
Eine Reise mit 68 Personen und Hunderten von wundersamen Texten
(AM) Dass ein Buch in die zweite Auflage geht, ist immer eine schöne Nachricht, für dieses Prachtwerk freut es mich besonders. Von Wilhelm Vornehm in München aus der Poliphilus und der Baldo gesetzt, von Hanne Mandik gestaltet und ermöglicht und lektoriert von Wolfgang Hörner und Moritz Rauchhaus, ist der 640 Seiten starke, auf matt gestrichenem Papier gedruckte Folioband „Welt der Renaissance“ mir seit Wochen ein wunderbarer Begleiter, den ich gar nicht mehr von meiner Seite lassen möchte. In unserem Jahresrückblick 2020 hat Tobias Roth, der mehr als zehn Jahre an diesem Buch geforscht und gearbeitet hat, über den Moment der Manuskriptfertigstellung erzählt. „Vollkommen“ glücklich sei er jetzt, gibt er in dem hier anschließenden Interview zur Auskunft.

Vollkommen glücklich macht dieses Großlesebuch auch uns Leser und Leserinnen. Die italienische Renaissance steht am Beginn des modernen Europa. Was dort möglich wurde, wirkt bis heute: ein neuer Blick auf Mensch und Natur, Individuum und allerlei Horizont. Forschergeist und Wissensdurst, Entdeckungen und viel Neugier, die Zentralperspektive in der Malerei, neue Formen der Selbstbetrachtung in der Literatur, Wiederentdeckung der Antike, offene Türen und Fenster für das Neue wie auch Gegenreformation, Hell und Dunkel, Mittelalter und Neuzeit, alles in wenigen Dekaden versammelt – und Tobias Roth schöpft für uns daraus, zu Teilen in erstmals von ihm übersetzten oder zugänglich gemachten Texten und Dokumenten. Eine Herkulestat – und auch der Verlag Galiani Berlin ist für diese schönstmögliche Präsentation zu rühmen. Entlang von 68 Persönlichkeiten aus Italien, Männern und Frauen, und von Hunderten ihrer Texte entsteht ein gewaltiges Panorama. Ein fabulöses Register von Personen und Figuren, Orten und Institutionen, Themen und Dingen hilft zu allerlei Abstechern und Wanderungen.
Tobias Roth: Welt der Renaissance. Galiani Berlin, Berlin 2020. 640 Seiten, 89 Euro. – Verlagsinformationen hier.
Alf Mayer: Das Wort ist etwas aus der Mode gekommen, aber Sie sind das schon, ein Gelehrter, nicht? Wie lange beschäftigen Sie sich schon mit der Renaissance? Und wie viele Sprachen können Sie?
Tobias Roth: Mit der Renaissance beschäftige ich mich nun ein gutes Jahrzehnt intensiv, auch als Forscher oder eben Gelehrter. Aber im Grunde kann man sich in Europa kaum bewegen, ohne sich mit Renaissance zu beschäftigen; das kann etwa bedeuten, dass die Architektur der Renaissance, wie in Italien, noch ganz gewöhnlich in Benutzung ist und rumsteht. Andererseits sind wir nach wie vor umgeben von Gebrauchsgegenständen und Alltäglichkeiten, die das Mahl der Renaissance auf der Stirn tragen, von gedruckten Büchern über Feuerwaffen bis zu Tomaten. Eine chronische Italophilie war natürlich sehr wichtig für meinen Zugang; das ist auch der Punkt, in dem ich mich weniger als Wissenschaftler oder Gelehrter fühle, weil der Anteil an unsystematischer, chaotischer Begeisterung und Neugier doch recht groß ist. Italienisch ist auch die einzige, die ich über die Sprachen hinaus kann, die ich in der Schule gelernt habe (Englisch, Latein, Französisch). Das Abenteuer liegt vor allem darin, sich auf das Alter der Sprache einzulassen, nicht nur beim Lateinischen. In Italien auf der Straße bin ich zuweilen ungewollt extrem galant, weil mein angelesenes Vokabular so alt ist.
Welcher glückliche Umstand führte zu diesem prächtigen Buch? War das ein Prozess oder hatten Sie einen knackigen Pitch, der das bewirkte?
Das war ein langer, langer Prozess; Wolfgang Hörner und ich haben sehr ausdauernd an Aufbau und Inhalt des Bandes gebrütet. Die Sammelphase der Texte war lang, und von dieser Großzügigkeit in der Dimension der Zeit hat das Buch profitiert. Dass es nun so prächtig vor uns liegt, das verdankt sich dem Kraftakt der Gestalter, allen voran Hanne Mandik.
Und jetzt, wenn Sie zurücksehen, wie glücklich sind Sie?
Vollkommen.
