Geschrieben am 31. Dezember 2019 von für Highlights 2019

CulturMag Highlights 2019, Teil 13 (Schorneck – Schwartz – Schweiger – Seeßlen)


Frank Schorneck –
Claudia Schwartz –
Wolfgang Schweiger –
Georg Seeßlen –

Frank Schorneck

Das Jahr 2019 wird in meiner Erinnerung stets präsent bleiben als das Jahr, in dem wir einen Dachgeschossausbau in Angriff genommen haben. Seit diesem Jahr kann ich mitreden bei Fragen zu Brandschutz, Statik, Trockenbau und blicke nicht mehr nur höhnisch, sondern durchaus auch ein wenig mitleidig zu den weltbekannten Baustellen in Berlin oder Stuttgart. Auch das Phänomen der Kostenexplosion ist mir vertrauter geworden als ich es für nötig erachtet hätte. 

Für die Literatur blieb da nicht nur wenig Zeit, sondern oft vor allem die Ruhe. Eines der Bücher, die mich dennoch besonders ansprechen konnten, ist Cornelia Funkes Roman Das Labyrinth des Fauns. Ihre literarische Adaption von Guillermo del Toros Film „Pans Labyrinth“ ist weitaus mehr als eine bloße Nacherzählung von Filmstoff. Was Funke aus einem ihrer erklärten Lieblingsfilme geschaffen hat, darf man getrost als literarische Magie bezeichnen: Keine Szene hat Cornelia Funke verändert, keinen Dialog gekürzt. Sie formt die phantastischen Bildwelten des Films mit Worten nach und bereichert die Charaktere um eine Gefühls- und Gedankenwelt. Vor allem aber fügt sie der bekannten Filmgeschichte zehn märchenhafte Episoden hinzu, „Interludes“, die einige lose Fäden der Filmhandlung zusammenfügen und wiederum für sich ein neues Labyrinth bilden.

Ein anderes Buch hat mich mit Wehmut erfüllt, als ich es in Händen hielt: Raymond Federmans Roman Der Pelz meiner Tante Rachel in einer neuen, illustrierten Auflage. Es ist nicht der Roman selbst, der mich erschüttert hat, sondern die Erkenntnis, dass die Neuauflage anlässlich Raymonds zehntem Todestag erschien. Ich hatte das Vergnügen, Raymond Federman durch die Herausgabe des Magazins Macondo und das gleichnamige Literaturfestival kennenlernen zu dürfen. Es kommt mir fast wie gestern vor, dass wir im Bochumer Bermuda3eck zusammensaßen – das soll schon zehn Jahre her sein? Der Pelz meiner Tante Rachel ist kein zentraler Text in Federmans Werk, ragt aber dennoch heraus, da es der einzige auf Französisch geschriebene Roman ist, der Sprache seines Geburtslandes. Federman variiert auch hier autobiographische Motive, die sich durch sein Werk ziehen: Der Schubs in den Wandschrank, der ihn als Kind vor der Deportation rettete, die Vernichtung seiner Familie, die Flucht aufs Land und später in die USA, Nudeln, Schreiben und Jazz. Hier spricht der Erzähler uns Leser direkt an statt dass es unterschiedliche Erzählperspektiven gibt, wechseln wir Leser unsere „Zuhörerperspektive“. Mal richtet der Erzähler seine Worte an eine Zufallsbekanntschaft in einem Café oder auf einer Parkbank, mal an die Lektorin eines Verlages. Je nach Adressat gibt sich der Erzähler schmeichelnd, belehrend, redselig, flirtend – immer aber weitschweifig und sehr unzuverlässig, was Fakten betrifft. Dabei bezeichnet er sich als „Literatur-Fußgänger“, der Umwege liebt, gar als „Balletttänzer der Fiktion“. Dieses Pirouettieren, das Sprunghafte und Verworrene der Erzählung, greift Hartwig Ebersbach in seinen Illustrationen auf. In impulsiv automatischem Zeichnen nähert er sich dem Text, wodurch diese Edition zu einem stimmigen Gesamtkunstwerk wird.

Musikalisch wurde 2019 bei mir begleitet von der Musik Glen Hansards. Der irische Singer-Songwriter beherrscht das Spektrum leiser Klänge bis zum emotional-brachialen Ausbruch. Seine Live-Konzerte sind eine Klasse für sich und dank einiger glücklicher terminlicher Fügungen konnte ich mich davon allein in diesem Jahr in der Hamburger Elbphilharmonie, in London, Köln und München überzeugen.

Ein weiterer Live-Tipp ist die Formation Hodja. Hodja bringen eine sehr eigene Mischung aus reduziertem Rock’n’Roll und Blues auf die Bühne, vermengen Soul und Gospel mit harten Schlagzeugbeats und Gitarrenriffs, die Grenzen zum Hardrock überschreiten. Es gibt auch leisere, gefühlvolle Passagen, doch schnell rumpelt es wieder los, steigern sich Schlagzeug und Gitarre in filigranen Lärm. Und inmitten dieses kratzigen Soundteppichs steht der Angryman. Er predigt, er wimmert, er rappt und schreit sich die Seele aus dem Leib, ist immer wieder auf Tuchfühlung mit dem Publikum.

