Geschrieben am 24. Dezember 2016 von für Highlights 2016

CulturMag-Jahreshighlights 2016, Teil 6 (0-R)

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Willkommen zum sechsten Teil unseres großen Jahresrückblicks – mit:
Guillermo O’Joyce,
Roland Oßwald,
Markus Pohlmeyer,
Michael Robotham,
Robert Rosenwald,
Alexander Roth,
Frank Rumpel.
Das Jahr 2016, wie unsere Autorinnen und Autoren es sahen und erlebten. Das ist auch ziemlich politisch, Meinung und Haltung sind gefragt.

z-guillermo-o-joyce-612zjd-2jml-_ux250_Guillermo O’Joyce

A letter to Fintan O’Toole of the Irish Times and to CrimeMag

Thank you for your fluid and far-reaching perspective on King Donald T. the XIV.  But His Majesty would never have gotten into a position of running for Power if he hadn’t been worshiped because he had Money.  And money is nothing, a dreary medium of exchange inflated to Godhead. And the people who have it are Zeroes, dull personalities turned to vultures, who can’t sing a song nor tell a story.  Worse, they have no ability to listen to a story nor sit still for a song.

What is called an Upset in Politics is nothing more than a Mirror Reflection of a lot of people outside the power centers crying  out for revenge against the college-educated power brokers.  And whether they are from the Rural Areas, the college towns, or the derelict cities, they all share the same phenomena: they eat bad food, drink bad liquids, and gulp each day an astounding array of pharmaceutical pills.  The U.S. is a nation of junkies, a desert whose soul jumped into a gear box in 1998.

Had Donald Duck or Chauncy the Gardener been elected President of the U.S. it wouldn’t have mattered. None of the 100 million voters got up this morning and praised the amazing miracle of the hydraulics of their intestines that ushered mounds of shit into the toilet bowl thus granting them Resurrection.  No!   One group is celebrating a defunct Casino Manager while the other group is now on the streets protesting his ascendancy.  It is only a pretense this protest on the streets.  What this mob is really upset about is their mother’s advice: „It’s not What you know but Who you know.“

The college professors enforced Mother’s advice by preparing their wee charges for exams, not Life.  Now the suck-asses from the colleges and the cities are flailing in all directions, blaming their lack of direction on  a pathetic ex-groper who’s in shock now that he’s running the show, in shock that he may have to redeposit all his caustic remarks into the vault of the always-neutral Money Machine to be laundered like the real estate funds that vaulted him to power.

If language can’t spare the children of Aleppo, Laos, India, and South Chicago, it is Nothing more than a front for the Bullies to lubricate their Killing Machines.  Get rid of it.  Let’s have silence while we wait for the bombs to fall.  Let the bodies pile up.  Give the birds and the stray cats and the streams a chance to breath.

Finally, none of this is new.  It is only a reminder of what an Irish poet said in 1916:  „The worst are full of passionate intensity while the best lack all conviction.“

AND:
Diary Entry
Xmas day 2015, in  St. Augustine, Florida, I went to the streets to play my harmonica for money.  My pension didn’t quite cover my expenses.

… For three hours I played the old Xmas songs to roughly 3,000 people.  One man put a five-dollar bill in my tip bucket.  The other 2,999 people did not put anything in my tip bucket.

… When I returned to my room, I wrote in my diary, „The American people will soon kill each other.“

Guillermo O’Joyce ist ein Publizist und Poet, der sich derzeit dem Zugriff der US-amerikanischen Behörden entzogen hat und sich in Guatemala aufhält. Für CrimeMag besprach er unlängst Les Edgertons Der Vergewaltiger (The Rapist). Sein Blog hier.

Roland OßwaldRoland Oßwald

Sleeve Notes 2016: Mit der Kunst war es einfach – ästhetisch, ethisch, transzendental – im menschlichem Kontakt wie virtuellem, also in gewisser Weise aus dem inneren Zuschauerraum heraus. So haben mich im Jahr 2016 zwei Ausstellungen, die parallel in Wien gezeigt wurden, am meisten berührt. Zum einen Anselm Kiefers Holzschnitte in der Albertina, und zum anderen Sorrow Grove von Sigalit Landau (im Künstlerhaus). Für Dataisten einfacher, aus dem heimischen Sessel heraus zu konsumieren, wäre die einigermaßen moderne Videokunst, nein, eigentlich Musik, und damit offenbar zusammenhängend, pharmazeutisch veredelte Paranoia von Göldin und Bit-Turner. Auf einer musikalisch anderen Seite lohnte sich der routinierte Blick ins Programm von John Zorns Label Tzadik Records (natürlich auch für Non-Radical-Jews und andere Musikliebhaber).