Richten Sie unseren Blick bitte auf zwei Gestalten/ zwei Entdeckungen.
Eine große Entdeckung, eine veritable Schatzkiste ist die Literatur in Neapel, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Eine extreme Dichte an klugen, mitreißenden Dichtern – Neapel steht Florenz oder Rom in nichts nach. Die zentrale Figur dieser literarischen Blüte ist Giovanni Pontano. Das ist allerhöchste, menschliche Kunst. Eine andere, diametral entgegengesetzte Entdeckung sind die Tagebücher der Renaissance. Das gibt es bereits, tägliche Notate über das, was vorfällt, wovon die Leute reden, wie das Wetter ist. Das, was so normal ist, das es in literarischen Texten (zurecht) nicht erwähnt wird. Da erhält man Einblicke, die man sich nie hätte träumen lassen.
Und noch eine Frau bitte.
Eine echte Entdeckung, um gleich an den Tagebuchaspekt anzuschließen, war Alessandra Macinghi, von der unverblümte, literarisch nicht überformte Briefe überliefert sind. Sie lebte in Florenz, hat in den mächtigen Clan der Strozzi eingeheiratet, ihr Mann stirbt recht bald an einer Seuche und ihre Söhne werden ins Exil geschickt – vom mächtigen Clan der Medici. Sie muss den Laden am Laufen halten und Politik machen, also auch Heiratspolitik. Man spürt ihre Mühe, ihre Sorge, aber eben auch eine aus dem Zwang geborene Emanzipation. Alessandra Macinghi ist genauso anspruchsvoll und unnachgiebig wie ihre männlichen Kollegen.
Niccolò Machiavelli ist ja so etwas wie der Lord Voldemort der Renaissance. Tut man ihm damit Gerechtigkeit?
Jetzt musste ich kurz googeln, wer nochmal genau Lord Voldemort ist. So ist das mit den Gelehrten! Aber dafür kann ich jetzt die Frage ganz präzise beantworten: Ganz und gar nicht. Machiavelli ist ein antikenbegeisterter Staatsmann und Republikaner, für seine Zeitgenossen ein schräger, irrlichternder Kopf, der etwas Bahnbrechendes tut: Politik beschreiben und analysieren, ohne die Befunde durch moralische Vorstellungen oder metaphysische Illusionen zu filtern. Der berühmte Principe ist deskriptiv, nicht normativ, es ist ein Hand- und kein Erbauungsbuch. Und das in beide Richtungen, etwa: Der Fürst soll zur Bevölkerung nett sein, und zwar nicht, weil es moralisch vorzüglich ist, sondern weil es funktioniert und die Herrschaft stabilisiert. Wenn es nicht funktioniert, dann steht freilich voldemortisches Massaker an – aber Machiavelli ist da nur der Botschafter; dass es für Massaker unter Menschen keine dunkle Macht braucht, sondern nur Normalität, das ist nicht schön, aber das weiß jeder.
Auch Catherine Fletcher in ihrem „The Beauty and the Terror: An Alternative History of the Italian Renaissance“ zeichnet ja ein düsteres Machiavelli-Bild, rekurriert auf Bertrand Russell, der den „Principe“ ein „Handbuch für Gangster“ nannte und zeigt ein gewalttätiges, blutrünstiges Jahrhundert. Sie hingegen stellen das Licht des Fortschritts auf den Scheffel, nicht unter ihn. Die Renaissance also eher dunkel oder hell?
Warum nicht beides? Die Renaissance war eine grausige Lebenswelt und hat großartige Gedanken und Künste hervorgebracht. Beides lässt sich nachvollziehen, beobachten, bedenken. Aber so gerne ich diese Gedanken nocheinmal denke, diese Texte lese und das prachtvolle Satzbild der Drucke betrachte, so ungern würde ich ein Renaissanceleben leben. Als oberbayerischer Plebs hätte ich da wenig zu lachen, da wäre die Renaissance im hellen Sinne noch gar nicht bei mir angekommen während Napoleon vorbeireitet. Renaissance in diesem emphatischen Sinne, dass der Mensch per Blitzschlag neu wird und die ganze Welt aussieht wie ein Botticelli, das hat natürlich nie stattgefunden, auch für Fürsten nicht. Aber im Grunde macht das die überlieferten Gedanken und Kunstwerke noch großartiger.
Sie sind ja auch kulinarisch versiert, haben in dem schönen Buch „In hundert Menus durch die Weltgeschichte“ geführt (unsere Besprechung hier). Bill Buford in seinem neuen Buch „Dreck“ macht sich viel Mühe mit seiner These, dass die authentische, unübertroffene französische Küche eigentlich während der Renaissance aus Italien importiert worden sei. Was sagt Ihr Quellenstudium dazu?