Gar nicht angry dagegen Lilly among clouds. Die Sängerin, Komponistin und Texterin (was man in der heutigen Musikwelt tatsächlich hervorheben muss, wo doch viele der radioverstopfenden Chartsongs nur von einer Handvoll Ghostwritern zu stammen scheinen) war beim Vorentscheid für den ESC dabei und hätte mit ihrem Song „Surprise“ sicherlich einen besseren Platz in Israel erreichen können als die Retortensisters. Mir persönlich war der Vorentscheid-Auftritt zu sehr für den ESC aufgebauscht und theatralisch, aber die Songstruktur blieb hängen. Jedenfalls hat meine zwölfjährige Tochter Lilly among clouds für sich entdeckt – und als Lilly in diesem November im Bochumer Bahnhof Langendreer auftrat, waren wir natürlich zusammen dort. Ohne Windmaschine und wallende Tücher steht da plötzlich eine ganz natürliche junge Frau auf der Bühne, die manchmal nicht so recht weiß, wohin mit den Händen, aber dafür ihre Stimme umso mehr im Griff hat. Lilly among clouds geht in ihrer Musik auf, sie würde diese Spielfreude wahrscheinlich auch an den Tag legen, wenn der Saal leer wäre. Von minimalistischen Arrangements am Klavier bis zu tanzbaren Nummern, bei denen die Band zeigen kann, dass sie auch rocken kann, reicht das Spektrum. „Breitwand-Pop“ hat das jemand in einer Rezension beschrieben und das trifft es durchaus. Der Begriff „authentisch“ wird ja gerne inflationär bei Musikern genutzt, aber wenn es auf jemanden zutrifft, dann auf Lilly among clouds.

Streaming-Tipps entfallen von meiner Seite in diesem Jahr, da ich nach mehreren Monaten ohne vernünftige Internetanbindung auch unfreiwillig Bekanntschaft mit dem Phänomen Digital Detox gemacht habe…  

Frank Schorneck ist Rezensent und Literaturveranstalter (u.a. „Macondo – Die Lust am Lesen“) sowie Vorleser. Mit seinen Kollegen von der www.whiskylesung.de widmet er sich dem Wechselspiel von Alkohol und Literatur. Seine Texte bei CulturMag.

Claudia Schwartz

Auch wenn das Ende von „Game of Thrones“ in verschiedener Hinsicht eine Zäsur in der Welt des Streamings sein könnte, so bot das Jahr 2019 wieder absolute Highlights: Die Fortsetzungen von „Big Little Lies“ und „The Crown“ sowie Martin Scorseses Mafia-Epos „The Irishman“

Fast schien es so, als sei dieses TV-Serien-Jahr 2019 mit dem Abspann der achten Staffel von „Game of Thrones“ schon im Frühjahr zu Ende. Für die erzürnten Fans fing es allerdings damit erst an: Diese letzte Staffel kann es nicht gewesen sein, so der Tenor. Abriss und Neubau wurden gefordert. Das wirkte nicht nur auf Leute bescheuert, die „Game of Thrones“ nie brauchten. Auch wer acht Jahre, acht Staffeln und 73 Folgen lang, von Cliffhangern gepiesackt, Theorien wälzte, weshalb es so oder anders kommen musste, wer die eigene Wahrnehmung, wenn nicht konterkariert, so doch regelmässig auf die Probe gestellt sah, musste nun loslassen können. Einmal ist Schluss. Der in all den Jahren von „GoT“ oft von Fans drangsalierte Schöpfer der Romanvorlagen, George R. R. Martin, der die beiden fehlenden Bücher noch zu Ende schreiben will, hat recht, wenn er auf die «silly question» der Fans, was denn nun das richtige Ende wäre, mit der Frage reagiert, wie viele Kinder Scarlett O’Hara (Gone With the Wind) gehabt habe. Genau: Romanvorlage und Film divergieren diesbezüglich. Eine Geschichte ist eine Geschichte ist eine Geschichte. Selbst in der manchmal sehr trivialen Fernsehwelt dürfen also Drehbuchautoren fantasieren, und Schriftsteller haben das Recht, ihren Plot so zu Ende zu denken, wie sie es für richtig halten.

„Big Little Lies“: Das nächste grosse Serienerlebnis von 2019 bewies, dass es auch nach „GoT“ noch Komaglotzen geben kann: In der zweiten Staffel von „Big Little Lies“ kamen Nicole Kidman, Reese Witherspoon, Laura Dern, Shailene Woodley und Zoë Kravitz zurück – und siegten. Dabei erlaubt sich übrigens auch der Drehbuchautor und Produzent David E. Kelley („Ally McBeal“) einige Freiheiten im Umgang mit der Buchvorlage, wo er Liane Moriartys gleichnamige Erzählung von Australien an die amerikanische West Coast verlegt und seinen Blick auf die Zeichen und Wunder der Wohlstandsverwahrlosung richtet. Ihm ist ein hellsichtiges Porträt über Kaliforniens Schöne und Reiche gelungen. Und wenn der Schulleiter seine bessergestellten Eltern hier einmal als «Kamikaze» bezeichnet, dann erdet der unmittelbar zuvor im wahren Amerika aufgeflogene Hochschul-Bestechungsskandal diese Fiktion.

Man darf es übrigens als ein glasklares Statement lesen, dass sich hier mit Meryl Streep die grosse alte Dame Hollywoods für eine – für sie seltene – Fernsehrolle entschieden hat. Das Medium stellte in Amerika immer wieder eine begehrte Plattform dar, wenn es um den gesellschaftspolitischen Kulturkampf ging, sprich: um Familienwerte als nationalen Grundpfeiler. Streep hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass ihr die Familie wichtiger ist als die Karriere. Aber dass diese Künstlerin für Emanzipation steht, käme niemandem in den Sinn zu bezweifeln.