Im Podcast-Rennen lag für mich Forschergeist vorne. Die Sendungen Welt in Balance oder Moore, Paludikultur und das Klima kann man auf jeden Fall mehrfach anhören. Das Notizbuch nicht vergessen!

Nicht ganz so einfach hatte man es 2016 mit der Filmindustrie. Von der Ökonomie bravourös unter Beschlag genommen, findet sich auf diesem Terrain kaum Verwendbares. Falls man aber doch mal vor den dunklen, kalten Nächten des Winters schlapp machen sollte, kann man sich zu einer heißen Trinkschokolade an den Ort seines Vertrauens zurückziehen und ein paar Stunden mit Trumbo, Kill your Friends oder Mörderland verbringen. Der Ökonomie nicht gänzlich unterworfen hielt auf dem heimischen Markt Slowboat Films die Fahne des Independent Films bemerkenswert hoch (Armenia).

In der Bücherlandschaft tat sich 2016 ordentlich was. Gelesen, aussortiert, vergessen, überschrieben, wähle ich hier mal vier aus. Da ich noch nie in Georgien war und so gut wie nichts darüber gelesen habe, beschränkte sich mein Bild von Land und Leuten auf einige Plattitüden. Die Georgier sind gastfreundlich, trinken permanent Estragon-Limonade, stehen unter enormen politischen Druck, haben ein Stromproblem und bieten darüberhinaus italienischen Mafia-Aussteigern an einer bezaubernden Schwarzmeerküste Zeugenschutz. Es wurde allerhöchste Zeit, dass ich Christina Nichols Im Himmel gibt es Coca Cola zu lesen bekam. Und prompt ist Georgien in die engere Wahl der kommenden Reiseziele gerückt (Estragon-Limonade habe ich nun auch im Haus).

Ein anderes Debüt hat mich dieses Jahr ebenfalls überzeugt. Wir waren die neue Zeit von Andreas Baum ist ein Neunziger Jahre Roman im Milieu der Berliner Hausbesetzer-Szene. Oh, ja, die Zeit fliegt, und der Raum wird immer enger. Nicht so bei Ex-Kommissar Fallner in Franz Doblers Ein Schlag ins Gesicht. Darin schreiten wir entlang der Zeit in nostalgischen Erinnerungen an Bekanntes und Unbekanntes. Was bleibt, ist uns ins Gedächtnis zu rufen, dass das menschliche Denken viel langsamer fortschreitet als die Veränderungen der Welt. Die grundlegenden Bedürfnissen sind nun mal essen, trinken, lesen, schlafen, labern, es miteinander treiben, labern, sterben. Vive Le Progrès…Popkulturell eingestimmt freue ich mich jetzt schon auf das Zusammentreffen Fallners mit Süden. Viel Freude bereitete auch Waren Ellis’ Normal. Ellis greift in seiner Geschichte den End-of-the-World-Blues (siehe Jon Courtenay Grimwood*) der Paranoia-Literatur voller Ängste und Zweifel auf, indem er einen Coup d’Etat in einer Nervenheilanstalt oder Suchtklinik (siehe Ken Kesey oder Jean-Patrick Manchette) in eine transhumanistische Form fasst. Seine Irren haben allesamt einfach zu lange in die Abgründe des Netzes gestarrt.

Ein anderes Phänomen unserer vernetzten Welt (vernetzt im Sinne Mark Lombardis) beschreibt die Graphic Novel Supercrash – Das Zeitalter der Selbstsucht von Darryl Cunningham. Es ist eine beachtenswert detaillierte Arbeit (zeichnerisch weniger) über die objektiven Beziehungen von Ayn Rand und Alan Greenspan, den Absurditäten des globalen Finanzkapitalismus und der Immobilien- und späteren Finanzblase von 2008. Unterm Strich dreht sich alles um grenzenlose Selbstsucht.

