Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

Wolfgang Franßen zu „Fahrenheit 451“

Bist du glücklich?

Diese Frage stellt das Mädchen Clarice dem Feuerwehrmann Montag gleich zu Anfang von „Fahrenheit 451“. Eine Frage, die Ehen zum Einsturz bringt, Karrieren beendet, subversiv sich festsetzt und zu gleich naiv erscheint. Oft genug ist es danach nicht mehr so wie zuvor. Glücklich? Wer? Ich? Der blasse, an seinen Alltag gewöhnte Montag beginnt in den Himmel zu schauen. Montag. Hat es je einen besseren Namen für einen Helden gegeben? Dazu Feuerwehrmann. Nicht erst seit 9/11 die Verkörperung des wahren Heldentums. Nur löscht er keine Brände, er legt sie. Er verbrennt Bücher.

„Fahrenheit 451“ ist das Paradebeispiel für einen Roman, den alle zu kennen vorgeben, weil er starke Bilder besitzt und in Ausschnitten auf You Tube zu finden ist. Ein Roman, der sich ob rechts oder links leicht dazu benutzen lässt, die jeweilige Gesellschaft zu kritisieren. Was ist nicht alles, was Ray Bradbury als Vision der Zukunft beschrieben hat, in unserem Alltag angekommen. Wir amüsieren uns zu Tode und treten unsere Werte mit Füßen, schreien die Rechten. Ein exemplarisches Beispiel für das Leben in einem totalitären Regime, die Linken. Bradbury hat also unseren Nerv getroffen, nicht zuletzt, weil er auch das Ruhebedürfnis jener einfängt, die sich als Mitte empfinden.

Oscar Werner und Julie Christie im Film

Wahrscheinlich verdanken wir es Oscar Werner, dessen wienerisch angehauchter Ton 1966 die süßliche Verfilmung von Francois Truffaut aufwertete. Auch wenn es Werner nicht gelang, Truffaut davon zu überzeugen, die Verfilmung schärfer anzulegen und an die tatsächliche Bücherverbrennung anzuknüpfen. Eine Dystopie. 

1953 geschrieben wird eine Gesellschaft beschworen, in der er ein Einheitsstaat die absolute Kontrolle durchsetzt. Seine Bürger sind zur Zufriedenheit verdammt. Entertainment everywhere. Die eigenen vier Wände durch Videoschirme ersetzt. Noch warten wir auf schnellere Prozessoren, um dieses absolute Serienglück in unseren Wohnungen zu verwirklichen. Solange hängen wir am Handy fest, um nicht den Kontakt zur Welt zu verlieren. 

Die Erstausgabe von 1953

Montag schaut also in den Himmel und stellt plötzlich Fragen. Nicht gleich nach dem Glück, aber sein Blick verändert sich. Es muss andere Antworten als jene geben, die ihm eingetrichtert wurden. Zurechtgeschnitten, verfremdet, damit die allgemeine Zufriedenheit bloß nicht irritiert wird. Schließlich rückt die Feuerwehr seit 1790 aus, um nicht nur Bücher zu verbrennen, Häuser werden in Schutt und Asche gelegt, Leser in Irrenanstalten gesteckt.

Der Geruch von Kerosin. Besser geht’s nicht. Bloß nicht tiefer denken, in ein Buch versinken, sich den gültigen Fakten entziehen. Solange es lediglich eine Meinung gibt und keine zweite, besteht kein Grund zur Verunsicherung. Solange wir nichts von Kriegen wissen, existieren sie nicht. Das hat natürlich etwas Romantisches und bedarf hoher Mauern der Ahnungslosigkeit. 

In der Neu-Übersetzung von Peter Torberg hat Bradburys Roman an Biss gewonnen. Gleich denkt man an die Kulturbeseitigung seitens Shitstorm, weil die Masse immer im Recht ist. An Fake News, die zum Aufweichen von Tatsachen in die Welt hinausposaunt werden. An den Wust von Informationen, denen wir nur noch durch Algorithmen Herr werden. Allerdings gefiltert, um unsere Sicht der Welt zu bestätigen.

