Geschrieben am 16. Dezember 2018 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2018

Textauszug: Dietrich Geissler „Kamalatta“

1809_Lmachtfrage, draußen, sagte motte

Ein Textauszug aus Dietrich Geisslers „romantischem fragment“ von 1988

   vor jahren mal bochum, antiimpkneipe, ich saß da als lehrling noch zwischen, und einer war eben erschossen worden, killfahndung damals die zeit, und da sagt bei mir nah eine frau, dass er nach seiner mutter gerufen hat ganz zuletzt, sowas find ich ja reichlich daneben, ich hab die frau rausgepustet von da wie dreck, es war aber auch so ein stoß zur gruppe, plötzlich siehst du das klar, das verkommt, was alles weiß und nichts tut, wer sich die mutter verbietet, was meint der mit menschenleben.

steward sprach alles langsam gerollt, selber zur kugel speckblank rasiert, hing ihm, vom scheißen und schwitzen schlaff, das fett aus nacken und backen blau ins wäscheweiß, ich mag mich so schrecklich im schrecklichen haus am liebsten, die zuchthauswitzefigur, fehlt bloß noch die kugel am bein, sein lachen als trauer, seine trauer als hieb blitzte aus noch den geringsten gesten der haut, aus vielen vielen geschichten, er war in st.pauli, in einer kneipe, auf seine zwei beine gekommen, immer noch vier, schmeißt steward dazwischen, immer noch halbes tier, bis wir menschen uns eines tags wirklich beinander haben, der weg ist nicht breit, aber lang, los, fang an. er hatte, mit pino zusammen, bantus anspruch, wie geht das hier weiter im knast, schluss mit versteinerung, wir sind keine raritätensammler, entschieden unterstützt. denn auch wenn er, wie jeder im kollektiv, wusste, analysieren konnte, was für eine haft das hier war, was ihr gemeiner zweck und gedanke, der stich ins auge, das sieht, was ist, der tritt in das neue gesicht, die entstellung, damit du liegst, auch wenn er las, was zu kriegen, zu wissen war jetzt, auch wenn er anfing, arabisch zu lernen, als kneipensohn verschworen mit vielerlei hosenbein, mädchenengeln und bandenbengeln, machte ihn die verschließung krank, hungerte ihn die isolation zum fettsack.

steward hatte, als einziger, schon zwei mal den ausbruch fast geschafft, seit je fingerte er sich leichter den griff, tastete er vielfältiger sich überraschung und lücke, fünfzehn jahre soll er gefangen bleiben, das geht nicht, sagt steward, schärfste sicherheitsmaßnahmen, sagen die bullen und schließen stewards rechte hand, nur stewards hand, gegen bantus protest, ans bettengitter, ich klirr ihnen horror, sagt steward und hebt die faust, aber es schmerzte ihn bald der stau, der arm schwoll an, da wechselten sie von hand auf fuß, von fuß auf hand, das ist der vorteil, vier beine, sagte steward.
   gibts nicht noch anderen vorteil.
   was müssen wir tun, ja was und wer wir, damit ihr da lebend rauskommt rot, nicht weiß tot.
   machtfrage, draußen, sagte motte.
  und inzwischen, fragte bantu.
  bring uns knarren rein, schrieb quipp auf einen wisch, fraß den auf.
  woher, schrieb bantu, zündelte, spülte die asche.
  
und wenn wirs dir sagen, lächelte motte.
dann trau ich mich nicht, sagte bantu, was noch. ich fangs mal woanders an. ich sitz nicht im knast, ich mach nicht raf, ich versuche zu verstehen, was wer von euch will, ihr von euch wollt, und da sag ich, jeder von uns ist zerstörbar, lasst uns rauskriegen, wie wir was schützen können, auch, wie wir vermeidbar uns angreifbar machen.
   dann wär ich jetzt im fünften semester physik, sagte quipp.
   und das wär dein tod, fragte vorsichtig bantu nach.
   
klar ein stück weit dahin, sagte quipp.
   alles, jede regung, quipp, ist ein stück weit dahin.
   aber meins oder nicht meins, identität oder nicht.
   der kürzeste weg zur identität, sagte bantu, ist der run in den tod.
   geht so nicht, philosophie, sagte motte, sie haben uns, wir sind im loch, was können wir besser machen.
   ich habe angst, dass sies schaffen.
   bist tückisch, alter.
   der listige streich, sann bantu, der kunstgriff.
   wenn sie uns schaffen, passiert da dir was?
   
ihr kalkül, die zerstörung, der niederbruch des gedankens es geht.
   
für dessen verwirklichung du selbst was tust?
   in grenzen meins.
   wer hat dir grenzen gesetzt.
   das weiß ich nicht.
   das weißt du, weil du dirs selber machst, wichser.
   