Den Eindruck teile ich, dass die hohe Küche dem gleichen Vektor folgt wie die restliche hohe Kultur, von Italien nach Frankreich. Aber die Essgewohnheiten waren noch ganz andere, die Menus und Rezepte, die aus fürstlichen Küchen überliefert sind, haben durchaus irritierende Momente. Hoch poetische, irritierende Moment.
Sie haben für uns drei Auszüge aus Ihrem Buch ausgesucht. Was tischen Sie uns auf?
Es gibt drei Kleinigkeiten, also gleichsam einen Aperitivo. Kleine und klitzekleine Formen gibt es in der Renaissance in wunderbarer Vielfalt, und zwei der drei sind sogar Erfindungen der Epoche. Beginnen wir mit der antiken Gattung: Fabeln, und zwar aus der Feder Leonardo da Vincis. Zwar aufgeschrieben und in den abenteuerlich überlieferten Konvoluten Leonardos überliefert, sind diese kurzen Texte und Textideen wohl eher für die Mündlichkeit gemacht. Leonardo war auch Hofmann und musste im Gespräch bei Hofe unmittelbar seinen Geist beweisen und die hohen Herrschaften unterhalten; das geht natürlich am besten, wenn die Hausaufgaben gemacht sind. Aus der Praxis entstanden sind auch die „Merksätze“ von Francesco Guicciardini – einem unfassbar skeptischen und kühlen, kaltschnäuzigen Kopf, ein guter Freund und Kollege Macchiavellis, ein hoher Diplomat und Kriegsherr für Florenz und den Vatikan. Als Managerratgeber und faszinierend-grausiger Voldemort wäre Guicciardini eigentlich viel besser geeignet als Macchiavelli, zumal man seine „Merksätze“ nicht zu solchen Ratgeberzwecken zerfleddern müsste: Die „Merksätze“ sind die Geburtsstunde des politischen Prosa-Aphorismus. Eher merkwürdige Sätze als Merksätze bestimmen den dritten kleinen Gang, ein paar Witze aus einer Sammlung von Aussprüchen, Situationen, Skizzen, Witzen und Mikro-, besser: Nanonovellen, zusammengestellt von Angelo Poliziano. Poliziano ist die dichterische Stimme des Florenz der Medici, ein Literat und Philologe von ausschweifendster Phantasie, beängstigender Gelehrsamkeit und überwältigender Sinnlichkeit; manchmal bekomme ich den Eindruck, dass sein Herz und sein Hirn ein einziges Organ sind, auf Gedeih und Verderb. Und zum Glück, das zeigen unter anderem diese kurzen Witze, kann er auch einfach albern sein.
Und hier die Textauszüge:

Einige Fabeln von Leonardo da Vinci
Der Wein, dieser göttliche Rebensaft, fand sich in einem goldenen und prachtvollen Becher auf dem Tisch Mohammeds. Zuerst begeistert von solchem Ruhm und solcher Ehre, verfiel er plötzlich auf die gegenteilige Ansicht und sagte zu sich selbst: „Was tue ich da? Worüber freue ich mich denn? Bin ich denn nicht kurz davor, den Tod zu finden und den goldenen Aufenthalt dieses Bechers zu verlassen, nur um in die hässlichen und stinkenden Höhlungen des menschlichen Körpers einzugehen, wo ich vom duftenden und wohltuenden Getränk in grässlichen und beißenden Urin verwandelt werde? Als ob das noch nicht genug wäre, muss ich nicht danach noch so lange in einer abscheulichen Grube liegen, vermischt mit all dem stinkenden und zersetzten Zeug, das die Eingeweide der Menschen verlassen hat?“ Er schrie zum Himmel, er flehte um Rache für solches Unglück, er forderte, einer solchen Schande endlich ein Ende zu setzen; zumindest sollte aus den Trauben dieses Landes, die die schönsten und besten Trauben der ganzen Welt waren, kein Wein mehr gemacht werden. Also ließ Jupiter die Seele des von Mohammed getrunkenen Weines nach oben in dessen Gehirn aufsteigen und es so ergreifen, dass Mohammed schier verrückt wurde und unzählige Irrtümer von sich gab. Deshalb erließ er, als er wieder zu sich gekommen war, das Gesetz, niemand in Asien dürfe mehr Wein trinken. Von da an ließ man den Reben und ihren Früchten die Freiheit.
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Die Maus wurde in ihrer kleinen Behausung durch das Wiesel belagert. Während das Wiesel ununterbrochen darauf lauerte, die Maus zu erlegen, betrachtete diese durch einen kleinen Spalt die große Gefahr. In der Zwischenzeit näherte sich die Katze und schnappte sich plötzlich das Wiesel und verschlang es. Die Maus brachte einige ihrer Nüsse Jupiter als Opfer dar und dankte der Gottheit aufs Höchste. Sie schritt aus ihrem Loch heraus, um die schon verloren geglaubte Freiheit zu genießen, aber dieselbe wurde ihr, zusammen mit ihrem Leben, sogleich von den scharfen Klauen und Zähnen der Katze genommen.