Um ehrlich zu sein, liegt mir persönlich nichts ferner als diese zwischen Wohlstandsproblemen und Hysterie rotierenden Helikoptermütter. Aber das Schöne an „Big Little Lies“ ist, dass die Sache mit dem Feminismus im Film plötzlich gar nicht mehr ein solch unlösbares Rätsel zu sein scheint, wie es sich leider seit Jahrzehnten präsentiert – sieht man einmal von filmischen Wegmarken wie „Thelma and Louise“ (1991) ab.

Denn meist werden die Fragen nach Entscheidungsfreiheit oder Autonomie dann doch nur als feministische Chiffren behandelt. Es ist noch immer eine Ausnahmeerscheinung, wenn wie in „Big Little Lies“ das Frauenproblem in letzter Konsequenz – und bittersüss – zu Ende gedacht wird. Die Serie bohrt gerade deshalb tief, weil sie so widersprüchlich wie eindeutig plausibel macht, dass Lebensentwürfe am Ende immer nur sehr individuell ausfallen können. Diese Frauen ringen alle mit sich und der Welt und schlagen sich jede auf ihre Weise durch. Was dann übrigens auch nicht verhandelbar ist. Das Private ist eben doch nicht so politisch, wenn es darum geht, wie ich meine weibliche Identität verstehe und folglich mein eigenes Leben gestalte.

Noch wird spekuliert, ob es zu „Big Little Lies“ eine dritte Staffel geben könnte, weil schon mit der zweiten die literarische Vorlage eigentlich mehr als erschöpft war. Schön wär’s trotzdem. Weil es in diesem Murder-Mystery wie in „True Detective“ nicht so sehr um die Kriminalgeschichte geht, sondern um Weltbetrachtung geht.

„The Crown“: Ähnlich verhält es sich auch mit „The Crown“ – meinem zweiten Serien-Favoriten des ausgehenden Jahres. Auf insgesamt sechs Staffeln ist die Netflix-Produktion angelegt, die am Ende eine Epoche durchmessen haben wird. Um den Austausch des schauspielerischen Personals kommt man da nicht herum, und so folgt jetzt auf Claire Foy, die der jungen Queen ein unvergessliches Denkmal setzte, in Staffel drei Olivia Colman („The Favorite“). Ein solcher Wechsel löst zwangsläufig Irritation beim Publikum aus. Dass man diesen Umstand nicht mehr oder weniger holprig hinter sich bringt, sondern gleich zum Auftakt der Staffel mit Augenzwinkern reflektiert, das zeigt einmal mehr die grosse Erzählkunst von Peter Morgans Drehbuch und sichert „The Crown“ längst einen Platz in der vordersten Reihe der grossen TV-Serien.

Keine Macht zu haben und dennoch grossen Einfluss auszuüben, ist das Thema von „The Crown“. Die politischen Beziehungen, welche die Königin unterhält, das ist der Stoff. Im fein austarierten Verhältnis zum Premierminister etwa lässt Elizabeth in der neuen Staffel die junge, von ihrer Aufgabe oft überforderte Thronerbin hinter sich. Die Königin ist in ihrer Rolle angekommen, nutzt ihre Gestaltungsmöglichkeiten, ermutigt und warnt. Es zeigt sich hier, wie Elizabeth II. in der konstitutionellen Ordnung einen wichtigen Part einnimmt und nicht nur Ornament ist, wie es oft den Anschein macht. Ein politisch lehrreicher Realismus zeichnet diese Serie aus, ohne dass dabei die Seifenoper kompromittiert würde. Dieser ungewöhnliche Mix macht The Crown derzeit ziemlich einzigartig.

Mit 2019 geht das Jahrzehnt des TV-Goldrausches zu Ende, eine Ära des epischen filmischen Erzählens, der wir Serien-Klassiker wie „Breaking Bad“, „Game of Thrones“, „The Americans“, „House of Cards“ oder „Homeland“ verdanken. Wie sich der derzeit vielbeschworene «streaming war» auswirken wird, wo Disney und Apple gerade eigene Streamingplattformen auf den Weg gebracht haben, muss sich zeigen. Netflix gerät unter Druck – und hat in diesem Herbst erst einmal cool reagiert: Mit „The Crown“ und dem Mafiaopus „The Irishman“ von Martin Scorsese setzte man selbstbewusst zwei Glanzlichter, als alle darauf warteten, dass der Streaminggigant erbeben würde.

Was „The Irishman“ anbelangt, so vollendet sich in dem grossen gemeinsamen Wurf alter Meister nicht nur das filmische Oeuvre von Martin Scorsese und die darstellerische Laufbahn von Robert De Niro, Joe Pesci und Al Pacino. „The Irishman“ ist mehr als ein Vermächtnis der grossen noch lebenden Vertreter Hollywoods. Mit diesem Film steht auch die Frage nach dem Kino im Raum, wenn hier Netflix einem der letzten grossen amerikanischen Regisseure unserer Zeit ein Alterswerk ermöglichte, wo sich keines der grossen Filmstudios auf das risikoreiche 160-Millionen-Projekt einlassen wollte.

