
Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden
Sonja Hartl über das Buch von Hallie Rubenhold
Das bekannteste Opfer ist Mary Jane Kelly. Sie erregte Anteilnahme und Mitleid, sie ist das ideale Opfer: blond, Mitte 20, hübsch. Nicht nur 1888, sondern bis heute erhöhen diese Eigenschaften die Anteilnahme in medialer Berichterstattung, das haben Studien nachgewiesen. Bei Mary Jane Kelly kommt noch etwas hinzu: Vermutlich stammt sie aus einer guten Familie, ist sie ein „gefallenes Mädchen“, dem letztlich nichts übrigblieb als als Prostituierte zu arbeiten. Und sie ist die fünfte Frau, die von Jack the Ripper 1888 in London ermordet wurde.
„The Five“ ist der Name, unter denen diese fünf Frauen zusammengefasst werden. Definiert durch ihren Tod, verbunden durch den Mann, der sie ermordet hat. Sie sind Teil einer Mythologie, der Ripperlogie, die aus der Suche nach der Identität des Mörders eine Industrie werden ließ: es gibt Ripper-Touren, Ripper-Souvenirs, Ripper-Romane. Schon der Begriff Ripperlogie macht klar, dass es immer um den Täter, niemals um seine Opfer geht.
Dagegen wendet sich nun die britische Historikerin Hallie Rubenhold in ihrem Buch „The Five. Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurde“. Entgegen des generischen Titels fügt sie damit nicht der langen Liste der Bücher über Jack the Ripper ein weiteres hinzu, sondern widmet sich ausführlich und detailreich recherchiert den Leben von Mary Ann „Polly“ Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes und Mary Jane Kelly.

Es sind fünf Lebensgeschichten, die deutlich machen, wie das Leben von Frauen der Arbeiter- und Mittelschicht im viktorianischen Zeitalter war. Frauen hatten kaum Rechte, „bevor sie ihre ersten Worte gesprochen hatten, wurden sie im Vergleich mit ihren Brüdern für weniger wichtig erachtet“. Sie würden niemals gleichberechtig und gleichwertig sein. Sogar wenn sie eine Schulbildung bekamen wie Annie Chapman und Catherine Eddowes, blieb ihnen die Arbeit als Hausmädchen oder in einer Fabrik, bis sie selbst heirateten und Kinder bekamen. Scheiterte die Ehe, stand ihnen kein Unterhalt zu, sie mussten auf die Großzügigkeit ihres schlecht verdienenden Mannes oder anderer Familienmitglieder hoffen. Mit Arbeit ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, war aufgrund der niedrigen Bezahlung und geringen Möglichkeit an Tätigkeiten nicht möglich. Sie mussten einen neuen männlichen Beschützer und Versorger finden.
Mit der Trennung vom Ehemann galt die Frau als eine „gescheiterte Frau“: „Verließ sie das Familienheim, wurde sie als unfähig und unmoralisch betrachtet (…). Und durch die Trennung von ihrem Mann lieferte sie sich der Armut und dem sozialen Abstieg aus.“ Dennoch verließ Polly Nichols ihren Ehemann, weil er eine Affäre mit einer Nachbarin hatte (und diese später heiratete). Annie Chapmans Ehemann hatte eine gute Anstellung, ihr wäre möglicherweise sogar der Aufstieg in die Mittelschicht gelungen – aber sie war Alkoholikerin. Damit er seine Arbeit behält und die Kinder versorgen kann, musste er sich von ihr trennen.
Polly Nichols und Annie Chapman landeten letztlich beide auf der Straße, sie waren beide alkoholsüchtig. Auch Catherine Eddowes‘ Weg endete dort. Dabei sah es anfangs gut für sie aus: Obwohl sie ein Mädchen aus einer Arbeiterfamilie war, schickten ihre Eltern sie zur Schule. Doch dann verstarb ihre Mutter, deshalb musste sie die Schule verlassen, wurde zu Verwandten nach Wolverhampton geschickt und bekam dort eine schlecht bezahlte Arbeit in einer Fabrik. Sie war unzufrieden, unstet – und verliebte sich letztlich in einen fahrenden Händler. Diese Beziehung scheiterte und damit war auch sie auf sich alleine gestellt.
