Düsteres jetzt, Düsteres damals in Downunder
Die beliebte junge Lehrerin Rosalind Ryan wird in der australischen Kleinstadt Smithson ermordet – ausgerechnet nach der Schultheater-Premiere ihrer eigenen modernen „Romeo und Julia“-Version. Die junge Detective Gemma Woodstock soll den Fall aufklären – doch eigentlich ist sie befangen, da sie Rosalind noch selbst auf der Highschool gekannt hatte. Aus der attraktiven Pädagogin war nie jemand so richtig schlau geworden: Sie besaß zwar ein unwiderstehlichen Sendungsbewußtsein, wirkte aber auch extrem manipulativ und selbstherrlich. Die Autorin Sarah Bailey entfaltet in „Dark Lake“ ein hochemotionales Beziehungs-Panorama, in dem die Gefühle der Ich-Erzählerin Gemma meistens bis zum heftigen Implosions-Klimax brodeln. Das liegt nicht nur am verkorksten Beziehungsclinch der hypersensiblen Polizistin. Sie wird auch immer stärker von den düsteren Ereignissen ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt. – Von Peter Münder.
Es hört sich ja ziemlich vernünftig und selbstkritisch an, was Gemma über sich und ihre emotionale Instabilität gleich in den ersten Sätzen ihrer Rückblende konstatiert: „Ich kann schlecht loslassen, sollte versuchen, nach vorn zu schauen.“ Würde sie nämlich an die verhängnisvollen Ereignise „jenes Sommers“ zurückdenken, würde sich ihr Hirn zum Flipperautomaten verwandeln und normale Dinge wie Kaffee bestellen oder ihrem kleinen Sohn Ben die Schnürsenkel zuzubinden wären für sie unmöglich.
„Immer wieder Rosalind“
So einfach – aber eben auch extrem ambivalent – entwickelt die Australierin Sarah Bailey den Spannungsbogen dieses Thrillers. Detective Gemma soll den mysteriösen Mordfall in der Kleinstadt Smithson aufklären: Wer hat die tot im See treibende, mit Blumen dekorierte Rosalind zuletzt gesehen? Welche Rolle spielten ihre undurchsichtigen Brüder, gab es Konflikte an der Schule? Aber Gemma bekennt schon am Anfang ihrer Ermittlungen, dass sie eigentlich befangen wäre, da sie irgendwie in diesen Fall selbst verwickelt war. Sie erteilt sich also gleich selbst eine Absolution, die sie aus ihrer Sicht dann später noch genauer begründen will. Was hängen bleibt beim Leser, ist erstmal ihre Erkenntnis, „Schon erstaunlich, was man alles von sich wegschieben kann, wenn man nur will“, sowie der irritierende Hinweis auf den „Irrsinn in meinem Schädel und die Angst in meiner Brust“, die von Erinnerungen an die ermordete Rosalind ausgelöst werden: „Immer wieder Rosalind.“
Dem Leser werden kleine fragmentarische Mosaiksteinchen hingeworfen, aus denen er sich selbst ein Bild machen muß. Patchwork-Family mit gut funktionierendem Langweiler-Mann, der anderweitig verheiratet ist, erotisch aufgeladene Situationen mit ihrem angehimmelten Kollegen Felix, die obsessive Fixierung auf „ihren“ Fall, über den sie natürlich wegen möglicher eigener Verstrickungen die Deutungshoheit behalten will – das alles verbindet sich mit ihrem fatalen Hang zu verschwiemelten Rechtfertigungsmanövern ihrer auf eigene Befindlichkeiten und Interessen zurechtgebastelten Froschperspektive. Melodramatische Existenzkrisen scheinen für Gemma der Normalzustand zu sein. Da pocht es hinter ihrer Stirn bis hinunter in die geschwollenen Füße und während ihrer Schwangerschaft spürt Gemma genauestens, „wie das Baby sich in mir drehte und zappelte“.
Obwohl ihre Wahrnehmungen und Aktionen immer diffuser werden, erklärt sie ihre Entscheidung für eine Polizeikarriere damit, unbedingt „in einer Welt arbeiten zu wollen, die nach einem einfachen Schwarz-Weiß-Schema funktionierte. Wo es Gut und Böse gab, Falsch und Richtig, und ich die Aufgabe hatte, dafür zu sorgen, dass das Gute überwog.“ Inzwischen hat sie sich allerdings ganz gut in einem fragilen Beziehungsgeflecht zwischen zwei Männern und den Erinnerungen an die große Jugendliebe eingenistet.

Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7 (Frankreich 1957), ein Klassiker der Nouvelle Vague von Agnès Varda (Bild: BFI)
Da der Plot trotz kitschig-spießiger Weihnachtsidylle im Familienkreis und redundanter Selfie-artiger Selbstbespiegelungen allmählich an Fahrt aufnimmt, gerät man als Leser sogar noch in einen ziemlich dynamischen Sog: Bisher unverdächtige Figuren könnten doch ins Raster der Tatverdächtigen passen, in der Familie der angehimmelten Rosalind gibt es etliche unter den Teppich gekehrte Konflikte, außerdem nehmen Gemmas bisher nur vage angedeuteten eigenen früheren Aktionen gegenüber Rosalind während ihrer gemeinsamen Schulzeit konkrete Konturen an. Und gerade, wenn sich der diffuse Nebel der Verdächtigungen aufzulösen scheint, klärt sich der Fall auf absolut überraschende Weise auf. Was diesen ersten Thriller der in Melbourne lebenden Leiterin einer Kommunikations-Agentur trotz der aberwitzigen „Frau im Spiegel“-Verquastheiten doch noch spannend macht.
Peter Münder
Sarah Bailey: Dark Lake (2017). Aus dem autralischen Englisch von Astrid Arz. C. Bertelsmann Verlag, München 2018. 512 Seiten, 15 Euro.