Scorsese geht diesen filmhistorischen Moment mit seinem eigenen Realismus an, ohne Nostalgie, nie sentimental. Dass der Regisseur seine Stars in den Rückblenden nicht von jüngeren Schauspielern substituieren hat lassen, war die richtige Entscheidung. Die im Vorfeld vieldiskutierte computergenerierte Verjüngung der Altstars funktioniert nicht so recht. Man bemerkt den Trick – und vergisst ihn auch schnell wieder. Was bleibt, ist die grosse Irritation, wenn der Mafiamythos zusehends bröckelt, die rheumatischen Bewegungen die digital aufgepolsterten Gesichter der Männer Lügen strafen, wenn Fiktion und Wirklichkeit verschmelzen.

So spricht aus jeder Pore dieses Films auch die Agonie des Kinos.

Das Moralempfinden der Zuschauer ist angesprochen: Hätte man auf dieses Werk dann doch lieber verzichten sollen, weil nun eine Streamingplattform so prominent über das Kino triumphieren darf? 

Dieser Film kommt spät, nicht nur im Werk des grossen Filmautors, wo er den Epilog zu Scorseses Gangsterdramen bildet, sondern auch fürs amerikanische Kino. Im neuen Jahrzehnt geht es längst nicht mehr um die Frage, ob man sich ein solches Kunstwerk auf der grossen Leinwand ansehen sollte oder nicht. Denn seine Heimat hat „The Irishman“ längst woanders gefunden. Die Frage wird nun sein, ob der Konkurrenzkampf der Anbieter solch kreatives Potenzial zukünftig im Keim ersticken wird. 

Claudia Schwartz trat 1994 in die Feuilletonredaktion der NZZ ein, war zehn Jahre deren Kulturkorrespondentin in Berlin und war bei der NZZ als Autorin eine ganze Weile federführend für Fernsehkritik. Ihre NZZ-Artikel hier. Ihre Präsenz auf Twitter hier. Claudia Schwartz bei CrimeMag

Wolfgang Schweiger

   Ob Schlager, Serienmelodien oder Werbejingles: Die Musik von Christian Bruhn kennt fast jeder. Doch der Komponist dahinter ist nicht jedem ein Begriff. So gesehen war es ein Glücksfall, dass Bruhn zu Gast im Trostberger Stadtkino war, wo er zusammen mit der Regisseurin Marie Reich und dem Produzenten Constantin Ried den Dokumentarfilm „Meine Welt ist die Musik – Der Komponist Christian Bruhn“ vorgestellt hat. 

   Warum ich das erzähle? Nun, ich war auch 2019 wieder als „Kulturberichterstatter“ im Raum zwischen dem Chiemsee und Salzburg unterwegs. Keine sehr aufregende Tätigkeit, aber man kommt weg vom Schreibtisch, lernt gelegentlich interessante Leute kennen und hat (meistens) eine gute Zeit. So auch an diesem Abend, als sich der mittlerweile 85-jährige Komponist nach einem kurzen Gespräch mit dem Publikum ans Klavier setzte und ein Medley seiner berühmtesten Lieder zum Besten gab. Von „Winter in Kanada“ über „Zwei kleine Italiener“ und „Wunder gibt es immer wieder“ bis hin zu seinem größten Erfolg „Marmor, Stein und Eisen bricht“.

   Zu einem musikalischen „Begräbnis“ erster Klasse fuhr ich Anfang Mai nach Salzburg, wo in der Salzburgarena die Band Erste Allgemeine Verunsicherung (EAV) im Rahmen ihrer Abschiedstournee ein umjubeltes Konzert gab. Eine Band, die lange Zeit als Spaßkapelle unterschätzt wurde und die uns fehlen wird, nicht zuletzt wegen ihres Engagements gegen Rechtsextreme und rechte Gewalt. Gut gefallen haben mir auch Werner Schmidbauer, Pippo Pollina und Martin Kälberer, die im Rahmen der Salzach Festspiele Laufen ihr „Süden II“-Projekt präsentierten. Meist gefühlvolle Balladen im Folkrock-Stil, unter die sich auch mal ein Chanson, ein Bossa Nova oder leicht Jazziges mischten. Gute Unterhaltung mit Tiefgang.  

   Was die Elbphilharmonie für Hamburg ist, soll das Kulturforum Klosterkirche einmal für Traunstein sein. Hier fanden im November zwei Konzerte statt, die für manch Mittelmäßiges entschädigten. Mit Dreiviertelblut trat eine Band auf, die vor sieben Jahren von dem Bananafishbones-Sänger Sebastian Horn und dem Filmkomponisten Gerd Baumann (Wer früher stirbt, ist länger tot) gegründet wurde. Drei hervorragende Alben haben sie bis heute herausgebracht, zuletzt Diskothek Maria Elend, aus denen sie einen mitreißenden Querschnitt boten. Sehr persönliche Lieder, die meist traurig schön oder herrlich finster waren, manchmal aber auch ausgesprochen lustig, die ernste Themen ebenso aufnahmen wie mit fast tanzbarer Heiterkeit das Publikum auf Fahrt brachten. 

