
Mexiko: Das Land der Verschwundenen
Von Iris Tscharf
Denkt man an Mexiko, fällt einem, je nachdem, entweder Folkloristisches (Sombreros, Kakteen, Tortillas und Tequila) ein oder die ganzen Narco-Sagas, oder der monströse Grenzzaun der USA zu Mexiko mit den illegalen Grenzgängern. Wer dazu zum Beispiel Sam Hawkens Roman „Kojoten“ (Polar Verlag, 2015) gelesen hat (nur eines der vielen kritischen Mexiko-Narrative der letzten Jahre), denkt wahrscheinlich sofort an die Mesquitebäume, auf dessen Äste Frauenunterhosen hängen. Die Vergewaltigungsbäume.
Aber nichts davon kommt in „Die Verschwundenen“ vor. Wir sind, wie auch Sam Hawken, keine Mexikaner. Antonio Ortuño hingegen schon, wenn auch mit spanischen Wurzeln, und so ist sein Blick auf sein Land ein anderer als unserer.

Der mexikanische Autor Antonio Ortuño sieht sein Land in Korruption gefangen und greift dieses Thema im Roman „Die Verschwundenen“ auf. Längst hat das Finanzministerium der USA eine Liste von Unternehmen herausgegeben, in der Firmen angeführt sind, die Geld für das organisierte Verbrechen waschen. Die Hälfte dieser Unternehmen haben ihren Sitz in der mexikanischen Metropole Guadalajara, der Heimatstadt Ortuños, dem Setting des Romans. Die USA hat beschlossen, diesem Markt den Saft abzudrehen. Auch das Geschäft des Bauunternehmers Don Carlos Flores ist davon betroffen, und längst ins Visier der US-Finanz geraten.
Davon ahnt die Hauptfigur Aurelio Blanco, genannt „Yeyo“, anfangs nichts. Als Nachbarsjunge der Flores-Familie wäscht er manchmal das Auto des Patriarchen für ein paar Pesos. Und er kümmert sich um die Flores-Tochter Alicia. Das macht er so gut, dass Alicia ihn sogar heiratet und er als Buchhalter im Flores-Unternehmen arbeitet. Doch so eine Patriarchen-Familie kennt nur die Moral des Geldes. Als dann Carlos Flores Plan aus einer heruntergekommenen Siedlung eine Luxuswohngegend zu machen zu scheitern droht, ist es Yeyo, der wieder einmal seinen Kopf hinhält. Denn Flores hat nicht nur Probleme mit der US-Finanz, sondern schafft sich zwei Probleme auf unmoralische Art aus dem Weg. Dafür büßt nicht der Bauunternehmer Flores, sondern Yeyo. Der sitzt fünfzehn Jahre hinter Gittern und wird nach seiner Freilassung von den Flores für dieses Opfer nicht belohnt, sondern befürchtet, dass man ihn verschwinden lassen will.

Von Menschen und von Land
Wie Korruption in einem Land wie Mexiko wachsen und gedeihen kann, schildert Ortuño in seinem Roman und greift dabei wahre Hintergründe auf: Einerseits zeigt er die Wege der Geldwäsche und auch die Probleme der Verfolgungsbehörden die richtigen Verbrechensköpfe zu erwischen, die sich Bauernopfer suchen und so fast unbeschadet davonkommen und einfach weitermachen. Andererseits gibt er zwölf Menschen, die wie vom Erdboden verschwunden sind, eine Handlung. Denn in Mexiko sind derzeit rund 40.000 Menschen vermisst. Sie sind spurlos verschwunden.
Obwohl in „Die Verschwundenen“ Menschen für Bauland erpresst und bedroht werden, gibt es in der Geschichte weder Action noch Gewaltszenen. Auch keine Emotionen beim Lesen. Es ist wie ein unmoralisches Geschäft, dessen Ablauf trocken geschildert wird: Menschen werden für Bauland davongejagt, vermeintliche Investoren waschen ihr Geld mit solchen Stadtplänen, Bauernopfer agieren wie Hunde, die ihren Besitzern treu und loyal ergeben sind, auch wenn sie dabei nur verlieren können.

Die Perspektivenwechsel wirken lediglich wie zufällig. Als Leser begleitet man Yeyo durch die Haft, die Haftentlassung, die Zeit danach, die Zeit davor, zwischendrin schaut man Alicia über die Schulter, wie ihr das Leben übel mitspielt und Yeyo loyal ihre Wunden leckt, während in der heruntergekommenen Siedlung der Polizeichef nur noch Blut und Einschusslöcher vorfindet. Keine Menschen.
Das liest sich glaubwürdig und nachvollziehbar, lässt konventionelle Spannungskurven vermissen und durch die einfach gezeichneten Charaktere wenig Platz für Unterhaltung oder gar Emotionen. Als Sittenbild eines Landes, das durch und durch mit korrupten Machenschaften durchlöchert ist, gewährt Ortuños Roman allerdings schlüssige Einblicke. Und funktioniert dann doch als gesellschaftskritische Form, die sich mit der boomenden mexikanischen Baubranche auseinandersetzt und einen der möglichen Gründe für das Verschwinden von Menschen auf mexikanischen Boden aufzeigt. Ganz ohne Mais und Kakteen, dafür mit viel Beton.
- Antonio Ortuño. Die Verschwundenen (Olinka, 2019). Roman. Verlag Antje Kunstmann 2019, Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein, 256 Seiten, 20 Euro
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