Aus den Chroniken eines Meisters
Das beste Argument für Ross Thomas (1926 bis 1995) ist immer noch er selbst. Einfach hineinlesen – und man merkt, was man vermisst. Merkt, welch ein großartiger Autor er ist. Insgesamt 25 oftmals komödiantische Thriller hat er geschrieben. (Ross Thomas als Kritiker in dieser CrimeMag-Ausgabe nebenan: mit einer Besprechung von Richard Hoyts „Darwin’s Secret“.) Eine Werkausgabe, herausgegeben von Alexander Wewerka, erscheint im Alexander Verlag, (alle auch als eBook). Bisher vorliegende Bände:
Dann sei wenigstens vorsichtig
Der Messingdeal. Ein Philip-St. Ives-Fall
Protokoll für eine Entführung. Ein Philip-St. Ives-Fall
Umweg zur Hölle. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall
Am Rand der Welt. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall
Voodoo, Ltd. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall
Kälter als der Kalte Krieg. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall
Gelbe Schatten. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall
Die Backup-Männer. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall
Dämmerung in Mac’s Place. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall
Gottes vergessene Stadt
Teufels Küche
Die im Dunkeln
Fette Ernte
Der Yellow-Dog-Kontrakt
Der achte Zwerg
Dornbusch
Porkchoppers
Der Mordida-Mann
Kleine Auswahl an Texten bei CrimeMag:
Thomas Wörtche, CrimeMag Juli 2008: Klassiker-Check
Alf Mayer, CrimeMag November 2012: Die Verhältnisse zum Tanzen bringen
Übersicht: kaliber .38
Dann sei wenigstens vorsichtig
© 1973 by Ross Thomas
1
Es begann so, wie das Ende der Welt beginnen wird: mit einem Telefonanruf um drei Uhr früh. Dieser kam von Larry Kallan, der an Schlaflosigkeit leidet und annimmt, daß es allen andern genauso geht. Vermutlich wird es Kallan sein, der mir dann erzählt, wie der Weltuntergang abgelaufen ist.
Anstatt Hallo zu sagen oder: Wie ist es Ihnen inzwischen ergangen oder auch nur: Tut Buße, denn das Ende ist nah, sagte er: »Wie würde es Ihnen gefallen, für den meistgefürchteten Mann Washingtons zu arbeiten?«
»Mr. Hoover ist tot und unter der Erde«, sagte ich. »Ich meine Frank Size.«
»Oh«, sagte ich, »der.«
»Was soll das denn heißen: Oh, der?«
»Kennen Sie Frank Size?« sagte ich.
»Klar kenne ich ihn. Er ist einer meiner Kunden. Was stimmt denn nicht mit ihm?«
»Na ja«, sagte ich, »zum einen lügt er viel.«
»Ja, aber wenn er das tut, entschuldigt er sich immer. Er druckt einen netten Widerruf.«
»›With no harm done to anyone.‹« Um drei Uhr morgens summte ich es ihm nur vor, aber es klang trotzdem leicht schief. »Was war das? Was haben Sie da gerade gesummt? Ich hab’s nicht mitbekommen.«
»Ein Fetzen aus einem Lied. Weiter nichts.«
»Was für ein Lied?«
»Bob Hopes Song ›Thanks for the Memory‹. Damit hat er Shirley Ross in The Big Broadcast of 1938 angesungen. Ich glaube, es war achtunddreißig. Inzwischen muß er es leid sein.«
»In dem Jahr sind Sie doch geboren. Neunzehnachtunddreißig.«
»Das stimmt.«
»Sie werden nicht jünger.«
»Mein Gott, Larry, Sie können einen wirklich zum Nachdenken bringen.«
»Das sollten Sie auch besser tun – über Ihre Zukunft nachdenken. Wenn Sie jetzt nicht anfangen, darüber nachzudenken, na ja, dann werden Sie jede Menge Zeit haben, darüber nachzudenken, wenn Sie fünfzig sind und mit zwei Vierteldollar in der Tasche an einer Straßenecke rumstehen und nicht wissen, wo Sie schlafen sollen.«
Larry Kallan, inzwischen selbst fünfzig, war vermutlich Washingtons erfolgreichster Anlageberater. Er schien als erster allen Klatsch zu kennen und jeden, den er betraf, und anscheinend waren die meisten von ihnen seine Kunden. Außerdem war er ein echtes Kind der Großen Depression. Sie verfolgte ihn immer noch, und er malte gern anschauliche Wort-Bilder von Fünfzigjährigen aller Art, die an Straßenecken herumstanden und nichts in den Taschen hatten außer einem Quarter, drei Nickels und einem Dime. Manchmal fügte er noch ein bißchen feuchten Schnee und Wind hinzu.