   Wenn ein junger Musiker aus Wien mit dem frühen Bob Dylan verglichen wird, schraubt das die Erwartungen natürlich hoch. So aufsässig, spöttisch und cool, wie Dylan einst war, gab sich Der Nino aus Wien, so auch der Titel seines neuen Albums, bei seinem Auftritt jedoch nicht. Eher schrullig und leicht versponnen, ein gewitzter Vagabund der Wiener Nächte, der von der ewigen Suche nach Liebe bis zur Kneipe von nebenan erzählte, wo in der Jukebox Wolfgang Ambros und Georg Danzer laufen und am Ende alle mit dem Taxi nach Hause fahren. Und Dylan? Dem widmete er mit „Der Mai ist vorbei“ ein grandioses Cover von „A Simple Twist Of Fate“, in dem er ein Pärchen statt durch New York durch Wien spazieren lässt. 

   Ansonsten habe ich, nach längerer Pause, wieder einen Roman geschrieben, einen Country-Noir, wenn man so will, in dem die Ermittler, so wie es Leonardo Sciascia mal in Bezug auf die Mafia formuliert hat, nur durch Zufall oder Verrat ans Ziel kommen. Unter den vielen Sachbüchern, die ich gelesen habe, ragt Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955 von Harald Jähner heraus. Auch deswegen, weil es lange Zeit zur Familien-Folkore gehörte, wie mein Großvater kurz nach dem Krieg, nur mit einem Torfmesser bewaffnet, einer Bande sogenannter „Displaced Persons“ Einhalt geboten hatte. 

   Und der beste Krimi des Jahres? Für mich eindeutig Hundesohn von Sonja M. Schultz. Tolle Story und auch sprachlich ein Genuss.  

Wolfgang Schweiger (den wir vom „Fahnder“, der „SOKO 5113“ und von vielen Kriminalromanen kennen) ist derzeit hauptsächlich als Kulturjournalist im südostbayerischen Raum/Salzburg unterwegs und hat nach längerer Pause auch wieder einen Kriminalroman geschrieben, wobei Verlag und Erscheinungsdatum allerdings noch völlig offen sind. – Seine Website hier. Seine Texte bei CrimeMag hier.


Georg-Seeßlen © by Guido Alfs

Georg Seeßlen: The Visitor – Installationen

Wenn man über den Zusammenhang von Bildender Kunst und Musik nachdenkt, muss man erst einmal ein paar Dinge beiseite räumen: Udo Jürgens’ Hommage an den malenden Bruder, die „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgsky (und noch schneller die Emerson, Lake und Palmer-Version), die Klangmaschinen eines Jean Tinguely, die neuere Kunst des Video-Clips, und die Synästhesie noch in der alltäglichen Form: Farben hören, Klang- Linien zeichnen, den Art School Rock oder den Brian Eno, der von der Kunst kam und irgendwie auch dorthin zurückkehrte, die Pop Art, die sich mit der Musik zu verbünden suchte, so oder so, und irgendwann ist man bei den Klanginstallationen im Museum. Musik vielleicht, die außerhalb des white cube entweder verschwände oder nur als Störgeräusch wahrgenommen würde. 

Eine verbreitete Idee (und da sind wir ausgerechnet wieder bei Udo Jürgens) besagt, dass Musik da anfängt, wo das Bild aufhört und umgekehrt. Eine andere Theorie wäre, dass jedes Bild eine innere Musik erzeugt, und jede Musik ein inneres Bild. Schließlich könnte man aber auch vermuten, dass beides nach Ur-Prinzipien von Harmonie, Drama und Steigerung geschieht, und dass sie dabei einander so nahe sind (wie eine Komposition von Wassily Kandinsky sich musikalisch verstehen will wie eine von Richard Strauss bildhaft) wie sie sich voneinander (und vom Rest der Welt) emanzipieren wollen. Das Bild, das nichts, aber auch gar nichts anderes als Bild sein will; Musik, die nichts, aber auch gar nichts anderes als Musik sein will. 

In beiden Medien gibt es eine Linie der écriture automatique, das Komponieren ohne Kontrolle von Bewusstsein, Regel und Kontrolle, und eine Tendenz zur Maschinisierung, die natürlich mit der Digitalisierung ein neues Feuer erhielt. Computergrafik und Computermusik in den verschiedensten Variationen gehören zu unserem ästhetischen Alltag, und zwar in einem Ausmaß, dass ein Großteil der entsprechenden Produktion unter schwerstem Kitsch-Verdacht steht. Computergrafik, die genau so ausschaut, wie man sich Computergrafik vorstellt, ist kitschig; Computermusik, die genau so klingt, wie man sich Computermusik vorstellt, ist kitschig. 

Daher stammt die Paradoxie: Weil Computergrafik und Computermusik so einfach geworden sind, sind sie so schwierig geworden. Gute Authentizität in der Kunst herzustellen ist daher immer noch einigermaßen einfach, man muss eben ein bisschen leiden, and that’s it; gute Künstlichkeit herzustellen wird dagegen immer schwerer. 

Doch der utopische Vorgang besteht nicht darin, die neuen Maschinen als Kunstmittel zu verwenden, wie einst Palette, Leinwand, Klavier und Notenpapier, sondern sie zu Co-Autoren zu machen, ihnen nicht nur ein neues Wie sondern auch ein neues Was abzuverlangen. Sie so frei zu machen, dass sie einen Schritt in die Zukunft tun, ins Offene. Die „Kunstmaschinen“ sind mittlerweile auch schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt; genauer gesagt: Sechzig Jahre sind vergangen, seit Jean Tinguely mit seiner Malmaschine „Meta-Matics“ die große Befreiung der Anwender versprach. Olafur Eliasson nahm in seiner Installation „Making Beautiful Drawings“ den „Harmonograph“ des neunzehnten Jahrhunderts wieder auf, Schwingungszeichnugen, die gar nicht anders können, als „schön“ zu sein. (Stellen wir uns für den Augenblick für die Malerei eine Art grafisches Autotune vor, die Maschine, die jede unharmonische Farbwahl, jeden verwackelten Strich korrigiert!) 