Elizabeth Stride wurde als Elisabeth Gustafsdotter in Schweden geboren. Die Bauerstochter wurde als Hausmädchen nach Göteborg geschickt. Dort steckte sie sich mit Syphilis an und wurde schwanger. Die Umstände sind nicht geklärt. Aufgrund ihrer religiösen Erziehung kann aber vermutet werden, dass ihr Arbeitgeber übergriffig war. Krank und schwanger war ihr Abstieg vorgezeichnet, doch sie hatte Glück und bekam von einem religiösen Ehepaar eine Anstellung als Hausmädchen und später die Gelegenheit, nach London zu gehen. Elisabeth erfand sich in ihrem Leben mehrfach neu, es gab nur zwei Konstanten: sexualisierte Gewalt und die Schübe ihrer Erkrankung.
Auch in Mary Jane Kellys muss etwas vorgefallen sein, dass dazu führte, dass sie zunächst im besseren Londoner West End in einem Bordell als Prostituierte arbeitete. Über sie ist kaum etwas bekannt, noch nicht einmal ihr richtiger Name. Vermutlich stammt sie aus einer guten Familie, vermutlich hat sie sich letztlich im East End versteckt.

Alle fünf Frauen waren am Ende auf sich gestellt, lebten in Armut und hatten kein festes Zuhause. Es sind wiederkehrende Themen, die ihre Leben prägten: Untreue, Alkoholismus, häusliche und sexualisierte Gewalt. Aber nur weil diese Frauen arm waren, haben sie nicht alle als Prostituierte gearbeitet. Dieses „Netz der Mutmaßungen entstand vor über 130 Jahren und ist seither kaum hinterfragt oder bezweifelt worden“. Insbesondere Zeitungen griffen die Behauptung auf. Sie erhöhte den Skandal, zudem passte es zu der Auffassung, diese Frauen seien „schlecht“ – und haben es vielleicht auch ein wenig „verdient“, ermordet zu werden. An dieser Einstellung hat sich seit heute nur wenig verändert, das sieht man schon daran, dass weiterhin bei Vergewaltigungsopfern deren Kleidung eine Rolle spielt. „Wenn eine Frau die Grenzen der für Frauen geltenden Normen überschreitet, sei es in unserer Zeit auf Social Media oder auf der Straße der viktorianischen Gesellschaft, wird stillschweigend davon ausgegangen, dass sie wieder an ihren zugewiesenen Platz zurückkehren muss.“ Tut sie nicht, wird sie bestraft.
Polly Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes und Mary Jane Kelly werden seit ihrer Ermordung allein über ihre Sexualität und ihren Tod definiert. Es ist die alte Dichotomie der Heiligen oder Hure, die zum Tragen kommt – und die noch heute gerade bei Gewalterfahrungen von Frauen nachwirkt. Chanel Miller beschreibt in „Ich habe einen Namen“, wie viele Fragen zu ihrer Sexualität sie während des Verfahrens gegen ihren Vergewaltiger beantworten musste. Denn weiterhin geht es bei Fällen sexualisierter oder häuslicher Gewalt schmerzlich oft um das Verhalten der Opfer. Als könnte das ein Verbrechen erklären oder verhindern.
Die – mitunter im Ton leicht pathetisch erzählten – Lebensgeschichten dieser fünf Frauen vermitteln einen Eindruck von dem Leben im 19. Jahrhindert, das kaum in Geschichtsbüchern verhandelt wird. Hallie Rubenhold verbindet sie mit historisch bekannten Ereignissen wie dem Kronjubiläum von Königin Victoria und Schilderungen über das Leben der Arbeiterschicht in Elend und Armut. Sie zeigt, dass True-Crime-Bücher nicht skandalös oder voyeuristisch sein müssen, wenn man Narrative hinterfragt und die Perspektive verändert. Dann nämlich lassen sich in der Beschäftigung mit historischen Kriminalfällen bemerkenswerte und hellsichtige Kontinuitäten bis in die Gegenwart finden.
Sonja Hartl
Hallie Rubenhold: The Five. Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden (The Five. The Untold Lives of the Women Killed by Jack the Ripper, 2019). Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Nagel & Kimche, Zürich 2020. 424 Seiten, 24 Euro.