Deutschland ist auf Knochen aufgebaut
„Tatortreiniger“ sind in. Spätestens seit Charlie Hustons „Clean Team“, Elisabeth Herrmanns „Zeugin der Toten“ und der neuen WDR-Serie „Der Tatortreiniger“. Alleine der Begriff „Tatort“ erzeugt Assoziationen zu multitalentierten Polizisten, die in Fernsehserien in Null-Komma-Nichts Verbrecher aufspüren. Doch was passiert, wenn der Bösewicht gefasst wurde? Wer sind die Personen, die das Chaos beseitigen, welches der Tod hinterlässt? Christian Heistermann gilt als erster versierter Tatortreiniger in Berlin-Brandenburg und gewährt uns einen Einblick in seinen Berufsalltag. Franziska Graf war vor Ort – eine Reportage.
Ein unscheinbares, weißes Haus in Berlin-Hellersdorf, ein Haus, das überall auf dieser Erde stehen könnte, nicht sonderlich ins Auge sticht und trotzdem ein Schicksal birgt, das jeden Menschen eines Tages ereilen wird: den Tod.
Am Eingang steht Enrico Zietlow, auszubildender Gebäudereiniger im 2. Lehrjahr. Beim Anblick seines weißen Schutzanzuges fühlt man sich direkt in die Mittwochabend-Ausstrahlung von „CSI“ versetzt. Unwirklich, einer solchen Person im realen Leben zu begegnen und zu beobachten, wie sie ihre Arbeit verrichtet. Eine Arbeit, die auszuüben sich nur die Wenigsten vorstellen können.
Durch das Treppenhaus strömt ein merkwürdiger Geruch; unbekannt, undefinierbar, unbeschreiblich und mit nichts zu vergleichen. Obwohl die offen stehende, blaue Wohnungstür Einlass in die privaten vier Wände eines fremden Menschen gewährt, behagt der Durchgang nicht. Mit jedem weiteren Schritt wird die Luft stickiger, verwandelt sich in einen penetranten Gestank, der den inneren Drang legitimiert, augenblicklich umzukehren.
Christian Heistermann, Inhaber der HSG Heistermann-Gebäude-Service GmbH und mein Interviewpartner, lächelt aufmunternd. Er kennt diese Atmosphäre, das Gefühl, in solchen Momenten lieber weglaufen zu wollen. 2007 hat er sich auf die Reinigung sogenannter Tatorte spezialisiert. Wenn keiner den hinterlassenen Dreck wegmachen will, ruft man ihn.

Berlin-Hellersdorf (Quelle: oldskoolman.de)
Anfänge
Mit dem Reinigungsgeschäft beginnt er im zarten Alter von 12 Jahren, mit 21 macht er sich selbstständig. Mittlerweile beschäftigt er 45 Mitarbeiter, davon 7 Auszubildende. Sein Dienstleistungsangebote sind sehr vielfältig und doch haben sie alle dasselbe Ziel: einen sauberen Ort zu schaffen.
Die Idee, sich auf die Reinigung von Tatorten zu spezialisieren, kommt Heistermann beim Heimweg, als er zufälligerweise einen Leichenfundort passiert. Ein Fernsehbericht über Tatortreinigung in den USA lässt den Gedanken keinem, diesen Dienstleistungssektor auch in Deutschland zu entwickeln. Er erkundigt sich, erkennt eine Marktlücke und baut die Kommunikation im Internet auf, wo er eine entsprechende Homepage einrichtet. Es dauert nicht lange bis das Fernsehen anruft und sich die ersten Kunden melden. Heistermann hat Recht behalten. Er wird der erste qualifizierte Tatortreiniger Berlin-Brandenburgs. Die Medien begleiten ihn seitdem auf Schritt und Tritt.
Retrospektive
Wenn man keine Erfahrung mit den Medien hat, fühlt man sich geschmeichelt, erwidert Heistermann auf die Frage, wie er mit dem Presseansturm umginge. Wie vielen anderen gefällt ihm der Gedanke, ins Fernsehen zu kommen.