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Das Wasser fand sich im stolzen Meer wieder, in seinem Element, und da bekam es Lust, sich hoch in die Luft zu erheben. Mit der Hilfe des Elementes Feuer stieg es als leichter Dampf nach oben. Es schien fast so dünn wie die Luft selbst. Aber oben in der dünnen und kalten Luft angekommen, wurde es vom Feuer verlassen. Kleine Kügelchen, ganz klein und eng, vereinigen sich, werden schwer, der Hochmut kommt zu Fall und das Wasser fällt vom Himmel. Daraufhin wird es von einer trockenen Erde aufgesogen, wo es zur Buße seiner Sünden für lange Zeit eingekerkert wird.
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Die Spinne glaubte, im Schlüsselloch etwas Ruhe zu finden, fand aber den Tod.

Einige Merksätze von Francesco Guicciardini
Es ist ein großer Fehler, über die Dinge dieser Welt unterschiedslos und allgemeingültig zu sprechen und sozusagen von einem Regelfall auszugehen. So gut wie alle Dinge sind voneinander durch Eigenheiten und Ausnahmen unterschieden, auf Grund der Vielfalt der Begleitumstände, sodass man sie nicht festnageln und mit einem Maß messen kann. Alle diese Eigenheiten und Ausnahmen kann man in keinem Buch nachlesen, man muss sie vielmehr von der Unterscheidungskunst erlernen.
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Kein Staat lässt sich mit gutem Gewissen aufrechterhalten. Mit Blick auf ihre Ursprünge sind sie alle gewalttätig, bei den Republiken angefangen, im eigenen Land und nicht nur auswärts. Von dieser Regel nehme ich auch den Kaiser nicht aus und am wenigsten die Pfaffen, deren Gewalt eine doppelte ist, weil sie weltliche und geistliche Waffen zugleich führen.
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Die Philosophen und die Theologen und alle anderen, die sich mit übernatürlichen Dingen beschäftigen, erzählen tausend Verrücktheiten. In Wirklichkeit tappt die Menschheit im Dunkeln der Dinge, und dergleichen Nachforschungen dienten und dienen mehr dazu, die Gemüter aufzupeitschen, als die Wahrheit zu finden.
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Der Mensch kann sich in dieser Welt nicht aussuchen, in welchen Stand er geboren wird, ebenso wenig, welche Tätigkeit, welches Geschick er verfolgen wird. Wenn man die Menschen loben oder tadeln will, darf man also nicht auf das Schicksal schauen, das sie ereilt hat, sondern darauf, wie sie darin zurechtkommen. Lob und Tadel muss sich auf das Verhalten der Menschen beziehen und nicht auf die Umstände, in denen sie sich befinden. So wird auch in einer Komödie oder Tragödie nicht der, der den Herren und König spielt, höher geschätzt als der, der den Diener spielt, sondern schlicht und ergreifend der, der am besten spielt.

Einige Witze von Angelo Poliziano
Die Gattin Neros steigt in einen Birnbaum und vergnügt sich dort mit ihrem Liebhaber. Nero, eifersüchtig, umschlingt den Fuß des Baumes. Christus und der Teufel kommen auf einem Pferd vorbei, denn sie verfolgen eine Seele, über die sie uneins sind. Sie geben dem Blinden das Augenlicht und der fragt sie, was die denn da oben treiben. Die Gattin antwortet ihm: „Wir machen Wasser aus Augen.“
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Eine Dame wurde gefragt, welche Schwänze Frauen am liebsten seien, ob große oder kleine oder mittlere, und sie antwortete: „Die mittleren sind die besten.“ Auf die Frage, warum, antwortete sie: „Weil große nicht zu finden sind.“
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„Nicht um der Liebe Gottes Willen, sondern weil du bedürftig bist.“ Das sagte Donatello zu einem Armen, der ihn um der Liebe Gottes Willen um ein Almosen gebeten hatte.
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Giuliano de’ Medici war noch ein kleines Kind. Er saß gerade auf dem Töpfchen, als man ihm zurief, dass soeben Papst Pius vorbeigehe. Er antwortete: „Soll er vorbeigehen, ich bin gerade beim Scheißen.“ Das ist heute noch ein Sprichwort.
(Und dies hier ist, mit einer Verneigung der Culturmag-Redaktion, ein Salut an Wolfgang Hörner, sozusagen Tobis Roths Manuzio …)

