
Vorbemerkung:
Hartmut und Mehmet von der Firma Eko-Security sind andere Arbeitsorte gewohnt. Früher bei Konzerten eingesetzt, schieben sie inzwischen Dienst in U-Bahnen, Supermärkten oder Elektro-Kaufhäusern, wo sie sich um renitente Kunden, Kriminelle und besoffene Obdachlose kümmern. Ihre vorrangigsten Einsatzgebiete sind Neukölln und der Wedding. Im Zuge der Corona-Epidemie haben Krankenhäuser den Zugang von Besuchern eingeschränkt. Mehmet und Hartmut sind beauftragt worden, diese Zugangsbeschränkung zu kontrollieren.
1.) Wer darf besuchen?
„Ey, Mehmet, wer darf die Kranken jetzt eigentlich besuchen?“
„Na, steht doch da auf dem Zettel an der Säule einen Meter von dir entfernt und in der Dienstanweisung. Nur Kinder und Sterbende.“
„Also nur Kinder und Sterbende dürfen die Kranken besuchen?“
„Nein. Kinder und sterbende Patienten dürfen Besuch empfangen.“
Kurze Pause.
„Und woher wissen wir, dass der Kranke Kind oder Sterbender ist? Wenn jetzt einer kommt, der will zu „Herr Kasulke“. Woher wissen wir dann, dass der „Herr Kasulke“ im Sterben liegt?“
„Hartmut, dann hältst du dich an die Dienstanweisung. Wenn du Fragen hast, gehst du zum Pförtner.“
„Und ich frage dann, ob der Herr Kasulke schon tot ist oder noch Besuch empfangen darf?“
„Genau.“
„Und wenn Herr Kasulke tot ist und jemand kommt, dem sage ich dann, dass Herr Kasulke schon tot ist?“
„Richtig.“
2.) Lost in Reinickendorf
„Ich sage dir was, Mehmet, das hier ist ein mieser Ort.“
„Ja stimmt, Hartmut. Ist ein mieser Ort.“
„Erinnerst du dich noch? Juli 2018 Depeche Mode in der Waldbühne? Wir beide als Ordner. Das Selfie mit der Band. Das waren noch Zeiten, als EKO-Security ausgelastet war mit Konzerten. Nur mit Weltstars. Nur in großen Arenen. Und jetzt?
Wache schieben an einem Krankenhaus in Reinickendorf. Das ist echt der Tiefpunkt in meinem Leben.“
„Konzerte machen wir beide aber nicht mehr. Seit genau jenem Tag. Weil dir schlecht war und du Dave Gahan vor die Füße gekotzt hast. Seitdem hat der Chef uns abgezogen. Warum mich eigentlich? Ich habe niemandem vor die Füße gekotzt.“
„Ach, scheiß drauf. So ist nun mal das Leben. Ich sehe hier keine Spätkäufe, keine Wettbüros, einfach kein Leben. Im Wedding hätte ich aus dem PENNY schon drei besoffene, obdachlose Polen rausgezerrt und auf die Straße geworfen. Und für jede Gegenwehr, jedes Spucken und Schimpfwort, hätte ich denen doppelt auf die Fresse gehauen. Dafür mache ich den Job, das ist mein Leben. Hier ist doch absolut tote Hose.“
„Ja, und die sind alle so diszipliniert hier, so nett. Keiner, der rummotzt und brüllt: „Scheiß auf die Regelung. Ich will rein, sonst bringe ich jemanden um.“ Nee, hier kommen nur Kranke und die sind alle so scheiße freundlich. Ich weiß gar nicht, was ich tun soll. Ich glaube, vorhin habe ich sogar mal gelächelt.“
„Scheiße, das ist definitiv der falsche Ort für uns beide, Mehmet. Und die sind alle so alt hier in Reinickendorf. Habe ich im Bus gesehen. Der reinste Seniorenbus, sage ich dir. Keine hübsche Bitch da, nur so alte Schabracken.“
„Und die haben viel Geld. Die ganzen Klunker an den Fingern. Ich habe einen Kumpel am Hermannplatz, dem sage ich mal Bescheid. Der ist Hütchenspieler. Der kann ein Vermögen hier machen. Einfach da hinten, irgendwo am Horizont, an die U-Bahn stellen und die alten Ladys abzocken. Die Polizei hier, die kennt das bestimmt nicht. Die denken, der macht Kunst oder so.“
Eine alte Dame tritt an die beiden heran.