Der 1920 in Waukegan, Illinios, geboren und 2012 in Los Angeles verstorbene Ray Bradbury war erfolgreich. Bereits während seiner Zeit auf der High-School veröffentlichte er erste Kurzgeschichten. Gleich mit dem ersten Buch „Mars-Chroniken“ gelang ihm der Durchbruch. Es folgten Romane wie: „Something Wicked This Way Comes” und „Death Is a Lonely Business “. Auf einen Autor wie ihn, der sich augenzwinkernd durch die Genres bewegte, egal ob Crime, Science-Fiction oder Horror wartete Hollywood und das Fernsehgeschäft. Und doch erscheint im Rückblick „Fahrenheit 451“ als das Buch, das er hatte schreiben müssen. 

Je mehr Zeitzeugen der Nazi-Verbrechen versterben, desto mehr verblassen ihre Warnungen. In Corona-Zeiten haben wir bemerkt, wie wichtig uns Bücher sind. Die Branche hat die Krise erstaunlich gut überstanden. Wirtschaftlich also kein Grund zur Sorge. Den Montag in uns haben wir längst überschritten, wir schlagen uns mit dem Freitag herum, dem Klima und der bangen Frage herum, ob die Welt uns nicht gerade abschafft. 

Wer das letzte Interview mit Oscar Werner liest, das der Wiener veröffentlicht hat, spürt einen Überdruss an einer Gesellschaft, die die alten Werte nicht pflegt, er prangert die Verrohung auf den Straßen bei den Züricher Krawallen an und frönt seinem Widerwille gegen eine Zeit des Aufbegehrens. Das Zeugnis einer Verblendung. Es braucht Veränderung und wer sich ihr nicht stellt, muss miterleben, wie ohne ihn alles verändert wird. 

„Fahrenheit 451“ erschien mitten in den bleiernen 1950-Jahren in den USA, errang schnell Kultstatus. Die Geschichte um einen naiven Feuerwehrmann trägt viel Hoffnung in sich. Es gibt Gleichgesinnte. Es gibt Widerstand. Warum nicht den Spieß umdrehen, die Bücher in die Feuerwehren schmuggeln und zusehen, wie die abgefackelt werden. An Seiten von Camus, der die Revolte als einzige mögliche Lebensform ausgerufen hatte, geriet der Roman zur mahnenden Vision. Was die Frage, ob Romane etwas bewirken können, eher nüchtern erscheinen lässt. Nicht die Romane sind es, sondern die Leser. Die Montage.

Siebzig Jahre nach der ersten Veröffentlichung erscheint unsere Realität, geschickter, feinfühliger, in der Verführung fast vollendet. Und da wundern wir uns, dass in Corona-Zeiten viele Menschen darauf bestehen, sich unterhalten zu lassen und feiern zu dürfen? Wir dürfen uns schließlich nicht alles verbieten lassen. Notfalls greifen wir zu einer Verschwörungstheorie. Dabei haben nur erneut die 1950er Jahre bei uns Einzug gehalten. Wir befinden uns im blinden, spätpubertären Zustand allgemeiner Zufriedenheit, solange keine Immigranten uns denn Sozialstaat kaputtmachen, solange die Musik auf den Partys nicht abgedreht wird. 

Gib den Leuten irgendwelche Wettbewerbe, bei denen sie gewinnen, wenn sie die Songtexte von Radiohits oder die Namen der Hauptstädte kennen oder wissen, wie viel Mais letztes Jahr in Iowa geerntet wurde. Stopf sie mit nicht entflammbaren Daten voll, fülle sie so mit ‚Fakten‘ ab, dass sie pappsatt sind, sich aber damit geistreich fühlen. Dann wird es ihnen so vorkommen, als würden sie tatsächlich denken, und sie haben das Gefühl voranzukommen, ohne sich zu rühren. Und sie werden glücklich sein …“

Bei Fahrenheit 451 liegt die Selbstentzündungstemperatur von Papier, das entspricht 233 Grad Celsius. Es ist an der Zeit auszurechnen, wie viele Bytes es benötigt, um ein Feuer zu entfachen, damit alles beseitigt wird, was zur Destabilisierung führt.

Wolfgang Franßen

Ray Bradbury: Fahrenheit 451 (zuerst 1953). Neuübersetzung von Peter Torberg. Diogenes Verlag, Zürich 2020. 272 Seiten, 24 Euro.

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