
So ein Pech aber auch
Kazuhisa Fukase, der bei Nishida Bürobedarf arbeitet, hat die wichtigsten Lektionen in seinem Leben verinnerlicht: Zurückhaltung, Demut und leiblichen Genuss. Fukase ist nicht gerade ein Wortführer, eher ein Mitläufer, eine Randfigur, der sich anderen gerne anschließt, ihnen zu Diensten ist und darunter leidet, übersehen zu werden. Die Aufmerksamkeit, die ihm plötzlich zuteilwird, als er einen Zettel unter seinem Scheibenwischer vorfindet, behagt ihm gar nicht. Er hat sich zu tief ins Vergessen eingegraben. Kazuhisa Fukase ist ein Mörder! steht darauf.
Nicht nur er erhält eine solche Mitteilung auch einige seiner ehemaligen Mitstudenten.
Der Mensch hat nur seinen guten Ruf zu verlieren, oder? Um ihn zu schützen, begibt er sich in das Reich der Lügen und verfällt der Scham, wenn ihm ein Fehltritt unterlaufen ist. Es soll mitunter vorkommen, dass japanische Vorstandsvorsitzende in Tränen ausbrechen, wenn ihnen ein fehlerhaftes Verhalten nachgewiesen wurde oder die Bilanz tief in den roten Zahlen feststeckt. Die Anschuldigung, ein Mörder zu sein, verunsichert Fukase zutiefst. Trägt er die Schuld am Tod eines anderen? Irgendwie? Die Autorin Kanae Minato nähert sich auf unterschiedlichen Erzählebenen in ihrem neuen Roman „Schuldig“ einem abschließenden Urteil. War Hirosawas Tod ein Unfall? Haben Fukase und seine Kommilitonen ihn in den Tod geschickt?
Der Titel der deutschen Ausgabe lässt in der Übersetzung von Sabine Mangold da wenig Spielraum. Der Roman hingegen widmet sich weniger der Suche nach der Gerechtigkeit als der Überwindung eines moralischen Katers. Die eigenen Zweifel können zur Qual anwachsen. Wie sie wieder loswerden? Indem Fukase die Wahrheit herausfindet?
Fünf Studenten verabreden sich über die Festtage zu einem Saufgelage, wollen es vor den Prüfungen noch einmal richtig krachen lassen. Vier von ihnen werden es überleben. Als Murai am Bahnhof abgeholt werden soll, müssen sie untereinander ausmachen, wer fährt. Wer hat am wenigsten getrunken? Immerhin zieht ein Taifun auf. Die Wahl fällt auf Hirosawa, der noch gar nicht solange einen Führerschein besitzt. Sein Wagen bricht auf einer Bergstraße in einer Kurve aus und stürzt einen Hang hinab.

Ein schrecklicher Unfall.
Drei Jahre später tauchen die anonymen Schuldzuweisungen auf, sodass jedem der Studenten klar wird, dass es wohl einen Mitwisser gibt, der sie anklagt, gar Rache will. Dabei haben sich die vier Überlebenden mit dem Schicksalsschlag arrangiert. Schließlich gingen die polizeilichen Ermittlungen von einem Unfall aus.
Wäre da nicht dieser Zettel hinter dem Scheibenwischer, würde jeder Tag wie der andere sein. Doch Fukases Erinnerungen zermürben ihn, hätte er es verhindern können? Handelt es sich in so einem Fall um Mord und nicht um die Verquickung unglücklicher Umstände? Gab es vielleicht sogar jemanden, der ein Interesse daran hatte, dass Hirosawa starb? Jeder Mystery-Crime würde nun ein reiches Tableau an falschen Fährten, Verdächtigen und Anschuldigungen ausbreiten.

Diese Art von Kreuzworträtsel-Krimi findet bei Kanae Minato nicht statt. Statt um Aufklärung geht es um Erlösung. In der fast naiven Suche Fukases nach der Wahrheit, spiegelt sich die Selbstentblößung einer Generation wieder, die darauf bedacht ist, im Strom zu schwimmen. So wenig wie möglich, abzuweichen. Wie aber, wenn die Frage von Schuld und Unschuld keinen Ausweg mehr lässt, man nicht so einfach abtauchen kann? Wie gehen wir mit dem Gefühl der Schuld um, selbst wenn wir nicht schuldig sind, fragt die Autorin. Können wir uns von einem Verdacht reinwaschen? Zerbrechen wir innerlich? Oder unterwerfen wir uns lieber einer Lebenslüge, statt uns den Rest unser Tage zu verderben?
Dabei wechselt die Wahrheit mit jedem Blickwinkel. Was ist mit der Realität, wenn wir sie angesichts eines Mordvorwurfs beschreiben? Schon in Rashomon von Akira Kurosawa wird die Frage nach der objektiven Realität gestellt. Wann kann man überhaupt von Schuld sprechen? Ist der verunglückte Fahrer nicht selbst schuld? Er hat sich schließlich hinters Steuer gesetzt.
Der Gruppenzwang war hoch. Hirosawa musste fahren. Es wurde von ihm erwartet.
Kanae Minatos Romane und Kurzgeschichten sind in Japan äußerst erfolgreich und mehrfach ausgezeichnet worden.

Hinter Fukases Geschichte ist die tiefe Verunsicherung allgegenwärtig. Egal, wen Fukase auf der Suche nach der Wahrheit auch aufsucht und befragt, Hirosawas Tod hat Spuren hinterlassen, nicht nur in Fukases Leben. Es scheint, als habe ihn niemand wirklich gekannt.
Mord oder Unfall?
Fukase bleibt nur der Geschmack von gutem Kaffee, den der Roman am Anfang und am Ende durchzieht. Oder der Kirchblütenhonig. Die schlichte Einteilung der Menschen nach Farben.
Allein das Wissen um die eigenen Lügen, machen den Menschen zu dem, der er ist.
Wolfgang Franßen
- Kanae Minato: Schuldig (Reverse). Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. C. Bertelsmann, München 2019. Hardcover, 320 Seiten, 18 Euro.
Wolfgang Franßen ist Herausgeber im Polar Verlag. Seine Texte bei uns hier.