
Todesmutige Scharlatanerie
Ein zwiegesichtiger Gunter Gerlach blickt uns auf dem Cover entgegen. Eine draculahafte Gestalt der Nacht auf der einen Seite, ein liebenswürdiger Schalk auf der anderen Seite. Dem Verleger Lou Probstayn ist es zu verdanken, dass Gerlachs beste Kurzgeschichten nun im Literatur Quickie Verlag erscheinen. Mit diesem Band hat er dem Freund und Weggesellen auch einen Freundschaftsdienst erwiesen. Gerlach, Friedrich-Glauser-Preisträger, Autor zahlreicher Hörspiele und der Krimireihe „Kortison“, leidet an Demenz. „Ein falsches Wort und du bist tot“ spielt schwarzhumorig auf diese Erkrankung an. Das mag makaber klingen, ist aber wohl ganz im Sinne des Autors.
Lamentos und Klagegesänge wird man bei Gerlach nicht finden. Seine Figuren sind mitleidlos gegenüber sich selbst. Krankheiten werden pragmatisch gehandhabt: Der Krebs frisst einen auf und der Arzt verordnet eine finstere Wohnung, damit man das Blut nicht sehen muss. Vor Ekel wendet sich der Autor nicht, wie es derzeit en vogue ist, schaudernd ab, sondern schnappt ihn sich und formt ihn um in Horror Trash.
Bizarr-schöne Bilder findet Gerlach im Alltäglichen. So öffnet sich das Kellerfenster „zu einem Grinsen und atmet tausend Asseln aus.“ Dieser surrealistische Ansatz ist von einem permanenten Wunsch nach Verwandlung getrieben. Umgestaltet wird in diesem Band bis zur verlockenden Unkenntlichkeit. Kain und Abel, die biblische Geschichte zweier Brüder, münzt Gerlach in eine Liebesgeschichte um. Blutende Köpfe, zerfetzte Leiber – Gerlachs Mord- und Totschlag-Fantasien sind saftig. Um so überraschender ist sein sanftmütiger und blitzgescheiter Blick auf die Liebe. Da flackert kein Kerzenlicht. Dafür fließt der Kakao in Strömen. „Kakao-Ekstase“ – sämig, dunkel, süß und immer auch gefährlich ist diese Liebe.
Gerlachs Frauen sind vital, von einer ganz natürlichen Kraft durchströmt und wissen, dass sich Liebe nicht im Wahn erschöpft: „Zur Liebe gehört ein klarer Kopf.“ Liebe ist bei Gerlach schlimmer als eine Krankheit: „Sie verwandelt uns in lebende Tote.“ Die Liebe so zu heiligen, dass es unmöglich wird, ihren Namen auszusprechen, gelingt Gerlach.
Zweideutigkeit ist auch hier im Spiel: Erwärmt sich der Körper, ist das ein Symptom von Furcht oder Liebe, von Liebe, die einem die Furcht austreibt, von Furcht vor der Liebe. Wenn Liebe aber über Tod und Leben entscheidet, dann wählt Gerlach im Zweifelsfall den Tod durch Liebe – als Ausdruck der einzig wahren.
Die Sprache der Liebe kommt bei Gerlach wie ein Krähenschwarm daher. Man fürchtet das Dunkle, ahnt, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt. Als Himmelsboten der Liebe waren sie bisher unbekannt. Gerlach aber lässt den Krähenschwarm den Suizidsehnenden tragen und beweist damit, dass Liebe stärker ist als der Tod.
Bella, barmherzige Samariterin von Gerlachs Gnaden, ist eine besonders reizvolle Figur in diesem Reigen der Angebeteten: „Ihr Gesicht leuchtet von innen, Augen und Mund. schwarze und rote Beeren, schwimmen in der Helligkeit aus Milch. Ihr Haar fällt wie dunkelrote Weintrauben über die Stirn und zum Hals hinab.“
Selten beschreibt der Autor so detailliert und opulent Weiblichkeit wie im Falle der Ausnahmeerscheinung Bellas. Meist beschränkt er sich auf eine knapp beschriebene Wirklichkeit und blüht auf in der Metaphorik inneren Erlebens.
