allem, weil sie zeigt, dass manche Menschen an den Widrigkeiten Berlins verzweifeln können:
Zwei Schwestern und eine Freundin, alle drei aus dem Wedding und 41, 27 und 26 Jahre alt, wollen in der Vorweihnachtszeit Plätzchen backen. Von Beruf sind sie Fußpflegerin, Friseuse und Spielhallen-Aufsicht. Das klingt nach typischen Berufen im Wedding und wie Werdegänge, die keine Aufstiegschancen für die Zukunft bieten. Handelt es sich um Lebensentwürfe, die von Geburt an durch schwierige Familienverhältnisse und miserable soziale Einbindung zum Scheitern verurteilt sind? Wie hat sich der Leser die drei Frauen vorzustellen, wenn das Boulevard-Blatt sie als Personen, die sich „nicht die Butter vom Brot nehmen lassen“? bezeichnet?
In einem Supermarkt stoßen die drei eiskalten Amazonen auf den Kaufmann (53) und den Techniker (50). Der Kaufmann und der Techniker gegen die Fußpflegerin, die Friseuse und die Spielhallen-Aufsicht. Das riecht meilenweit nach Stunk. Zugezogene, die auf der Welle von Aufstieg und Wohlstand surfen gegen gebeutelte Ureinwohner, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen und vermutlich ein ganzes Jahr auf die Zutaten für das Plätzchenbacken gespart haben. Ist das so etwa Ähnliches wie der Clash of Cultures?

Die beiden Männer stehen an der Fleischtheke und begutachten die Auswahl. Der Techniker erzählt: „Zwei Damen machten sich an den Tiefkühltruhen laut über eine große Geflügelkeule lustig.“
Die beiden Männer haben wohl noch kein Gespür dafür entwickelt, in welchen Situationen es angebracht ist, seinen Wagen weiterzuschieben und das gesehene schnell zu verdrängen. Sie wissen nicht, dass es Berliner gibt, die an Tiefkühltruhen über die dort gelagerten Produkte Witze machen und es sind nicht wenige. Es ist wichtig für diese Personen, das zu tun. Es bewahrt sie vermutlich davor, Amok zu laufen.
Vielleicht waren die Freundinnen vor dem Einkauf noch einen zwitschern, um sich in Stimmung zu bringen? Einige Berliner machen das, bevor sie ihren Einkauf erledigen. Manche auch währenddessen und danach. Was ist mit der dritten „Dame“? Hat sie beobachtet, dass die beiden Männer mit empörtem Gesichtsausdruck dem Treiben ihrer Freundinnen zugeschaut haben? Erweckte das ihren Zorn? Bahnte sich in diesem Moment der Verdruss über einen schlechten Tag bei den Automaten, den Füßen oder den Haaren seinen Weg?
Der Techniker berichtet: „Die dritte Dame hing überm Einkaufswagen und schoss auf mich zu. Ich sagte zu meinem Freund: ‘Hat mich der Pferdearsch gerade berührt?“ Das muss sie wohl gehört haben.“
Oh nein, der Hintern, die sensible Problemzone jeder Frau. Damit kann Mann bei Frau viel Wut erzeugen, in manchen Fällen auch den Wunsch, jemanden oder zwei zu töten.
Und das alles wegen einer Geflügelkeule in einer Tiefkühltruhe. Selten haben Menschen wegen einer solchen Banalität derart ihr Leben riskiert.
Erst fielen Worte, so das Boulevardblatt. „Schwuchtel und die ganze Berliner Palette“, wie einer der beiden Männer aussagt. Die ganze Berliner Palette, herrje, die Mädels müssen auf 180 gewesen sein. Nicht eins, zwei, drei Schimpfwörter, sondern eine minutenlange Tirade aus immer ehrloser werdenden Beleidigungen, die in dem Wort „Pinsch“ endet, ein seit dem 16. Jahrhundert ausgestorbenes Schimpfwort, das sonst tief archiviert im Unterbewusstsein des Kollektiv-Gedächtnisses der Berliner Volksseele schlummert. Die drei Frauen sind einen Moment sprachlos ob dieses Momentes des unkontrollierten Wortschwalls, doch nicht Ermattung oder gar Versöhnung treten anschließend ein, sondern pure Lust an der Vernichtung von Leben. „Das Handy flog runter, die Brille durch die Luft. Die als Pferdearsch Gescholtene grätschte mir ins Knie. Es verlagerte sich ins Obst und Gemüse. Ich lag am Boden, mein Freund blutete am Kopf. Ein Büschel lange, dunkle Haare lag am Boden. Die haben sie mitgenommen.“
Es verlagerte sich ins Obst und Gemüse. Kein Satz kann die Brutalität dieser Auseinandersetzung deutlicher illustrieren. Keine simple Rempelei an Ort und Stelle, sondern augenblickliche Ausrottung.

Sterben sollst du im Schnittlauch und dorthin werde ich dich prügeln. Und die Wunde am Kopf? Haben die Frauen etwa eine neue Seite an der Geflügelkeule entdeckt? Konnte nur der Tod der beiden Männer die Titulierung als „Pferdearsch“ wiedergutmachen? Und nahmen sie die ausgerissenen Haare quasi als „Skalp“ an sich? Oder als Zutat für ihre Plätzchen, um in einem archaisch anmutenden Ritual etwas von den Männern zu verspeisen?
Mitnichten, wie man erleichtert lesen kann. „Das waren meine, er hatte mir die Extensions ausgerissen!“, sagt die Friseuse aus. Als Personal hinzukam, ließen die Frauen von ihren Opfern ab und suchten das Weite. Eine Fleischverkäuferin berichtet: „Die Herren waren unsere Stammkunden. Ich hatte den Eindruck, den Damen war egal, wen es trifft.“ Wer weiß, vielleicht griff das Personal erst nach einer halben Stunde des Gemetzels ein, als sie realisierten, dass sie sich gerade der Beihilfe zum Mord schuldig machten. Vielleicht spürten sie, dass sie das gesehene und auch ihre Mitschuld daran niemals würden verarbeiten können, wenn sie nicht wenigstens versuchten, die Furien von ihrem Tun abzuhalten.
Eine schaurige Vorstellung für die Leser, die dabei doch einen Hauch Schadenfreude empfinden, dass sie nicht zu den Zeugen oder Opfern dieses Geschehens gehörten. Dabei kann es so schnell gehen. Ein Gang vor die Tür, der Weg von der Arbeit, ein Schlenker zum Discounter, eine schicksalhafte Begegnung, dann Krankenhaus, Tod oder Gericht.
Die drei Frauen wurden zu einer Geldstrafe von jeweils 500 € verurteilt und erhielten von der Discounterkette ein lebenslanges Hausverbot für alle bestehenden und künftigen Filialen überall auf der Welt und im gesamten Universum. Traurig dagegen ist das Schicksal der beiden Männer. Sie haben Berlin verlassen, so heißt es am Ende des Artikels, und sind zurück in die Provinz gezogen. Was hatten sie für Träume. Sie wollten die Weltstadt Berlin mit ihren Möglichkeiten und Toleranzen kennenlernen, sich ausleben, lieben und leben, aber die Metropole zeigte ihre hässliche Fratze an der Fleischtheke eines Discounters im Wedding. Sie werden Jahre brauchen, um dieses schreckliche Erlebnis zu verarbeiten und es wird ebenso viel Zeit vergehen, ehe sie wieder einen Supermarkt ohne Angst betreten können.
Solche Geschichten lehren vor allem eins – das Grauen lauert überall.