»Was sucht Frank Size?« sagte ich.
»Einen investigativen Reporter, wie er selbst.«
»Ich bin kein investigativer Reporter; ich bin investigativer Historiker.«
»Sie sind ein Schnüffler«, sagte Kallan. »Ein Bundesschnüffler, und man will Sie im öffentlichen Dienst nicht mal fest anstellen. Sie sind ein Berater.«
»Ein Berater für hundertacht Dollar am Tag«, sagte ich. »Und was den Dienst angeht, bin ich der beständigste Berater in dieser Stadt. Ich bin seit den Tagen von Camelot im Dienst.«
»Und seit Billie Sol Estes.«
»Und seit der Marihuana-Affäre des Peace Corps in Nigeria«, sagte ich. »Die haben wir ziemlich sauber unter den Teppich gekehrt.«
»In zwölf Jahren hatten Sie einundzwanzig verschiedene Jobs«, sagte Kallan.
»Berufungen, Larry. Ich diene nur zum Vergnügen meines Präsidenten.«
»Kein sicherer Arbeitsplatz«, sagte er. »Keine Rente. Keine Krankenversicherung. Und außerdem sind Ihre politischen Ansichten ganz falsch. Wie Sie die letzten vier Jahre überlebt haben, ist mir immer noch schleierhaft.«
»Das ist einfach«, sagte ich. »Ich hab nur ein paar von den Leichen ausgegraben, bei deren Bestattung ich mal geholfen habe. Denselben Dienst kann ich vermutlich der nächsten Regierung leisten. Wenn es je eine gibt.«
»Ich finde, Sie sollten mit Frank Size reden.«
»Hat Frank Size irgendwas Interessantes wie beispielsweise Geld erwähnt?«
Es gab eine kurze Pause. »Ich habe genau genommen nicht mit Frank gesprochen.«
»Mit wem haben Sie genau genommen gesprochen?«
»Ich hab mit Mabel Singer gesprochen. Sie ist Franks Privatsekretärin. Kennen Sie Mabel?
»Ich hab von ihr gehört«, sagte ich. »Hat Mabel irgendwas Interessantes wie beispielsweise Geld erwähnt?«
»Na ja, nein, aber sie hat eine Sache erwähnt, an der Sie interessiert sein könnten.«
»Was?«
»Sie können zu Hause arbeiten.«
»Sie meinen, kein Bürojob?« sagte ich. »Stimmt.«
»Sind Sie sicher?«
»Deshalb rufe ich Sie doch an«, sagte Kallan. »So sollten Sie Zeit genug haben, diesem Franzosen nachzuspüren, über den Sie immer Briefe schreiben. Wie heißt er noch, irgendwas mit Bon?«
»Bonneville«, sagte ich.
»Genau, Bonneville. Er ist schon eine Weile tot, oder?« »An die hundert Jahre«, sagte ich.