Denn als er 2003 den „Internetpreis des deutschen Handwerks“, dotiert mit 15.000 Euro, und eine Urkunde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie bekam, interessierte das niemanden. Nach einem solchen Desinteresse schätzt Heistermann das Gefühl der Aufmerksamkeit umso mehr. Doch der Genuss währt nicht lange. Schon bald merkt er, dass er sich durch den Rummel selbst gebrandmarkt hat: Von nun an trägt er den Stempel des Tatortreinigers auf der Stirn. Es wird für ihn immer schwieriger, sich aus dieser Rolle herauszuschälen. Es kommt sogar so weit, dass er sich nach einer Weile nicht mehr traut, die Kunden anzurufen, aus Furcht vor Zurückweisung. Wie soll man Vertrauen aufbauen, wenn ständig die Kamera dabei ist? Der Gebäudereiniger begibt sich nur noch an Tatorte, an denen keine Angehörigen mehr anwesend sind, lediglich die auf dem Müll sitzengebliebenen Eigentümer.
Nach über 20 Jahren der Firmengründung erkennt Heistermann, dass der Begriff „Tatortreiniger“ spektakulärer ist als die Tätigkeit selbst und der Beruf gesellschaftlich nicht sonderlich anerkannt wird.
„Sehr oft kommt es vor, dass man meine Arbeit auf mich als Mensch projiziert. Bei Veranstaltungen gab es Vorkommnisse, da hat sich mein Gegenüber mitten im Gespräch umgedreht und ist davongelaufen, nachdem ich erwähnt hatte, mit welchem Handwerk ich mein Geld verdiene. So etwas katapultiert mich ans Ende der beruflichen Nahrungskette.“
Achterbahn der Gefühle
Beim Anblick seines ersten Tatorts verspürte Heistermann Ekel. Eine alte Dame lag ein halbes Jahr tot in ihrer Wohnung, die vollkommen verwahrlost war. Überall hingen Spinnenweben, Fliegen und Maden krochen auf dem Boden, und die Leiche selbst hatte sich im Laufe des Verwesungsprozesses so sehr verflüssigt, dass sich ihr Abdruck auf dem Sofa schwarz färbte. Niemand hatte ihren Tod bemerkt. Der Gestank war bestialisch und für Heistermann stand fest: Dieser Job ist das Letzte, aus fachlicher Sicht gesehen nichts weiter als das Beseitigen von Dreck und das Schlimmste, was einem Reiniger passieren kann.
Manche Fälle stimmen ihn auch nachdenklich. Darunter der eines Mann, der sich das Leben genommen hatte. Er lag im Badezimmer, hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Auf der Waschmaschine stand das Bild seiner Frau und Kinder. Nach außen eine glückliche Familie. Heistermann, selbst Ehemann und Vater, fragt sich, wie das passieren konnte und vor allem, ob auch ihm das eines Tages zustoßen könnte. Was waren die Ursachen, die diesen Mann in den Tod getrieben haben? Wie soll man den Kindern verständlich machen, dass sie keinen Vater mehr haben? Der Vater des Verstorbenen saß auf einem Sessel, von Fragen gebeutelt, die nie eine Antwort erhalten würden, die Kinder befanden sich in der Schule und bis zu ihrer Rückkehr musste das Bad gereinigt sein. Der Reinigungsdienst erledigte diese Aufgabe.
Im Vorfeld macht man sich nicht viele Gedanken, sagt Heistermann, doch im Nachhinein nimmt man etwas mit. „Vielleicht bin ich einfach emotionaler als andere“, fügt er nachdenklich hinzu. „Es gab schon Momente, die ich nicht gut verkraften konnte, in denen ich dachte, es heute nicht zu schaffen, aber letztendlich habe ich mich doch durchgequält. In solchen Augenblicken stelle ich meinen Beruf in Frage. Es geschehen viele Ungereimtheiten, Dinge, die passieren, obwohl sie nicht passieren dürften.“
Selbstreinigung durch Sauberkeit
Viele Kunden haben das Bedürfnis, sich die Sorgen von der Seele zu reden und Heistermann gibt ihnen einen gewissen Beistand, wenn auch nur bedingt. Er weiß nicht, was er in einer solchen Situation sagen soll, deswegen hört er einfach zu. Er fragt nicht, was geschehen ist, denn er fürchtet sich vor dem, was er dadurch auslösen könnte. Die Kunden erzählen es ihm trotzdem. Doch letzten Endes bleibt ihm nichts anderes übrig, als mit der Leiche einen sorgfältigen Umgang zu pflegen und ihr dadurch die letzte Achtung zu erweisen.