ihr setzt euch denn keine grenzen? und wichsen, wenn ich allein bin?
   du bist so allein, wie du dich machst.
   und du bist ein moralist, mein lütten, du bist der gefährdetste.
   wie gehabt, big raushole, anders läuft gar nichts. steward hatte gekritzelt, jetzt kaut er.
   gut. aber bis dahin, fragte pino moneta, es sind ja prozesse denkbar, ich denk das mal laut, langfristige bewegungen, deine, auf die du dich einlässt, die du ordnest, vorwärtsbringst, die dich in trab halten gegen den stillstand. stehenbleiben hat doppelsinn, dass du nicht kippst, und dass du nicht weitergehst.
   was für prozesse, lass sehen.
   knastband der eine, dichtung der zweite, und drittens, ganz leise, die wahrheit. wir wissen, wohin das geführt hat. zum kotzen.
   was führt zum kotzen, quipp. dich unberührbar machen, weil du auch angerührt, auch niedergerührt, auch zerdreht werden kannst? so hast du dich unter verdacht. machst dich kalt. dienst dem pack straight, mehr nicht. bist so allein, wie du dich magst.
   und ununterbrochen kaust du bananen.
   zahnschmerzen.
   affe.
   wirklich warf bantu die kleine hand krumm, zog schalen zog schalen, das fieberäffchen.
   sieh mal, quipp, als pellte er gelb, der hexer, das bild von sassetta aus siena*, du kennst ja du kannst ja die wahrheit die schönheit, warf er ein weiches papier, aus einer ärztezeitung gerissen, der fliegende affe, vor beinahe jetzt sechshundert jahren, der schwur schwingt sich auf, brennt genau. quipp gabs weiter an pino, pino an motte, motte an steward. der starrte und strich langsam hin. schenk mir das, mann, sagte steward. hungerfettblau bestaunt er den schönen bruch.

die kamen, ihn umzuketten, auch da gab steward dem augenblick sinn, kriegten von seiner scheiße ans hosenbein, an die pfote, jetzt geh dich waschen, dienstmann, hau ab, denn nichts, fuhr er fort, was wir anpacken können, fassen, was uns erreichbar, ist uns verboten, kein schließersocken, kein trommelstock, auch kein sonett, sobald wir sicher bestimmen können, wohin damit, wann, warum. die unberührbaren findest du früh, draußen schon weit zuvor, sommermittags grindelbergkreuzung, da flimmert texaco, da siehst du das rasen reglos, da stochert aus kielortallee ein typ, dick parka und lauter papier im ärmel, in ängsten streng, wir kennen uns viele jahre schon, komiteefreak, er glast aber glatt durch mich durch, alle öffnungen abgeklemmt, er hat eine absicht, sieht ab, zieht nah bei mir weit von mir ab, was ist das unfasslich unrührbar von sommersonne im parka das fleisch, ach das ziel wie ein siel, das dich schluckt. ich war mal bei denen in der wg, der einen frau hatte die mutter ein fresspaket zugeschickt, der postzettel war aber futsch, unter bergen von flugblättern weggeflutscht, die liebe, das fressen. dieser frau war ich gern gut zugetan, ein zarter weißer mensch, eine seide, der hauch, leicht zu zerstören. da sah ich bekümmert, wie sie sich morgendlich abschlug mit einer gemeinen gymnastik, dem werfen der knochen als stein, das wenden von mond in messer. als wisse sie nicht, wer sie sei. als sei sie sich feindlich. eines morgens erzählte sie mir einen traum, in unserem hochhaus, sagte sie, hätten vier leichen gelegen, unsere leichen, nannte sie die, verhüllt in tuch, beim auswickeln seien es aber besen gewesen. da siehst du, quipp, immer sauber bleiben, das macht dich nicht witzig, nur krank. das schöne haus unberührbar. immer mensch bleiben auch die leichen. da denk ich an dietramszell, ich war ja mal klosterschüler, mein vater kannte hässliche strafen, da wollten wir schießen lernen. im bergwald nach süden, auf einer lichtung, hatten städter, deutsche und yanks, ein hübsches wildwestdorf aufgebaut, saloon, palisaden, galoppergalopper, so eine art freizeitkillcamp der deutsch-amerikanischen freundschaft, und sprangen da an in fransenleder, sonntagsverkleidung, schlapphut und regelrecht rauchende colts. wir sprangen bei, selbdritt. so als balljungens für das gemetzel, indianer, fünf mark den tag. und schießen durften wir auch. früh übt sich. bloß keine berührungsängste.
(…)

pino schnappte zittrig nach mehr nach mehr. da sagte ihm quipp, der preis für all das wär, dass wir kaputt gehen, gefressen werden, und das um so schneller, je mehr uns der krempel fasziniert.

die folter ist teil dieses krieges, und so ist isolation auch eine chance, weil sie teil des kriegs ist, weil wir in ihr von dem, worum es uns geht, dem krieg, nicht isoliert sind. das sagte motte.
alles andere, pino, wie dus auch drehst, macht frieden, den friedhof. das sagte quipp.

sas

 

anm* das bild von sassetta aus siena »Der selige Rainier befreit die Armen aus einem Gefängnis in Florenz«, Gemälde von Stefano di Giovanni Sassetta de Siena, vollendet 1444, abgebildet auf dem Schutzumschlag der Erstausgabe »kamalattas« 1988. 