Besonders haptisch ist Gerlachs Sprache, wenn er Frauen mit allen Sinnen zu begreifen versucht. Er studiert sie mal als Metzger („Da, wo du deine Hände hast, kommt das Filetsteak her“), mal als Bildhauer: „Ich forme mit meinen Händen das Wachs ihrer Haut, biss sie eine Kerze ist. Ich zünde sie an.“ Das Schöne daran ist, dass die meisten Frauen diesen Gestaltungswillen goutieren.
Nicht alle aber lassen sich greifen. Jenny, „halb Mensch, halb Vogel“ reagiert allergisch auf Geschwindigkeit und Zungenküsse. Ohne Tachometer gibt’s Blaubeereiskotze! Auch das ist Gerlach ein Vergnügen.
Großmütig ist der Ich-Erzähler gegenüber allen Frauen, denen er unerschütterlich die Kraft der Veränderung zuspricht. Er selbst ist dabei zu allem fähig, im Falle Bellas auch zu Scharlatanerie und Todesmut: „Sie geht nur mit Männern, die ihr leidtun.“ Alles setzt der Ich-Erzähler daran, in einen elenden Zustand zu gelangen, um Mitleid zu erregen.
Man liest die Erzählungen wie ein Migränekranker: Leicht pochend beginnt es, dann steigert sich der Druck, es wird einem speiübel und schließlich ist diese wundersame, höchst beglückende Aura da, die einen alles in einem farbigen, unwirklichen Licht sehen lässt.
Insofern war auch Gerlach ein Sehender. Wenn Algorithmen die Liebe steuern, dann sind tote Mädchen aus der Tiefkühltruhe im Bett nicht abwegig, von der „Partnerpolizei“ ganz zu schweigen. In dieser Welt, in der der letzte Raucher unter einer Glasglocke sitzt und junge Mädchen Overalls tragen, „deren Ärmel als Putzlappen enden“, gilt aus Angst vor Staat, Polizei und Tod die Devise „Sauber halten“.
Die Zukunftsvisionen sind fast durchwegs dystopisch: Feuer, Ofen, Glimme sind die Namen der neuen Zeit, einer Eiszeit, in der sich ein Gletscher mit ewiger Kälte auf das Land zuwalzt. Zusammenstehen und das Unheil abwenden können die Bedrohten dennoch nicht. Zu stark ist die menschliche Gier: „Du behauptest, ich raube eure Energie?“ heißt es in „Der Neue“. Wem ist diese Frage nicht bekannt? Krafträuber und Energievampire werden schließlich hinter jedem vermutet, der seinem Herzen Luft macht.
Gerlach aber pfeift auf auf ein Land, in dem die Söhne Opfer und Sieg, Ehre und Treue heißen. Er spielt uns den „Verfechter des bürgerlichen Lebens“ vor, dem nichts mehr zuwider ist als Anarchie. Er schlüpft in den kalkweißen Hygieneanzug und sterilisiert auf Teufel komm raus. So blitzblank ist dann die Oberfläche, dass sich der Spießer darin selbst erkennt.
Gerlach wirft seinen Lesern „Buchstabensand in die Augen“. Es ist ein schöner kleiner Tod, den der Sandmann seinen Lesern beschert.
Gunter Gerlach: Ein falsches Wort und du bist tot. Literatur Quickie, Hamburg 2021. Hardcover, 214 Seiten, 19 Euro.
Ute Cohen kuratierte bei uns die CulturMag-Specials Tabu und Sex. Weitere Texte von ihr bei uns hier. Ihre Romane „Satans Spielfeld“ – Rezension hier – und „Poor Dogs“ – besprochen hier und hier, verhandeln sexuelle Gewalt gegen Frauen.