„Guten Tag, die Herren. Kasulke mein Name. Ich möchte meinen Mann besuchen.“
„Der ist schon tot.“
„Was? Um Gottes willen!“
„Du musst fragen, Hartmut. Beim Pförtner. Fragen, verdammt nochmal.“
3.) Mundschutz
„Mehmet, die Weißkittel haben heute Morgen gesagt, dass wir bei der Arbeit einen Mundschutz tragen sollen.“
„Und?“

„Die wollten mir so eine OP-Maske geben. So ohne Filter. Ich habe im Fernsehen gesehen, dass die ohne Filter nix taugen. Nur die mit Filter taugen was.“
„Ich hätte ja gerne was wie bei der Armee. Falls es einen Atomkrieg gibt oder Senfgas wie im Weltkrieg. So was fände ich cool.“
„Ja, das hat aber nur die Armee, typisch. Die Soldaten kriegen das beste und wir von der Security sollen so blöde OP-Masken tragen. Schau dir die alten, reichen Schabracken an. Die tragen alle was mit Filter. Ich mach mich doch hier nicht zum Depp.“
„Und weil wir nicht die guten Sachen bekommen, Hartmut, werden wir bei einem Atomkrieg als erstes draufgehen. Oder Senfgas.“
„Mehmet, hier in Reinickendorf gibt es keinen Atomkrieg. Das lohnt einfach nicht.“
Mehmet holt etwas aus der Tasche und zieht es sich über das Gesicht.
„Was zum Teufel ist das?“
„Das war mal ein Topflappen, Hartmut“. Hat meine Frau Aische gestern umgenäht.“
„Bäh, wie hässlich. Der hält doch überhaupt keine Viren ab. Damit blamierst du dich nur vor den Weißkitteln.“
„Wer weiß? Vielleicht finden die das eine gute Idee. Dann näht Aische noch mehr und ich verkaufe die an die Weißkittel. Die verdienen doch ein Schweinegeld. Ich nehme 500 € pro Lappen. Außerdem hat der noch eine Besonderheit.“
„Ach ja, und welche?“
„Er riecht nach Köfte. Die ganze Zeit habe ich den Geruch von Köfte in der Nase. Heute Abend macht Aische wieder Köfte. Ich freue mich so auf den Feierabend.“
4.) Der richtige Ton
„Hartmut, die Weißkittel haben heute Morgen gesagt, du sollst nicht immer „Pisse-Station“ zu den Kranken sagen, sondern „Urologie. Und auch nicht „Gesäßchirugie“ statt „Gefäßchirugie“.

„Die können mich mal, die Weißkittel. Ich habe noch nie vor einem Krankenhaus gestanden und Leuten gesagt, wo sie hinsollen. Das ist mir doch scheißegal, wo die hinmüssen. Und ich lerne hier auch keinen Duden auswendig, damit ich die Fachwörter kenne. Ich schaue nach verdächtigen Subjekten und schmeisse sie raus. So einfach ist das. Die Weißkittel sind doch irre. Da sehe ich allein daran, dass sie dir die Topflappen abkaufen. Wie viel hast du schon verdient?“
„3000 €. Aische kommt mit der Produktion kaum nach. Sie geht heute zu anderen Krankenhäusern zur Produktberatung. Gut, dass die Kinder zuhause sind. Die helfen jetzt beim Nähen. Gibt jetzt extra Köfte Geschmack. Ich plane Ayran und Döner Topflappen.“
„Auf jeden Fall können mich die Weißkittel mal. Jetzt müssen wir die blöden OP-Masken tragen, weil die den Chef angerufen haben. Der hat denen erzählt, die „Gesundheit seiner Mitarbeiter sei ihm sehr wichtig“. So ein Quatsch. Wenn ich mal Schicht beim Lidl In der Hermannstraße habe, fragt der auch nicht, wie viele Wunden ich abbekommen habe.“
„Wenn man es genau betrachtet, haben wir es doch hier richtig idyllisch,oder?“
Hartmut blickt in die Ferne, bevor er nickt.

