Geschrieben am 1. April 2019 von für Crimemag, CrimeMag April 2019

Textauszug: Ivy Pochoda „Wonder Valley“

Prolog – Los Angeles, 2010

When they said repent
I wonder what they meant.
 

(Leonard Cohen, The Future )

Als Bild ist es schön – ein joggender Mann, über seiner einen Schulter die San Gabriel Mountains, über der anderen der Anstieg des Hollywood Freeway, der zum Bogen über den Pasadena Freeway ansetzt. Sein Oberkörper ist nackt, unter der gebräunten Haut spielen Schwimmermuskeln, die Arme pumpen im Takt zum Eins-Zwei der Füße. Man könnte ihn direkt beneiden. 

Sieben Uhr früh, und im Stadtzentrum staut sich schon der Verkehr, kommt zum Erliegen, während Autos fünf Fahrspuren zu queren versuchen, sich so stockend vorwärtsarbeiten, dass ihr Vorankommen mit dem Auge kaum wahrnehmbar ist. Vom Pasadena Freeway her fädeln sie sich auf den Hollywood oder den Santa Ana Freeway ein, und das dauert. Nur er bewegt sich frei, läuft entgegen dem Pendlerfluss zwischen den eingekeilten Autos hindurch. 

Die Fahrer hinter ihren Lenkrädern starren ihn an, kurzzeitig abgelenkt von ihrem Gefummel mit den Radiosendern, dem Make-up, das sie im Rückspiegel auflegen, den Telefonaten mit Freunden an der Ostküste, deren Tag schon voll ausgeformt ist. Sie sind extra früh aufgebrochen, um dem Stoßverkehr zu entrinnen, diesem fatalen Ausgebremstsein am Morgen. Sie haben alles durchgerechnet, die Dauer ihres Wegs nach der Formel veranschlagt: Strecke durch Geschwindigkeit. Dennoch stehen sie nun Stoßstange an Stoßstange. Für diese Stadt der Autofahrer ist der Mann eine Ohrfeige. 

Er läuft unberührt von all den Opfern, die diese Pendler zu Hunderten gebracht haben, um pünktlich im Stau festzustecken – das Frühstück ausgefallen, die Kinder nicht mehr gesehen, der Ehemann allein daheim im Bett, die Nacht viel zu kurz, der Tankstellenkaffee eine dünne Plörre, die Fahrgemeinschaft ein Quell des Verdrusses, dazu der entgangene Schlaf, die eilige Dusche, die Kleider von gestern, das Make-up von gestern. 

Er ignoriert die Autofahrer, eingekapselt in ihre klimatisierten Wagen, gefangen im ersten Nachrichtenzyklus und der Leier von Radio Top 40. Er zieht vorbei an den kleinen Verzweiflungen des Morgens, den schon im Keim angelegten Problemen, der Sehnsucht danach, anderswo zu sein, egal wo, nur nicht hier, heute und morgen und all die anderen Tage, die verklumpen zu einem stadtweiten Gewirr von Freeways und gesperrten Fahrspuren und Staumeldungen – ein ganzes Dasein, verengt aufs Stop-and-go. 

Sein Blick ist gelöst, ein Marathonläufer auf halber Strecke, aufs Ziel fokussiert und noch nicht überwältigt von der Entfernung. Er läuft unangestrengt. Aber die Frau in dem verbeulten Cabrio wird später sagen, er hätte ganz klar irgendet- was genommen. Der Mann mit dem frisierten Hatchback wird erzählen, dass er mega high war, die volle Dröhnung, total durchgeknallt. Ein paar junge Mädchen in einem SUV weit über ihre Verhältnisse, die ihn kaum wahrgenommen haben, werden berichten, dass er aussah wie ein Superheld, aber keiner von den coolen

Der Tag ist von einem unbestimmten, wetterlosen Grau. Die Sonne verspätet sich wie alles andere auch an diesem Morgen. Über den Bungalows von West Adams und Pico-Union, südlich der 10, hat die Luft eine apokalyptische Trübheit. Die Farbe übler Entwicklungen oder ihres Nachspiels. 

