Opium und Irrlichter
Menschen, Wölfe
Lolita. Ewiges Vorbild. Femme enfant, femme fatale. Mädchen und Männer. Männer und Mädchen. Was Männer mit Mädchen tun. Was Mädchen mit Männern tun. Professoren mit Studentinnen oder Eltern mit Kindern. Kinder sind schwach.
Anspruchsvolle Literatur sollte spielen wollen, spielen können. In Emily Fridlunds Debüt „Eine Geschichte der Wölfe“ spielt die Autorin mit der Wahrnehmung der Leserinnen. Fridlund wirft nicht nur einen Blick auf das Leben, sondern — wie kubistische Kunstwerke — gleich mehrere. Erstes Kapitel: Lehrer flirtet mit Schülerin. Oder ist es umgekehrt? Wölfe müssen jagen. Der Mensch: des Menschen Wolf. Nach dem ersten Kapitel breitet die Autorin eine Landkarte aus. Die kommenden Ereignisse werden skizziert. Loose River, Minnesota, gleich an der Grenze zu Kanada. Wälder, hunderte von Seen. Harte Winter, die Sommer sind unerträglich heiß. Ein Staat der Extreme. Linda ist vierzehn Jahre alt. Sie gilt im Ort als Außenseiterin. Die MitschülerInnen nennen sie Rote Socke oder Freak. Ein Lehrer stirbt, der nächste kommt. Dann der Skandal: Lindas Lehrer muss gehen. Das Mädchen hackt für ihre Eltern Holz, nimmt Fische aus oder paddelt mit dem Kanu über die Seen. Ihr Schulweg ist lang, ihr Leben schlicht und ereignislos. Bis die Gardners in die Hütte am anderen Ufer einziehen.
Ekel
Emily Fridlund inszeniert die Geschichte um Linda und die Gardners wie einen Schauerroman. Mary Shelley geistert schemenhaft durch Zeilen und Sätze. Am Rande der Gesellschaft erblüht eine Freundschaft, eine Faszination. Sie entsteht nicht in einem Schloss, sondern in einer schlichten Hütte am Ufer eines Sees. Der See steht für die Unergründlichkeit der menschlichen Natur. Wer weiß schon, was unter der Oberfläche geschieht? Die Landschaft spiegelt die Ereignisse. Schnee fällt in dicken Flocken, Konturen verschwinden bis zur Unkenntlichkeit. Was ist gut und was ist böse? Was dunkel und was hell? Was ist widerlich und was interessant?
Die Figuren in Fridlunds Debüt haben vom Fußpilz gelbe Fußnägel, sie schwitzen, dünsten säuerlich aus. Am Morgen riechen sie faulig aus dem Mund, ihre Lippen schälen sich, sie kratzen sich Mückenstiche auf, bis sie bluten. Die Menschen in Fridlunds Romanen sind keine schönen Kreaturen. Menschen mit Makeln. Mikroskopisch der Blick, den die Autorin auf sie wirft. Jedes Detail wirkt vergrößert und verzerrt in seiner Dimension. Die Dialoge klingen seltsam und absurd. Diese Figuren sind Randständige, Sonderlinge, Überambitionierte und Gescheiterte. Cheerleader und Manager fehlen in Fridlunds Roman.
Linda soll für die Gardners babysitten. Da ist der kleine Paul, vier Jahre alt. Ein altkluges, seltsames Kind, das europäische Städte aus Borke und Blättern baut. Auch hier die Sehnsucht nach einem unerreichbaren Ort. Paul mag das Essen im örtlichen Diner, Linda zieht es vor, auf dem See zu weilen oder durch den Wald zu streifen. Die Beziehung der beiden ist nicht immer harmonisch. Die Grenze zwischen Kind und Despot verschwimmt. Nicht jeder Roman, in dem Menschen sterben, ist ein Kriminalroman. „Eine Geschichte der Wölfe“ ist eher ein Roman mit Todesfolge. Wonach gute Kriminalliteratur jedoch fragen kann, sind Schuld und Verantwortung. Antworten darauf mögen schwierig, manchmal unmöglich, sein. Fridlund hinterfragt Glaube und Religion. Opium fürs Volk und Irrlichter. Dialoge und Handlung wirken geheimnisumwittert, wie es sich für Schauermärchen auch gehört. Märchen sind Parabeln, aber Fridlunds Geschichte scheint trotz aller doppelten Böden und Wahrnehmungsverschiebungen erschreckend echt und wahr.
Wälder, Seen
Die Landschaft spielt eine große Rolle. Oft drängt sie sich mit ihren Launen in den Vordergrund. Sie dominiert den Schauplatz wie der Glaube die Figuren. Egal ob diese einer christlichen Kirche folgen oder einer gesellschaftlichen Utopie. Das Verlangen, die Sehnsucht macht die Alten und die Jungen blind. Sie gebiert Tragödien. Fridlunds Roman ist eine finstere Mär über die Unmöglichkeit von Verantwortung. Über die Illusion menschlicher Nähe, die Käuflichkeit der Seele durch Utopie. Liebe ist nicht käuflich. Was glauben wir zu wissen? Was ist Wissenschaft und was Gesundheit? Geistige und körperliche? Linda ist ein starkes, kluges Mädchen, aber geistig macht der Wunsch nach Anerkennung sie fieberkrank. Die Pubertät wirkt wie ein Verstärker, wie ein Brandbeschleuniger. So mäandert der Roman zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft hin und her. Falsches Vertrauen kostet Menschenleben.
Frauen und Erfolgsrezepte
Fridlund schrieb Kurzgeschichten, bevor sie mit „Eine Geschichte der Wölfe“ zu den Finalisten des Booker Preises 2017 gehörte. Wie bei Erika Krouse und Lisa Sandlin spielt die Neigung zu originellen Sprachbildern eine große Rolle. Diese veredeln das Produkt. Wie Candice Fox hatte Fridlund einen prominenten Mentor. James Patterson unterstützte Fox, Fridlund lernte von T.C. Boyle. Fridlund erhielt zum Fertigstellen des Romanes ein Stipendium, das feministische Projekte unterstützt. Diese Schriftstellerinnen sind Profis, die sich ein Erfolgsrezept teilen: Sie tummeln sich in jeder literarischen Form, sind neugierig und verfeinern ihre Kenntnisse. Im Gegensatz zu ihren gebrochenen Figuren schreiben sie Erfolgsgeschichten. Linda muss scheitern. Das Scheitern wurde ihr in die Wiege gelegt. Die Verhältnisse machen es ihr unmöglich auszubrechen. Der Leser sieht und hört ihr dabei zu. Aber Lindas Stimme wertet nicht. Sie kann es nicht. Wie in den tiefen Wäldern Minnesotas fehlt die Orientierung. Manchmal gibt es keinen Weg, kein Ziel. „Eine Geschichte der Wölfe“ ist ein interessantes, mutiges und unheimliches Buch, die Stimme Fridlunds einzigartig und rätselhaft.
Wie ihre Heldin Linda hat Emily Fridlund ihn ganz unironisch verdient: den Titel „Mrs. Originalität“.
Emily Fridlund: Eine Geschichte der Wölfe. Grove Atlantik, New York, 2016, Übersetzer: Stephan Johann Kleiner, 384 Seiten, Piper – Berlin Verlag, 2018.