Christian Geissler: Kamalatta. Romantisches Fragment. Mit einem Nachwort von Oliver Tolmein. Verbrecher Verlag, Berlin 2018. Leinen mit Leseband. 615 Seiten, 36 Euro. (Zuerst: Wagenbach Verlag, Berlin, Herbst 1988.) VerlagsinformationenInternetseite der Christian-Geissler-Gesellschaft hier.

 

Christian Geissler wurde 1928 in Hamburg geboren. Nach einem nie abgeschlossenen Studium der Theologie, Philosophie und Psychologie in Hamburg, Tübingen und München arbeitete er ab 1956 als freier Schriftsteller. Er war u.a. für den NDR tätig, war Mitherausgeber der linken Literaturzeitschrift Kürbiskern, Dokumentarfilmer und Dozent an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Er starb 2008.

Kurzkritik: Eine bewaffnete Gruppe bereitet den Anschlag auf ein US-Hauptquartier in Bad Tölz vor. Es gibt Sympathisanten, sabotierende Wertarbeiter, Solidaritätsreisen in die DDR, militante Gefangene, die im Knast ums Leben kämpfen. Überall geht es ums Ganze, Wahre, Große: um Liebe, Verrat, Zerstörung, Befreiung. 30 Jahre nach der damals sehr umstrittenen Erstveröffentlichung und zehn Jahre nach seinem Tod liegt nun kamalatta von Christian Geissler wieder vor. Der Verbrecherverlag hat für eine sorgsam gemachte Leinenausgabe gesorgt, Oliver Tolmein ein differenziertes Nachwort beigesteuert. Ein schlankes Glossar hilft beim Textverständnis.

 Noch bevor das Buch im Herbst 1988 erschien, waren der Autor und der rotbuchverlag (wie er noch auf dem Cover mit Christian Geisslers bevorzugter Schreibweise sympathisierte) geschiedene Leute. Wegen des Ankündigungstextes für das Buch warf Geissler Rotbuch „Fälschung“ vor und dass der Verlag „Lust auf die Niederlage, nein: Niedermache“ habe. Anlass war die Formulierung, der Roman, an dem Geissler seit Anfang der 1980er Jahre gearbeitet hatte und der konsequent eine an Bekennerschreiben gemahnende Kleinschreibung durchzieht, handle vom „Anschlag einer terroristischen Gruppe“ und spreche „eine bundesdeutsche Vergangenheit an, die wie ältere deutsche Traumata bis heute nicht bewältigt wurde“. Geissler verstand das als „Feindschaftsansage“: „Diese Sprache von Trauma und Bewältigung, deutsch und Vergangenheit, die wir alle bindend verflucht gut kennen, will zueinanderketten Nazidreck und bewaffneten Klassenkampf jetzt, Auschwitz und Antiimperialismus. Das ist infam. Das ist das infame Interesse der anderen Seite.“

Bis heute, so vermerkt Oliver Tolmein zu Recht, dient der Streit um die Bezeichnung der RAF der Selbstbehauptung derer, die sich äußern. „Die Baader-Meinhof-Bande“ war gängige Sprachregelung, seit das Bundesinnenministerium im Sommer 1972 diese Bezeichnung als offiziell festlegte. „Die selbstgewählte Bezeichnung „Rote Armee Fraktion“ oder „RAF“ unterstrich dagegen den Anspruch der überschaubar großen Gruppe, sich im Kriegs- zustand mit dem Staat zu befinden, eine bewaffnete militärische Opposition zu bilden, die der bundesdeutschen Staatsgewalt – jedenfalls im Grunde – völkerrechtlich ebenbürtig gegenübertritt und damit auch das Recht beanspruchen könnte, Menschen zu töten.“ Mit der Bezeichnung „Baader-Meinhof-Bande“ wurde nicht nur eine Entpolitisierung des bewaffneten Kampfes festgeschrieben, sondern auch eine Personalisierung der Gruppe.

Es ist eine nicht benannte Widerstandsgruppe, die den Anschlag plant. Der erste Satz lautet: proff ist nie gefunden worden. Der vierte und letzte Teil des Buches, in dem es dann zum Anschlag kommt, heißt „Freude“. Der bewaffnete Kampf steht im Mittelpunkt des Buches, die RAF wird jedoch nur am Rande erwähnt, dies immer in Verbindung mit Larry – auch wenn der Roman damals wie selbstverständlich als „RAF-Roman“ wahrgenommen wurde. Larry, der Bruder von Nina, ist „schon seit vielen jahren gefangen, im käfig in celle“ (S. 28). Mit seiner Schwester führt er eine scharfe Auseinandersetzung über seine Biografie und die Bedeutung, die eine bewaffnet kämpfende Gruppe für das Individuum hat: „meine geschichte ist raf, sagt larry, der rest ist müll.“

„kamalatta“ ist unvollendet, ist ein »romantisches Fragment«, herausgebrochen aus einer Geschichte des Widerstands gegen die Welt. Geisslers Sprache arbeitet mit Reimen und Alliterationen, kann schroff sein, aber auch weich. Gute Sache, dass dieser Roman wieder da ist. – Alf Mayer

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