Die andere Stadt – die im Kopf existente – erstreckt sich im Westen, jenseits der wuchernden Ausländerviertel, wo Koreaner Seite an Seite mit Salvadorianern leben, Armenier Rücken an Rücken mit Thais. Sie beginnt bei den langen Boulevards mit den klingenden Namen, die gesäumt sind von Deko-Theatern, abgehalfterten Tropenmotels und Restaurants mit livrierten Türstehern, und endet, wo die Straßen in den Strand auslaufen. Aber hier in dem Einschnitt, den sich die 110 durchs Zentrum gräbt, ist dieser Ort kaum eine Erinnerung. Hier gibt es nur die Blechlawine der Autos und die spiegelnden Flächen verglaster Wolkenkratzer. 

Der Läufer müsste eine Acht-Minuten-Meile hinlegen, schätzt der Mann am Steuer eines SUV, der verschlafen hat und deshalb auf seine eigene Joggingrunde verzichten musste. Ihm fehlt die frühmorgendliche Tour durch Beverlywood, das leere Schweigen des Vororts, wo er Sackstraßen bis an ihr Ende folgt, in die Wohnzimmer dunkler Häuser späht, wäh- rend der Pedometer seine Schritte mitzählt, Kalorien und Strecken aufzeichnet, bis das Morgenritual abgeschlossen ist. Was mag ihm alles entgangen sein?, fragt er sich – Kojoten, die im Morgengrauen heimwärts schleichen, ein schief in einer Einfahrt geparktes Auto, dessen Fahrer wohl ein paar Drinks zu viel hatte, ein schlafender Mann im bläulichen Schein seines Fernsehers, ein Mädchen, das zur elterlichen Hintertür hineinhuscht, vor einem fremden Gartentor abgestellte Plastiktüten mit leer getrunkenen Schnapsflaschen darin. Während dieser gestohlenen Stunden, bevor seine Frau und die Kinder ihn in Beschlag nehmen, meint er einen Blick in die verborgene Seele seines Viertels zu tun, meint hinter den Fassaden der Bungalows, den getrimmten Rasenflächen austauschbarer Vorgärten heimliche Unzufriedenheiten zu entdecken. 

Niemand spornt ihn an bei dieser frühen Laufrunde, niemand bekommt seine keuchenden Atemzüge auf der sechsten Meile mit, den heroischen Triumph über seine erlahmende Willenskraft. Während er den Läufer zwischen den stehenden Autos hindurchsteuern sieht, spürt dieser Fahrer verstärkt die Lahmheit in seinen Beinen nach dem Alkohol des Vorabends. 

Er möchte die Stunde zurückholen, um die er sich selbst betrogen hat, indem er sich vorhin im Bett, statt in die Laufschuhe zu steigen, lieber noch einmal umgedreht hat, ehe die Pflicht endgültig gerufen hat. Ohne das Laufen wird der heutige Tag den Pendlern in ihren Wagen gehören, dem Team, das in der Arbeit auf ihn wartet, und nun diesem hemdlosen Jogger, der den Autos auf der 110 davonzieht. 

Er lässt das Fenster herunter und reckt sich hinaus, um dem Jogger nachzuschauen. Der Mann läuft gut – Oberkörper aufrecht, Schultern locker, Hände nicht zu Fäusten geballt. Der Fahrer wölbt die Hand zu einem anfeuernden Ruf um den Mund. Dann sieht er, dass der Jogger nackt ist. Rasch taucht er zurück ins Wageninnere, fährt das Fenster hoch und nimmt sein Handy zur Hand, geht über zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung. 

Die Schnellstraßen sind immer für ein Spektakel gut. Dieses Jahr hat schon eine unentdeckte Rockband die 101 zwischen Sunset und Hollywood Boulevard abgeriegelt, um auf der Ladefläche eines Pritschenwagens ein Konzert zu geben, auf der 5 sind aus einem stehenden Kombi drei Pudel entwischt, die sich zwischen Burbank und Los Feliz Boulevard ein Wettrennen lieferten, und auf der 405 Richtung Norden hat sich eine verlorene Ladung Zwiebeln über alle vier Spuren verteilt. Es gab zwei Autoverfolgungsjagden, die mit Schüssen und lodernden Flammen endeten, und auf der 10 kurz vor dem Flugplatz von Santa Monica musste eine Propellermaschine notlanden. Immer wieder legen hier das Unerwartete, das Bizarre und das Tragische den Verkehr lahm und vereinen die Blicke der Stadt auf sich.