„Scheiße, ja. Beim Lidl möchte ich jetzt nicht sein. Hamsterkäufe beim Klopapier und Bürgerkrieg an der Kasse. Da gibt es bestimmt Tote inzwischen. Ich glaube, da bräuchte ich das Zeug von der Armee, um meinen Job zu erledigen.“
Ein Patient tritt auf die beiden zu. Mehmet wendet sich an Hartmut.
„Und, wo muss der jetzt hin?“
„Ulologie oder Gesäßchirugie.“
„Fast. Urologie oder Gefäßchirurgie.“
„Ja, irgendwie so. Ich weiß Bescheid.“
5.) Die Erkenntnis
„Mehmet, hast du gestern RTL gesehen?“
„Nein. Ich habe kein Fernsehen. Nur Internet.“
„Krass. Hast du Bild.de gelesen? Da stand, dass es das Virus gar nicht gibt. Wir sind hier nutzlos. Lass uns hier abhauen und einen PENNY im Wedding bewachen.“
„Nein, habe ich nicht gelesen. Ich lese kein Bild.de.“
„Häh, wie bildest du dich dann?“
„Ich lese andere Seiten.“
„Welche? Focus? Bunte? Neue Welt? Pornhub?“
„Nein, nichts davon. Ich habe ein Abo der New York Times.“
„Was? Du hast ein Abo? Du zahlst Geld für den Scheiß im Internet.“
„Die von dir genannten Seiten mögen das sein.“
„Du liest eine Zeitung aus New York? Da steht doch drin, was in New York passiert ist. Was kümmert dich das?“
„Hör mal, Hartmut. Ich habe gleich einen Termin mit dem Chefarzt und dem Verwaltungsdirektor.“
„Du hast einen Termin mit den Weißkitteln? Wieso?“
„Ich war nicht immer bei der Security, musst du wissen. Ich habe studiert.“
„So Weißkittel-Zeug? Organe auskratzen und Pisse-Lehre?“
„Nicht genau das, etwas anderes. Auf jeden Fall musste ich, aus privaten Gründen, mein Studium abbrechen und mir einen Job suchen. Ich habe mich neulich mit dem Chefarzt über minimal-invasive Chirurgie unterhalten und über mein Studium. Er meinte, sie haben einen Job für mich.“
„Das heißt, du stehst dann nicht mehr mit mir hier im Eingang?“
„Ja, das heißt es. Aber der Chef besorgt bestimmt Ersatz. Vielleicht Gabriel oder Turgut.“
„Gabriel? Bist du verrückt! Der Typ ist irre. Der dreht hier in Reinickendorf in einer Stunde durch. Der legt die alle um hier. Und Turgut ist Islamist. Vor dem fürchte ich mich. Scheisse, lass mich nicht alleine hier, Mehmet. Ich werde dich vermissen, Bruder.“
„Wir sehen uns ja noch weiter. Morgens hier am Eingang. Bis das Virus vorbei ist. Danach kannst du auch wieder vor Discountern im Wedding stehen. Ich habe ein Geschenk für dich.“
„Echt wirklich? Ein Geschenk für mich? Was denn?“
„Die hat Aische gestern noch für dich gemacht. Mit der Duftnote Pommes rot-weiß. Du magst doch Pommes rot-weiß. Vorne ist etwas eingenäht.“

„Von Mehmet für Hartmut. In Dankbarkeit für unzählige Stunden gemeinsamen Rumstehens.“ Das ist sehr nett von dir. Ich glaube, mir kommen die Tränen. Ich werde sie jetzt immer tragen. Besser als die blöden OP-Masken von den Weißkitteln. Komm, Bruder, lass uns drücken. Und Aische lass ich durch. Ehrensache.“
Robert Rescue bei CrimeMag. Zu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast. Seit November 2019 gibt es ein neues Buch von Robert Rescue. Es heißt „Das Leben hält mich wach“ und ist in der Edition MundWerk bei Periplaneta erscheinen.