Vom südlichen Ende des Sofas** (oder von einer anderen Seite der libertären Skala) betrachtet, gibt es natürlich auch immer was zu lachen. Nehmen wir einfach mal den 2011 erschienenen Band Les Pieds Nickelés von Malka, Ptiluc und Luz. Der Band könnte als absurde Anleitung dienen, wie man in diesen Tagen die Menschenrechte verscherbelt. Mal sehen, wann die Franzosen sie nach Deutschland bringen? Ich meine natürlich die polierten Schuhe.

Jon Courtenay Grimwood hat 2016 unter dem Namen Jack Grimwood seinen ersten Thriller herausgebracht. Wir können gespannt sein, welcher deutsche Verlag sich Moskva unter den Nagel reißt. Wetten sind willkommen.

** Mit Dank an Hank

Die CulturMag-Texte von Roland Oßwald hier.

jahres-pohlmeyerMarkus Pohlmeyer

Bücher:
Algis Budrys: Projekt Luna (übers. v. W. Bergner; Heyne, München 2016) erschüttert durch eine Variante des Beamens und den daraus resultierenden, dramatischen wie existentiellen Folgen, destruiert Machotum bis an die Grenzen der Bedeutungslosigkeit, feiert menschliche Neugier und ungebrochenen Wissenschaftsgeist und degradiert uns mega-Menschlein zu mini-Mäusen in einem Labyrinth (hier auf dem Mond), das wir vielleicht durchqueren könnten und doch, hätten wir’s durchquert, immer nie begreifen würden.
Stephen Baxter, Alastair Reynolds: Die Medusa Chroniken, übers. v. P. Robert; Heyne, München 2016. Eine Odyssee zu neuen Formen der Evolution, eine Erkundung des Sonnensystems und seiner Wunder, voll von Intertextualität, schon allein dadurch gegeben als Fortsetzung von A. C. Clarkes Ein Treffen mit Medusa. Himmelwärts stürmend, in die Tiefe fallend, beängstigend, visionär. Die ganze Menschheitsgeschichte: nur eine Fußnote zum Kosmos (frei nach Whitehead).

DVDs:
12 Monkeys (1. Staffel): All-you-can-eat in Bezug auf Zeitreisen! Durch die eine Virus-Apokalypse verhindert werden soll. Durch die jene Apokalypse erst initiiert wird. Anmerkung: Für die Person Y ist die Gegenwart Gegenwart. Reist nun Y in die Vergangenheit, ist diese nun Ypsens aktuelle Gegenwart bzw. Zukunft, aber eben schon vergangen, aus unserer Perspektive – oder anders, was wir als seine Gegenwart in der Vergangenheit wahrnehmen, in der gewohnten Linearität von Ereignissen, ist aus seiner Linearität heraus die Zukunft. Und weiter: Y verwendet eine Zeitmaschine, mit deren Hilfe er in die Vergangenheit gereist sein wird, und dort und dann will er eben diese Zeitmaschine bauen, mit der er in die Vergangenheit gereist sein wird … – aus unserer Perspektive damals und aus seiner: morgen. (Oder doch alles umgekehrt?). In endlose Geschichten verstrickt, die wir ständig weben: Texte! Und: Determination? Verzweiflung? Freiheit?

AKTE X (10. Staffel): Wie eine ironische und auch bisweilen sehr traurige Zusammenfassung und Fortschreibung dessen, was bisher war. (Ebenfalls sehr lesenswert, aber die einzelnen Geschichten von schwankender Qualität: AKTE X. Vertrauen Sie Niemandem, zusammengestellt v. J. Maberry, übers. v. M. Mäurer u.a., Ludwigsburg 2016). Für mich am wunderbarsten die umgekehrte Werwolf-Geschichte: was wäre, wenn ein Wesen aus ferner Urzeit plötzlich sich in einen Menschen verwandeln müsste – und Krawatten trüge und sich als Handy-Verkäufer durchschlagen und auch noch für einen Serienmörder gehalten würde?