Doch auch die, die selbst feststecken, wollen in der Geschichte vorkommen. Sie wollen ihr Erlebnis im Radio gemeldet hören, wollen hautnah dabei gewesen sein, anstatt abgeschlagen hinten im Stau. Schon jetzt formen diese Pendler den Anblick des nackten Joggers zu einer Anekdote um, die sie erzählen werden, wenn sie endlich angekommen sind, bereiten sie für ihre Zuhörerschaft auf, schmücken ihren eigenen Anteil daran aus, kehren das Empörende, das Verrückte oder das Be- wegende daran hervor, je nachdem. 

Ein Hubschrauber steigt über die Bürotürme im Zentrum auf und steht über der Gabelung 101/110. Er verweilt kurz über dem Läufer, bevor er nach rechts abschwenkt und einen Kreis über der Kreuzung dreht. Das an – und abschwellende Knattern des Propellers trägt zusätzlich bei zu der angespannten Stimmung des Morgens, ein aggressives Geräusch, das weit Bedrohlicheres suggeriert als einen Mann, der durch den Verkehr joggt. 

Zwei Autos blockieren sich gegenseitig – das eine will auf die Überholspur wechseln, das andere sie verlassen. Der Läufer setzt über die dicht an dicht stehenden Stoßstangen hinweg; »Scheiß-Perverser«, schallt es hinter ihm her. Eine Frau hält ihrer Tochter die Augen zu. Eine andere lässt die Hand mit dem Lippenstift sinken und dreht den Kopf, um seinen Hintern zu bewundern, während der Läufer weitertrabt Richtung Süden. Die Leute lehnten sich aus den Fenstern, halten Smartphones hoch, machen Videos, die hoffentlich massenweise Clicks bekommen werden.Der Mann, der sich um seine Laufrunde gebracht hat, ruft seine Frau an. Es ist eine Reflexhandlung, gedankenlos ausgeführt. Sein Handy steckt in seiner Hemdtasche, auf Lautsprecher geschaltet. Als seine Frau abhebt, sagt er nichts, lauscht stattdessen den Morgengeräuschen seiner Familie. »Tony? Tony?« sagt sie. »Tony!« Pling, macht die Mikrowelle, dann das Klappern, mit dem ein Teller auf der Granitplatte abgestellt wird. »Tony, deine Tasche ruft mich an.« Er hört die Mikrowelle aufgehen. »Anthony, deine Tasche ruft mich an. Schon wieder«, sagt sie, obwohl sie beide wissen, dass auf seinem Telefon kein früherer Anruf verzeichnet sein wird. Er fasst in die Tasche, unterbricht die Verbindung. Er schaltet auf Parken und dehnt seine Wadenmuskeln. 

Rings um ihn nesteln die Leute an ihren Radios herum, suchen nach der Story zu ihrer Verspätung. Sie recken die Hälse nach dem Hubschrauber, beobachten sein enges Kreisen, versuchen zu sehen, ob es die Presse ist oder die Polizei. 

Die ersten Radiodurchsagen sind wenig informativ, Teil einer wachsenden Liste von Staumeldungen im Stadtgebiet. Ein liegengebliebenes Fahrzeug in der rechten Spur der 710 Nähe Artesia Boulevard. Ein Unfall auf der 5 Richtung Norden Höhe Colorado Boulevard. Auf der 110 durch die Innenstadt zwischen Fourth und Hill Street Stillstand; hier kommt Ihnen ein Jogger entgegen. Auf der 101 Richtung Süden zähflüssiger Verkehr am Cahuenga Pass. Auf der 405 fünfzehn Minuten Fahrzeit zwischen Getty Drive Center und der 10. Nichts Ausführlicheres. Keine Erklärung. Eine Tatsache unter vielen. 

Ren fährt nicht gern, er hat spät angefangen und ist nie warm damit geworden. Er hat keinen Führerschein, von einem Auto ganz zu schweigen. Weshalb diese Kiste heiße Ware ist, frisch geklaut aus einer Seitenstraße der Mateo Street. Ren setzt darauf, dass das Universum einen Ausgleich schaffen wird. 

Nicht, dass er es für sich tut, er will ja keine Spritztour machen oder den Honda zu einer Ramschwerkstatt bringen und die Teile versilbern. Er braucht ihn nur ganz kurz, zwei Stunden maximal, um Wort zu halten und mit Laila zum Meer zu fahren. Dann wird er den Wagen irgendwo abstellen, wo die Bullen ihn ohne einen Kratzer wiederfinden, so als hätte die Karre sich ganz von selbst auf die Socken gemacht. 