Befriedigung in seinem Beruf findet Heistermann in der Reinigung per se. Aus dreckigen Räumlichkeiten eine saubere Umgebung zu schaffen, das ist wie eine Selbstreinigung. Fast so, als würde man sich Schmutz von der Seele waschen. Wenn das Sonnenlicht die ordentlichen Räume durchflutet, der Boden sauber glänzt und alles gereinigt ist, erhält man eine ganz andere Perspektive auf die Welt. Es entsteht die Gewissheit, etwas geschaffen zu haben, man ist mit etwas fertig geworden und kann mit einem guten Gefühl der Zufriedenheit nach Hause gehen.
Der Beruf verlangt nicht nur Perfektion, sondern auch mentale Stärke. Heistermanns Empfehlung: so wenig wie möglich wissen zu wollen.
Wer die dreijährige Ausbildung als Tatortreiniger absolvieren will, muss nicht nur chemische, physikalische und mathematische Grundkenntnisse beherrschen. Lernwilligkeit und Resistenz gehören zu den unabdingbaren Eigenschaften, die die Ausbildung abverlangt. Man sollte weder melancholisch noch depressiv sein und eine gewisse körperliche Fitness besitzen. „Die Jugendlichen, die bei mir eine Ausbildung beginnen, kommen oftmals aus einem Umfeld, das nicht so steril ist. Ihre normale Welt ist anders, sie haben schon eine Menge erlebt.“ Heistermann weiß, wie wichtig die Verarbeitung von Phänomenen wie dem Tod ist. Sterben gehört schließlich zum Leben.
Gedankenstrudel
Der erste Eindruck der 1-Zimmerwohnung ist erdrückend, wenn nicht erschlagend. Ein beiger Teppichboden erstreckt sich durch den Raum. In dessen Mitte liegt die Quelle des Übelkeit verursachenden Geruches, der sich mittlerweile in alle Windrichtungen verbreitet hat: ein zusammengeknüllter, mit Fäkalien beschmutzter Teppich. Die Wände, einst weiß gestrichen, sind mit schmutzigen Schlieren verunstaltet. Da wo einmal Möbelstücke gestanden haben mochten, befinden sich hellblaue Flecken – die ursprüngliche Farbe des Bodens.
Fünf Schritte weiter und das Zimmer mündet in eine schmale lange Loggia. Das Fenster steht weit offen, damit der Gestank ins Freie weichen kann. Die Küche wurde bereits herausgerissen, übrig blieben weiße Platten, lose Kabel und der Gedanke daran, dass sich hier drinnen ein Mensch einst sein tägliches Mahl zubereitet hat. Ein Mensch, der erst eine Woche nach seinem Tod aufgefunden und beerdigt wurde.
Zahlreiche Fragen wirbeln durch den Kopf und bewirken, dass man sich ein wenig mehr ans Leben klammert. Fragen, die sich automatisch stellen, wenn man sich an einem Ort wie diesem befindet und man es sich erlaubt, Emotionen zuzulassen. Unheilvoll wie das Schwert des Damokles.
Wer war dieser Mensch, wie hat er sich in den wenigen Minuten vor seinem Tod gefühlt, worum kreisten seine Gedanken und was waren seine Träume, seine Ziele? Wieder stiehlt sich der Blick zurück zum Boden, zu dem schmutzigen Teppich, den reckigen Wänden und der Balkontür, wo der kaputte Rollladen hängt.
Die wenigen Wertsachen sind ordentlich auf der Fensterbank aufgereiht: Bücher, Heftchen, eine Schreckschusspistole, nichts, worum sich die Erben gestritten hätten. Beim Hinausgehen wird der Teppich entfernt. Was bleibt, ist der braune, stinkende Fleck – Zeuge eines einsamen Todes. Am Ende des Tages wird auch der gereinigt sein. Es ist, als hätte diese Person nie existiert.
Franziska Graf
www.tatortreiniger.de
Peter Anders: Was vom Tode übrig bleibt: Ein Tatortreiniger berichtet.