Die Tücke der Maschine ist ihre Perfektion, sie ist berechenbar und funktional, auch eine Nonsense-Maschine (zum Beispiel eine, die, wenn man sie anstellt, nichts anderes tut als sich wieder auszustellen) durchbricht diese Limitierung nicht wirklich. Anders dagegen verhält es sich mit der Selbstreferenz. Eine Maschine, die nicht nur auf die Umwelt reagiert (wie jene Musikmaschine, die uns mit wärmenden Klängen versorgt, wenn es kalt ist, und mit coolen Sounds, wenn es heiß ist), sondern auch auf sich selbst. So könnte man sich in der Tat eine Maschine vorstellen, die sich selbst überrascht, was im übrigen als wesentlicher Bestandteil von „Kreativität“ betrachtet werden kann. Könnte also eine Maschine bereits Kunst produzieren – und zwar selbständig, also nicht als Werkzeug, sondern als Autor – wenn sie auf die Selbstüberraschung reagieren würde, und in dem Bemühen, eine ästhetische Struktur (ein Ursprungs-Program vielleicht) immer wieder gegen die strukturell und seriell produzierten Störungen zu verteidigen, neue Störungen und dann wieder neue Strukturen erzeugte? 

Seit Tinguely ist die „kreative Maschine“ eine notwendige Begleiterscheinung der Kunst, die sich immer wieder in einem verblasenen Schöpfermythos zu verlieren droht, durch den aus Kunst vor allem Ideologie wird. (Was nicht heißen soll, dass Künstler und Künstlerinnen sich jetzt gleich als Ingenieure oder Versuchsleiter missverstehen müssten; die Rolle der Freiheitsclowns soll ihnen durchaus bleiben, als Zusatz.) Wenn die Kunst nach der Kunstfähigkeit der Maschine fragt, dann fragt sie zugleich nach der Zukunft. Und in der Maschine hat die Kunst eine Autonomie, die sie im Körper und in der Biographie eines echten Menschen nicht haben kann. Natürlich ist die Frage, ob sie dann noch etwas zu sagen hat, und wenn ja, was, damit nicht beantwortet. Vielleicht verstehen ja auch nur Maschinen wirklich Maschinenkunst. 

Im Augenblick aber ist durchaus spannend, was an den Rändern, den Schnittstellen geschieht. Denen zwischen der bildenden Kunst und der Musik, und denen zwischen Menschen und Maschinen als Kunstsubjekte. 

                                                                 II

Stellen Sie sich vor, Sie bekommen eine LP geschenkt, auf der, in einem großen, aus blaßgrünen Punkten, in denen wiederum weiße Artefakte rotieren, auf weißem Hintergrund nur „The Visitor“ und „Installationen“ zu lesen ist. Auch die Rückseite der LP macht Sie nicht viel schlauer: „Die Idee zu diesem Album war, den Modular-Synthesizer so einzurichten, dass er sich selbst spielt, ohne weitere Eingriffe von außen. Ich wollte musikalische Strukturen schaffen, die sich zwar wiederholen, aber aber ständig verändern und die Waage halten zwischen Komposition, gewähltem Zufall und Repetition“. 

Stellt sich zuerst einmal die Frage: Wer zum Teufel ist „ich“? Ein Besucher etwa?

Natürlich werden Sie erst einmal im Internet herumsurfen. Sie werden feststellen: Diese LP ist kein Gespenst. Es gibt sie wirklich, sie ist bei Hauch Records zu haben und über den einen oder anderen spezialisierten Versand. Aber sonst?

„Wenn der Prozess einmal in Gang gesetzt ist, dann läuft er für sich selbst ab“, so könnte man, frei nach Steve Reich nennen, was auf The Visitor – Installationen geschieht (und man kann nicht umhin, sie sich vor allem in einem Kunst-Raum vorzustellen, wo Neugier, Aufmerksamkeit und eine gewisse Entrückung schon mal vorausgesetzt werden dürfen). Bringt einen zuerst einmal zum Grundsätzlichen:

Man muss als erstes unterscheiden zwischen einer Musik, die mit Hilfe eines Computers erzeugt werden (die Musik, die man im Kopf hat, wird mittels eines Computers realisiert), solche, die im Dialog mit einem Computer erzeugt wird (Musik, die ich mittels eines Computersystems erzeugt habe, wird durch das System selbst verändert) und schließlich „reine“ Computermusik. Also eine Musik, die ohne etwas anderes als ein ursprüngliches Programm erzeugt wird, ein zugleich selbstreferentielles und sich entwickelndes Programm. Man kann solche Musik „abstrakt“ nennen, insofern sie weder etwas „abbildet“ (eine Stimmung, ein Raumempfinden, eine Zeitlichkeit), noch sich primär an das Körperliche wendet. 