Aber der Stau war nicht eingeplant. Beim ersten Sirenenjaulen werden ihm die Handflächen schwitzig, und sein Herz wummert im Gleichtakt mit den Propellern. Keine gute Tat – das muss ihm keiner sagen! 

Sein Instinkt befiehlt Ren zu türmen, den Honda stehenzulassen, sich zwischen den Autos durchzuschlängeln, über die Leitplanke zu setzen und im Straßengeflecht der Innenstadt unterzutauchen. Aber Familie ist Familie, und er kann sich bestens Lailas Ton vorstellen, wenn er abhaut: Kann nicht ein gottverdammtes Versprechen halten, egal wie einfach. Sagt, wir fahren zum Strand, und kaum wird das Pflaster heiß, macht er die Biege. 

Er schaut auf die Zeitanzeige am Armaturenbrett. Keine halbe Stunde, seit er den Accord kurzgeschlossen hat. 

»Alles gut«, sagt er zum Rückspiegel. Ren lebt nicht im L. A. der Autos, sondern an einem Ort, wo die Menschen zu Fuß gehen, kriechen, humpeln. Wo sie auf die Straße hinausstolpern und vom Bordstein torkeln. Wo niemand ein Haus hat und erst recht niemand ein Auto. Einem Ort, wo zu viele Besitztümer nur Probleme machen.

Schau sie dir an, diese Leute in ihren Wagen, die überquellen von Sachen: Rücksitze vollgehäuft mit Ersatzkleidung, Notfall-Snacks, und unter den Sitzen so viel verlorenes Zeug, dass es für ein ganzes Leben reichen würde. Kabel zum Aufladen der Geräte, die beim Fahren verboten sind. Fernsehbildschirme an der Rückseite der Sitze. Alles nur dazu da, sie abzulenken vom Hier und Jetzt. Ren wischt sich die Handflächen an der Jeans ab. Er drückt an den Knöpfen herum, schaltet das Gebläse von ganz heiß auf ganz kalt, ein komplettes Wettersystem im Drehen eines Rädchens. 

In den Autos vor ihm fahren die Leute ihre Fenster runter, beugen sich heraus, um auf etwas zu schauen, das den Freeway entlangkommt. Ren lässt den Gurt an, das Fenster zu, die Augen auf der digitalen Radioanzeige – ein Pendler unter vielen, der die Zeit absitzt, bis er erlöst wird. Er ist wie du oder ich, fingert an Knöpfen und Schaltern herum, sucht nach einer Kombination von Temperatur und Musik, die diesen Moment schneller vergehen lässt. Vor lauter Konzentration aufs Nicht- Auffallen verpasst er um ein Haar die Show: einen nackten Jogger, der den stehenden Autos entgegenkommt. Ren blickt gerade noch rechtzeitig auf, um ihn von vorn zu sehen. Er kennt den Läufer, ein weißes Gesicht im Panorama der Skid Row. Nicht direkt zu ihr gehörig, aber zu ihrem Umfeld. Ehe Ren sein Fenster herunterlassen, sich dem Jogger bemerkbar machen, ihm Zuflucht bieten kann, ist er zwischen zwei Lastern verschwunden. 

Der Läufer passiert die Ausfahrt Sixth Street und wechselt auf die Überholspur. Dann flankt er über die Mittelplanke, sodass er jetzt mit dem Verkehr läuft, die 110 hinab Richtung Süden. Er hält Schritt mit dem stetigen Strom von Autos, die auf die Ausfahrt zur 10 zurollen. Aber hinter ihm gehen die Fahrer vom Gas, bremsen, trauen sich nicht recht an ihm vorbei. 

Scheißkerl.
Zieh dir erst mal was an! 
Sag mal, tickst du noch? 
Geiler Arsch. 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Nebenan finden Sie in dieser CrimeMag-Ausgabe eine Rezension von Andrea O’Brien.

  • Ivy Pochoda: Wonder Valley (2017). Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Roth und Rudolf Hermstein. ars vivendi, Cadolzburg 2019. 398 Seiten, Klappenbroschur, 18 Euro. Verlagsinformationen.

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