
Durch die Wälder der eigenen Dunkelheit
Ein Essay von Markus Pohlmeyer
I
True Detective 3, ein weiteres Glanzstück in dieser Reihe, erschließt sich meiner Meinung nach in seiner Erzählstruktur erst durch die Lektüre von Dantes Commedia. Nic Pizzolatto[1] (unter Features: Designing the Decades[2]) erklärt, dass diese Serie sich auf drei Ebenen gleichzeitig voranbewege. Das Schema der Commedia könnte sowohl Subtext als auch Makrostruktur dieser Serie bilden: Inferno, Purgatorio, Paradiso. Transformiert: 1980, 1990, 2015.

Es geht um ein entführtes Geschwisterpaar; der Junge wird tot aufgefunden, das Mädchen bleibt vermisst. Die drei Ebenen, geschickt alternierend und echo-haft verklammert, erwecken trotz ihrer Linearität den Eindruck von Gleichzeitigkeit; alles scheint irgendwie ko-präsent, verwischt, fließt ineinander – auch filmisch; in einer bestimmte Zeitebene wirken die anderen beiden Epochen gleichsam wie anwesend.[3] Die Hauptfiguren, Hays und sein Partner West[4], altern unaufhaltsam, oft kurz davor, an dem immer wieder neu aufzurollenden Fall zu zerbrechen, und an sich selbst, aneinander. Hays heiratet die Lehrerin Amelia: ihr begegnete er während seiner Ermittlungsarbeiten. Sie wird später als Autorin den Fall publizistisch verarbeiten, der die Basis ihrer Ehe bildet und zum Grund des Fast-Scheiterns eben dieser Ehe wird. Sie stirbt. Hays, nun ein alter Mann, gleitet in eine Demenz ab. Ich fühlte mich als Zuschauer mit seinen Erinnerungsglücken und Blackouts in seine Verzweiflung geradezu schmerzlich hineingezogen. Doch das Destruktive greift überall um sich: verfallende Städte, durch Krieg traumatisierte Soldaten, Gewalt auf allen Ebenen, Waffen. Und dann fatale Eskalationen. Irgendwie Hölle.

2015 ist insofern ein Paradiso, weil Hays in den Projektionen/Erscheinungen seiner verstorbenen Frau eine Beatrice findet, die ihn auch mit Hilfe ihres Buches leitet – zur Auflösung des Falls. Doch genau eben diese Auflösung sehen nur wir Zuschauer und Zuschauerinnen, denn im entscheidenden Moment hat Hays einen mentalen Ausfall. Er selbst findet sich irgendwo wieder, weiß nicht, warum er bei einer Frau und ihrer kleinen Tochter steht. Sein Sohn muss ihn, den verwirrten Sucher, abholen. Diese unbekannte Frau war nämlich das vermisste Mädchen, das den Entführern (besser der Entführerin, einer traumatisierten Mutter, die ihren Mann und ihre Tochter verloren hatte) entkommen und sich durch die Vortäuschung ihres Todes eine neue Existenz aufbauen konnte, unerkannt. Sie weiß nicht, wer der alte Mann neben ihr ist. Das bedeutet für Hays, der sieht und doch nicht sieht, einen existentiell zutiefst tragischen Moment, da sein Leben und Beruf genau auf diese Kulmination hinführten. Das Drama wurde aufgelöst, nicht erlöst aber die Hauptfigur. Der Fall ist die eine Geschichte, um die sich die anderen Biographien wie Paratexte gruppieren. Anders gewendet: alle Beteiligten scheinen über 25 Jahre lang die Kontrolle über ihre Leben zu verlieren, sie sind nicht mehr Autoren und Autorinnen ihrer eigenen Biographien.

Hays bleibt am Ende die Versöhnung mit seinen Kindern und dass er die Freundschaft zu West wieder aufnehmen kann, seinem Vergil, der ihn von nun an auch in der Krankheit begleiten wird. Die allerletzte Szene, ein Sprung zurück, zeigt Hays als Soldaten im Vietnam-Krieg; er, allein, in einem dunklen Dschungel, unsichtbar der Feind, muss den Weg finden: konkret durch das Dickicht wie metaphorisch durch den Fall. Das Ende von True Detective 3, einem Meisterwerk, ist der Anfang eines anderen Meisterwerkes:
„Nel mezzo del cammin di nostra vita
mi ritrovai per una selva oscura
chè la diritta via era smarrita.
Auf der Hälfte des Weges unseres Lebens fand ich mich in einem finsteren Wald wieder, denn der gerade Weg war verloren.“[5]

So beginnt das Inferno, durch das Dante und Hays ihren Weg werden finden müssen, mit Vergil und Beatrice, mit der Liebe des Lebens und dem besten Freund. Der heroische Gestus? Hays und West geben nie auf. Und viel Empathie, tief in Innern dieser harten Jungs: Erschütternd und beeindruckend, wie sie sich am (fingierten) Grab der Entführten entschuldigen. Und dazu ein Vorspann, der geradezu kosmisch zu nennen wäre, als ob unser auch noch so geringes irdisches Handeln in einer anderen Wirklichkeit verankert scheint. Unheimlich auch, wie sich Wolken in einen Gehirnscan verwandeln, dann in eine funkensprühende Zündschnur, die in eine weiße Jesus-Statue mit ausgebreiteten Armen hinübergeleitet wird: ständige Metamorphosen. Und dazu ein verletzlicher, brillanter, harter Soundtrack – magisch. Vom Makrokosmos in den menschlichen Mikrokosmos und wieder zurück. Herausfordernd, diese konsequent durchgeführte Strukturierung des Erzählens (Form ist Semantik und umgekehrt), die zudem immanent die Ratlosigkeit der suchenden Detectives zusätzlich verstärkt, weil sie verzweifelt versuchen, dahinter zu schauen. Wer dirigiert das Ganze? Für Hays bleibt das Motiv bestimmend, sehen, d.h. verstehen zu können und den Weg zu finden: durch die Wälder der eigenen Dunkelheit. Aber die Freunde werden längst ihre Freiheit zurückgewonnen haben, weil sie sich dazu entscheiden, nicht aufzugeben – und dadurch ihre Freundschaft wiederfinden. Wenn wir schon durch Höllen wandern müssen, dann mit Vergil.
Verweis
Markus Pohlmeyer: True Detective: mit Kierkegaard vorwärts-zurück in die Hölle? GesellschaftsBILDER. Ein Essay, in CulturMag, Zugriff am 13.10.2014
Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Texte bei CulturMag hier.
[1] Creator/Executive Producer.
[2] So im Bonus-Teil von True Detective. Die komplette dritte Staffel, © 2019 Home Box Office, Disc 1. Daraus auch alle direkten und indirekten Verweise in diesem Essay.
[3] Im Verfahren bisweilen sehr ähnlich der Zeitreise eines Astronauten in 2001. Und es gibt auch einen ‚Zyklopen‘ (ähnlich dem ein-äugigen Supercomputer HAL).
[4] Mit einer mega-coolen Synchronstimme.
[5] Dante Alighieri: La Commedia / Die Göttliche Komödie I: Inferno / Hölle, italien./dt., übers. v. H. Köhler, hg. v. L. Scherer, Stuttgart 2019, 6 f. (aus Canto I)