Eine Musik wäre wirklich abstrakt, wenn sie weder Melodie noch Rhythmus hätte. Aber wäre es dann noch Musik? Tatsächlich also scheint es in der Abstraktion von Musik eher darum zu gehen, beides, die Melodien wie den Rhythmus, an seine Grenzen zu bringen. Also entweder „fast“ zum Verschwinden zu bringen, oder so zu übertreiben, dass es schon nicht mehr empfunden werden kann. Eine dritte Form der Abstraktion (das kennen wir auch aus anderen Genres wie dem HipHop), besteht darin, Melodie und Rhythmus voneinander zu trennen oder Rhythmus- und Melodie- „Instrumente“ die Plätze tauschen zu lassen. Das wiederum ist eine Erbschaft des Modern Jazz, wo das Schlagzeug eher zum Melodie-Instrument tendiert und der Bass die Rhythmus-Funktion übernimmt. Abstraktion bedeutet also zunächst nichts anderes als eine Musik, die sich ihrer Musik-haftigkeit bewusst ist. 

Es geht also nicht darum, abstrakte und konkrete Musik voneinander zu unterscheiden (wobei wir konkrete Musik sowohl im Sinn einer erzählenden Musik, etwa dem „Song“, als auch im üblichen Sinn verstehen können, nämlich ein Komponieren mit in der akustischen Wirklichkeit vorgefundenen Klängen), sondern eher darum, Abstraktionsvorgänge in der Musik nachzuvollziehen. 

Hauptbild der Paraschall-Website

Was also schon mal schwer ist, das ist einen „Autor“ für diese Musik festzustellen. Spuren führen zunächst zum Paraschall Studio in Düsseldorf (aha!), eine Abspaltung des 4CN-Studios in Bochum. Detlev Funder steckt hinter den Donuts und Four Carry Nuts, er kann dienend so sehr wie kreativ sein. Er macht den Visitor hörbar. Die Musik dieser Platte, die im Dezember 2019 veröffentlicht wird, ist insofern ein halbes Jahr alt, als sie als Teil einer Kunst-Ausstellung ihre Uraufführung hinter sich hat.

Eine solche Musik ist weder komponiert noch improvisiert, sie überschreitet auch die Konzepte von minimaler und serieller Kunst: Es ist Musik, die sich nicht auf uns zu bewegt, sondern sich von uns entfernt. Die Frage ist also zunächst, inwieweit „sie uns mitnimmt“. Dies kann nur durch einen Selbstversuch herausgefunden wurden. Das folgende Protokoll dieses Selbstversuches ist daher nichts anderes als ein Beispiel und ganz und gar keine Anleitung.

                                                               III

„Invitations“ heißt der erste Track, und es handelt sich in der Tat um Einladungen. Wir befinden uns in einem imaginären Klangraum, „abstrakt“ insofern, als keine Dimensionen zu erkennen sind, in dem von allen Seiten meist kürzere Klang-Elemente, basierend auf einfachen Tonfolgen oder -verschiebungen und vertrautenelektronischen Sounds erscheinen, differierend in Lautstärke und Intensität. Das Höhere sticht und das Tiefere entrückt, dazwischen sorgt ein gewisser Klangschalen und Glocken-Effekt dafür, dass man sich in einem Tempel wähnen könnte, wäre das ganze nicht so von bedrohlichem Rauschen und ansteigenden Fiepen begleitet, Rasch stellt sich ein Doppelzustand ein, ein Trance-Zustand, in dem die Klänge nach Innen wandern, sich in Atem und Herzschlag einnisten, und ein Alarm-Zustand, der den Auftritt von etwas nicht wirklich Heimeligen erwarten lässt. Die Linien erscheinen, als würden sie durch einen hindurch gehen. Nach und nach erkennt man die wiederkehrenden Elemente, weder die Trance- noch die Alarm-Effekte erweisen sich als konsistent, so dass immer mehr das Muster, die Abstraktion in den Vordergrund treten. Natürlich, man muss sich diese Musik zum Freund machen, sonst frisst sie einen auf. Wenn man sich mit ihr befreundet hat, beginnen auch schon die inneren Bilder, eine Suche nach dem Wo und Wann, die Assoziation von Bewegungen durch den Raum. Ist es die Glocke, die das ätherische Ungeheuer anlockt, das immer wieder in sanfter Wellenbewegung daherkommt aber überraschenderweise nie den Bannkreis des Hörenden erreicht? Aber was erzähle ich da? Und nun ist es fort.

„Requests“ beginnt mit einem orchestralen Ensemble-Klang, aus dem sich Urhörner lösen, und dann entsteht ein gewisser Teppich, auf dem eine Reise losgehen kann, sanftes Hinauf- oder Hinunterschweben . Was gibt es da zu sehen? Es klingt nach einsamen Gebirgskämmen, kritischen Wäldern, zweifellos gäb’s dort unten ein paar Geheimnisse zu ergründen, aber immer wieder geht es dann doch wieder über die Wolken, wo die Freiheit keineswegs grenzenlos ist, und hey, klingt das nicht ein bisschen nach Richard Wagner? Als hätte es die Musikmaschine gehört, grätscht sie mit etwas dazwischen, das eher nach einem kaputten Zahnrad klingt, und dann ist der Blasebalg kosmischer Kuriere wieder im Werk. Was wird hier verlangt? Dass man fliegen kann, ohne vom Fleck zu kommen? Die Wetter hier oben sind nicht immer vertrauenerweckend, Man spürt, dass die Luft dünn wird, darum muss man, so oder so, etwas runterkommen. Nach vorne sehen hat bei dieser Bewegung wenig Sinn, nur nach unten geht der Blick, Wenn wir vorhin zugleich Trance und Alarm spürten, dann hier vielleicht zugleich Spiritualität und Mechanik, Es ist nicht klar, ob die grünen Wiesen, die nun auftauchen, in der Musik selber liegen, oder doch eine Phantasie der Flucht vor ihr sind. Jetzt, nach etwa zehn Minuten, hat man alle Anstrengungen überwunden; und die Gedanken und Bilder haben sich, wenigstens scheint es so, von den Klängen getrennt. Daher gehören sie auch nicht mehr hierher.