2
Ende 1959 war ich Doktorand in Geschichte an der University of Colorado, als Bobby Kennedy dem Westen einen Kurzbesuch abstattete auf der Suche nach Leuten, die seinen Bruder vielleicht gern als Präsidentschaftskandidaten gesehen hätten. Zwar war ich damals erst einundzwanzig und nominell Sozialist, stellte aber eine Organisation auf die Beine, die sich Republikanische Studenten für Kennedy nannte. Sie machte eine Menge Lärm, aber nicht genug, um zu verhindern, daß John Kennedy bei der Wahl 1960 Colorado mit fast 62 000 Stimmen verlor. Ich bin kein Sozialist mehr. Nach zwölf Jahren bei der Regierung betrachte ich mich als Anarchisten.
Aber die Kennedys, die andächtig an die Ämterpatronage glaubten, waren mir für meine Bemühungen dankbar gewesen, und deshalb wurde ich nach Washington eingeladen. Als ich Anfang Februar 1961 eintraf, wußte niemand so recht, was man mit mir anfangen sollte, weshalb sie mich für 50 Dollar am Tag zu einem Berater machten und einer Abteilung zuwiesen, die Food for Peace hieß und aus einer kleinen Suite im alten Executive Office Building neben dem Weißen Haus von einem jungen Ex-Kongreßabgeordneten namens George McGovern betrieben wurde, der auch nicht so recht wußte, was er mit mir anfangen sollte.
Da ich angehender Historiker war, wurde irgendwann beschlossen, es wäre doch nett, wenn ich eine historische Aufzeichnung ab dem Zeitpunkt machen würde, an dem die erste Lieferung von Food for Peace Baltimore mit angemessenen Fanfaren verließ, bis zu dem Moment, in dem sie in den Bäuchen jener landete, deren Herz und Verstand sie bestimmt für die Sache der Demokratie gewinnen würde. Ich glaube, 1961 waren alle noch ein bißchen naiv.
Die erste Lieferung von Nahrungsmitteln waren 300 Tonnen Weizen, bestimmt für die Bäuche der Einwohner eines jener Länder an der Westküste Afrikas, die gerade zweihundert Jahre britischer Kolonialherrschaft abgeschüttelt hatten. Ein Drittel des Weizens verschwand noch am Tag, an dem er ausgeladen wurde, auf dem Schwarzmarkt. Der Rest löste sich einfach in Luft auf, um ein paar Wochen später wiederaufzutauchen, als ein holländischer Frachter unter liberianischer Billigflagge in Marseille vor Anker ging.
Rund sechs Wochen danach trugen ausgewählte Elitetruppen der Armee des neuen afrikanischen Staats die in Frankreich hergestellten Maschinenpistolen MAT 49, Kaliber 9mm, und ich sorgte dafür, daß ein paar verdammt gute Fotos von ihnen gemacht wurden, die ich zusammen mit meinem 129-Seiten-Bericht einreichte, dem ich den Titel gab: »Wohin der Weizen ging, oder Wie viele 9-mm-Patronen pro Scheffel?«
Danach wurde ich eine Art inoffizieller Habgier- und Korruptionsspezialist, der immer für kurze Zeit der einen oder anderen Regierungsstelle aufgedrängt wurde, die es geschafft hatte, sich in die Nesseln zu setzen. Normalerweise stöberte und stocherte ich zwei oder drei Monate herum, durchwühlte Akten und stellte Fragen und sah grimmig und geheimnisvoll aus. Dann schrieb ich einen langen Bericht, der unweigerlich eine ziemlich schmutzige Geschichte von Habsucht und Bestechung auf seiten derer erzählte, die Dinge an die Regierung verkauften, sowie von Gier in den Herzen derer, die sie kauften.
Und fast immer saßen sie dann auf meinen Berichten, während jemand anders herumwuselte und Dinge notdürftig ausbesserte. Die Berichte von mir, die zum Vorschein kamen, betrafen große Skandale, die bereits so wild brodelten, daß man unmöglich den Deckel draufhalten konnte. Darunter die Affäre um den Erdnußöl-König und die, bei der ein paar Schwindler von der Madison Avenue das Office of Economic Opportunity abzockten. Dem Bericht gab ich den Titel: »Wie man mit der Armut Geld macht«.
