Geschrieben am 1. Februar 2021 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2021

TW: Iva Procházková „Die Residentur“

Open End – als Programm

„Die Residentur“ von Iva Procházková kann man durchaus als Rarität auf dem deutschsprachigen Buchmarkt bezeichnen: Ein Polit-Thriller aus Tschechien, der sich mit osteuropäischen Realien beschäftigt. Putins Russland versucht, sich die ehemalige (fiktive) Sowjetrepublik Kasmenien zurückzuholen, die nicht umsonst irgendwo in der Gegend der Ukraine liegt. Widerstand wird mit militärischen Mitteln gebrochen, die EU droht höchstens ein wenig mit dem Zeigefinger. In Prag liquidiert der russischen Geheimdienst kasmenische Oppositionelle nach Belieben. Das kann dessen tschechische Residentur ohne Probleme machen, denn der russische Einfluss auf Tschechien ist gewaltig. Korrupte Politiker und korrupte Sicherheitsbehörden stehen längst auf den Lohnlisten der Russen. Wie so etwas läuft, exemplifiziert der Roman am Beispiel des nationalistischen Politikers Chytil, der, schon früh noch vom KGB angeworben, heute als hoher Beamter russischen Waffenhändlern hilft, embargorelevantes Kriegsgerät in harmlose Produkte umzuwandeln. Jetzt kandidiert er für das Europarlament, gesponsert von einer russischen Oligarchenbank. Dummerweise aber hat er einen idealistischen Sohn, der sein Herz für den Freiheitskampf der Kasmenier entdeckt hat und sich mit ein paar Kumpeln einer paramilitärischen Truppe anschließt, die in Kasmenien mit eher geringen Erfolgsaussichten kämpft.  Was tun?

Iva Procházková (c) David Konecny

Um Chytils Dilemma herum konstruiert Iva Procházková ein ziemlich finsteres Szenario, bevölkert von finsteren Gestalten: psychotische Killer, Geheimdienstler, kriminelle Bankiers, wackere Journalist*innen, betrügerische Eheleute, politische Opportunisten und eine schwache Polizei. Nur die Jugendlichen scheinen aufzubegehren, im „Freiheitskampf“ der Kasmenier sehen sie eine moralische Option, die gleichzeitig die Elterngeneration treffen kann. Sie radikalisieren sich und ziehen allen Ernstes in den Krieg, wo sie von den Kasmeniern flugs instrumentalisiert werden. 

Iva Procházková, die auch eine renommierte Kinder- und Jugendbuchautorin ist (deswegen vermutlich ihr Fokus auf die jungen Figuren des Romans), organisiert den Roman in diversen Erzählsträngen – die Geheimdienste, Chytil, die Jugendlichen, die Polizei etc -, und wagt es, hoffentlich aus Kalkül, diese Stränge nicht zu Ende zu erzählen, sie offen hängen zu lassen. Gutwillig könnte man sagen, dass es thematische Gemengelagen gibt, die eine konsistenzstiftende Narration nicht mehr zulassen.  Die realpolitischen und privaten Geschichten brauchen ein Open End, alles andere wäre deterministisch und lediglich dem literarischen Plot geschuldet. Aber das hieße auch, dass der Roman die Wirklichkeit lediglich nachbaut, sie simuliert, anstatt mit ihr kreativ umzugehen, was eigentlich das Kerngeschäft von Literatur ist. Es kann aber auch sein, dass Procházková ein Sequel vorbereitet und wir die losen Enden als Cliffhanger begreifen sollten. Egal, ungewöhnlich und interessant ist „Die Residentur“ allemal.

Iva Procházková: Die Residentur (Nekompromisnĕ, 2019). Deutsch von Mirko Kraetsch.  Verlag Braumüller, Wien 2020. 573 Seiten, 24 Euro.

01/2021 Thomas Wörtche

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