„Plans and Decisions“. Das hört sich erst einmal eher eindeutiger an und tatsächlich gibt es nun auch einen eindeutigen klaren und immer näher kommenden Rhythmus, der zwischen Trommel und Pluckermaschine dann doch keine Entscheidung trifft, und der von on-beat Basstönen und von off-beat-Tönen in den Höhen umspielt wird. Ganz klar sind wir nun auf der Erde und bewegen uns vorwärts? Oder? Die ständigen Variationen sind nun wie Markierungen, hier war man, oder wie kleine Geschenke, die bekanntlich die Freundschaft erhalten, oder die Zuneigung zu einem Geschehen, das sonst allzu unerbittlich wäre. Ertappt man sich beim „Lauschen“, könnten vielleicht Vögel oder anderes Getier da herumschwingen, zu fassen wären sie sicherlich nicht. Kann es sein, dass sich die Bass-Töne eine klammheimliche Hegemonie erobern wollen? Ein Dreiklang, der immer wieder zum Sprung ansetzt. Vorwärts ohne je anzukommen, so viel ist gewiss. Man beginnt die Schläge dieses Rhythmus einzeln zu hören. Und merkt, wie wenig sie einzeln sein können. Es klingt so ähnlich und ist es doch nie, als würde sich diese Musik darüber lustig machen, dass jemand versucht, ihr hinter die Schliche zu kommen. Vielleicht ist auch der Titel ironisch. Irgendwie entsteht jetzt ein Lachen… Und dann verschwinden die Pläne und Entscheidungen. Zugunsten von

„Certainty and Uncertainty“. Klar, beim vierten Track verschwindet die kritische Trennschärfe schon, man hat schließlich von den nicht aufgegangen Plänen zuvor eine gewisse wohlige Erschöpfung mitgebracht. Und ist deswegen durchaus dankbar für ein gewisses kosmisches Durchatmen, die wieder an diesen Blasebalg erinnert, der seinerzeit Erinnerungen weckt an einen gewissen warmen Abend in Kerala, aber das gehört nicht hierher, was hierher gehört ist das Prinzip der Abzweigungen, die von einem Hauptstrom loslegen und irgendwo verschwinden, etwa pumpt da etwas in die Welt hinein, die sich das nur teilweise gefallen lässt, Vielleicht gibt es in dieser Maschine eine undichte Stelle, vielleicht muss aber auch nur immer wieder etwas aufgefangen und gesammelt und verdichtet werden, damit es weiter geht, Das Unsichere wird eingefangen, um das Sichere zu erzeugen; das Sichere wird aufgelöst, um Unsicherheit frei zu setzen. Träumen Maschinen von elektronischen Mutterleibern?

Und so weiter ins Innere der Musik. Ohne Musik, sagt Nietzsche, wäre das Leben ein Irrtum. Dass das für Menschen gilt, brauchen wir nicht groß zu belegen. Doch was ist die Musik der Musik? Das Leben?  

Aber was fühlt eine Maschine (und als ganzes ist die Musik wiederum eine Maschine, so wie im einzelnen Maschinenmusik alles Maschinelle vergessen lassen kann), wenn sie Musik macht oder hört? Vielleicht erkennt sie ja, dass ihr Leben kein Irrtum ist. Eine Musik-Maschine kann gar nicht anders als die Frage: Was ist Musik? stellen. Antworten tun, paradoxerweise, doch wieder Menschen mit ihrem Wissen, ihren Körpern und ihren Biographien.

Georg Seeßlen: Jahrgang 1948 und in München Kunstgeschichte und Semiologie studiert, ist einer der letzten Enzyklopädisten unserer Tage. Die Bandbreite seiner sensibilité universelle, wie das bei Diderot geheißen hätte, spiegelt sich in seinen Arbeiten, sei es zum pornografischen oder zum Cop-Film, überhaupt alles mit Film, von Spielberg, Tarantino, Kubrick oder David Lynch bis Schlingensief, überhaupt Schlingensief, dazu Kritisch-Erhellendes über Untote, Volksmusik, Populär- und Hochkultur, Kriegsbilder, televisionäre Dummheiten oder Rechtsextremismus, Blödmaschinen und Geld frisst Kunst – Kunst frisst Geld, die Prostitution Bayerns durch den Fremdenverkehr und alles Sonstige aus unserem Wahnsinn, überhaupt dem Wahnsinn.  Ein Schädel, der in keine Schublade passt. Seeßlen wohnt im Allgäu – und ist trotzdem weithin präsent. Seine WIKIPEDIA-Seite, seine Texte bei CulturMag

Besonderer Hinweis aus dem CulturMag Special „Natur“ auf „Primzahlen und Zikaden“ und in „Verlust UNO“ auf seine Theorie: Verlust des Verlustes. Eine hauntologische Grille.

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