Die Republikaner beschäftigten mich des schönen Scheins wegen weiter, vermute ich. Als sie 1969 wieder an die Macht kamen, wurde ich erneut in das alte Executive Office Building bestellt, und zwar in dieselbe Suite, in der vor acht merkwürdigen Jahren alles begonnen hatte. Dort wurde ich dann von einem anderen Ex-Kongreßabgeordneten, an dessen Namen ich mich nicht mal erinnern kann, davon in Kenntnis gesetzt, daß ich gern in meiner gegenwärtigen Funktion, was immer zum Teufel das sein mochte, dableiben dürfe, obwohl es wirklich keinen großen Bedarf für meine Dienste gäbe, denn die neue Regierung wäre »so sauber wie ein – äh – wie ein …«
»Hundezahn«, schlug ich vor.
»Genau«, sagte der Ex-Kongreßabgeordnete.
Also blieb ich da, wechselte von einer Agentur und Abteilung zu einer anderen und fand in hohen und niedrigen Positionen nicht mehr und nicht weniger Korruption und Täuschungsmanöver als zuvor.
Aber ich reiste weniger, viel weniger, und das versetzte mich in die Lage, die meisten Samstage in der Kongreßbibliothek in Gesellschaft von Hauptmann Benjamin Louis Eulalie de Bonneville zu verbringen, Protegé von Tom Paine, West-Point- Absolvent, der in der 7. Infanterie der United States Army gedient hatte, Trapper und Fellhändler, Freund von Washington Irving, bankrott und – wie ich vermutete – eine Zeitlang Geheimagent des Kriegsministers gewesen war.
Hauptmann (später General) Bonneville war das Thema der Dissertation gewesen, für die ich recherchiert hatte, als ich an Kennedys New Frontier bestellt wurde. Ich versuchte immer noch, sein Tagebuch ausfindig zu machen, das mal in Washington Irvings Besitz gewesen war, und inzwischen, zwölf Jahre später, glaubte ich, daß ich ihm vielleicht nähergekommen sei. Es spielte allerdings keine große Rolle. Zumindest nicht für Bonneville. Er hat schon einen Damm und irgendeine Salzwüste, die nach ihm benannt sind. Und einen Pontiac. Er lebt.
Aber ich klammerte mich immer noch an die Idee, ich könnte meine Dissertation zu Ende schreiben und mich mit einem Doktortitel bewaffnet an irgendein Provinzcollege zurückziehen, wo die Zeit stillstand und Ronald Colman Präsident war und die kurzhaarigen Studenten, frisch gestriegelt und glänzend, alle Kabrioletts fuhren und sich nur ernsthaft Sorgen darüber machten, ob der alte Professor Morrison den Boomer im Chemiekurs wohl durchkommen ließ, damit er beim Homecoming gegen die State mitspielen konnte.
Ich hatte diese auf dem Studiogelände von Paramount spielende Phantasie als harmloses Antidot gegen die giftigen Dämpfe des Großen Sumpfs der Betrügereien gehegt und gepflegt, durch den ich diese vergangenen zwölf Jahre gewatet war. Ich brauchte ein bißchen freie Zeit, um meine Doktorarbeit abzuschließen, und falls Frank Size so entgegenkommend war, mich zu Hause arbeiten zu lassen, würde ich ihn für seine Freundlichkeit dadurch entschädigen, daß ich ihm die Zeit stahl. Zwölf Jahre in der Regierung hatten meine eigene Moral ein bißchen geschmeidiger gemacht…
Auszug aus:
Ross Thomas: Dann sei wenigstens vorsichtig (If you can’t be good, 1973). Erste vollständige deutsche Ausgabe in neuer Übersetzung. Aus dem amerikanischen Englisch von Jochen Stremmel, durchgesehen von Gisbert Haefs. Alexander Verlag, Berlin 2018. 288 Seiten, 16 Euro. Verlagsinformationen hier.