Comic:
Lustiges Taschenbuch Spezial (73): Ist das Kunst oder kann das weg? (Berlin 2016) Ein witziger Crash-Kurs durch die Kunstgeschichte: bezaubernd beispielsweise die (etruskische) Liebesgeschichte, in welcher der römische Zenturio Quintus Donaldus Duck rettend eingreift, worauf Gitta dies so kommentiert: „Incredibile dictu!“ (Übersetzung:  „‘Unglaublich zu sagen‘ auf Latein. Heute würde man eher sagen … wow!“[1] Es handelt sich bei dictu um ein Supinum II: „Die Supina sind Kasus von abstrakten Verbalstubstantiven […]. Das Supinum II ist möglicherweise ein alter finaler Dativ […].“[2]) Außerdem bekommt die moderne Kunst ordentlich ihr Fett ab: streitende Milliardäre, die im Zirkel von fiktiven Millionen um die geheimnisvolle Box eines modernen Künstlers eindrucksvoll absurd die Autodestruktion des Kapitalismus auf der verzweifelten Suche nach Sinn via Kunst inszenieren, die sich diesem aber ikonoklastisch verweigert usw.[3] Oder wie ein Kunstkritiker, der ständig so tut, als spräche er mit einem Fernsehpublikum, immer auf Sendung also, auf Dagoberts Billigkahn auf dem Weg nach Venedig, anmerkt: „… auch Seekrankheit kann ein performativer Akt sein.“[4] Was ist in dieser Box? Stifte und Papier, die Donald einem kleinen jungen schenken wird …, der dies mit „Krass!“[5] kommentiert. Oder eine andere Geschichte: Don-nubi malt Dais-Urt schnell einen Eilpapyrus; die letzten beiden Zeichen: ein Herz in einem Kreis und eine (altägyptisierende) einbandagierte Enten-Mumie. Don-nubis Liebesgedicht soll heißen: „‘… und mein Herz wird das deine sein …‘‘… für alle Ewigkeit!‘“[6] Die Dame wird aber lesen: „‘Dein Anblick bringt nämlich mein Herz zum Stillstand …‘‘… und ich mag nicht als Mumie enden!‘“[7] Und schon beginnt eine Odyssee, bis unser Dichter seine Muse erreicht, damals und heute.

[1] Zitate von S. 89.
[2] H. Rubenbauer – J.B. Hofmann: Lateinische Grammatik, neubearbeitet v. R. Heine, 12. Aufl., Bamberg – München, 1995, 200 f.
[3] Vgl. dazu ausführlich W. Ulrich: An die Kunst glauben, Berlin 2011.
[4] S. 227.
[5] Lat. dick, vgl. dazu  K.-W. Weeber: Rom-Deutsch. Warum wir alle Lateinisch reden, ohne es zu wissen, Darmstadt 2006.
[6] S. 59.
[7] S. 60

Die Texte von Markus Pohlmeyer bei CrimeMag und LitMag hier.

Michael_RobothamMichael Robotham

What I’ve been watching:

Best new TV series of the year was STRANGER THINGS, a pitch-perfect Netflix drama about the supernatural and illegal Government-backed experiments set in a small town America.

It brought to mind the best elements of the X-Files and the Twilight Zone, along with a brilliant cast of child actors. Can’t wait for the next series.

I finally got round to watching the last season of NEWSROOM, but first went back to the beginning. The portrayal of the how corporate interests and populism have warped news coverage and dumbed down media content is frighteningly prescient considering what has happened in the US this year.

I also got another fix of GAME OF THRONES, which is the sort of pure escapism that I devoured as a teenager. It proves that you can’t take the boy out of the man.

What I’ve been reading:

So many books, so little time. I really enjoyed THE GIRLS by Emma Cline, a book that caused a bidding war among publishers. Setting aside the hype (and the advance) I think THE GIRLS is a fine debut novel, which didn’t quite succeed in showing me how a messianic man (think Charles Manson) can convince his followers to kill on his behalf, but did stay with me for a long time after I finished the final page.

Other notable mentions were SUBMISSION by Michel Houellebecq, a controversial novel set in 2022 when a Muslim becomes President of France; also THE NORTH WATER by Ian McGuire, a shocking and brutal story about a whaling ship that sinks in the Arctic Circle. Few books have this sort of narrative tension and I spent every page waiting for something even more terrible to happen. Not for the squeamish.

What I’ve been listening to:

My daughter ALEX HOPE is a brilliant songwriter/producer who this year collaborated with Troye Sivan on a celebrated album BLUE NEIGHBOURHOOD that has sold more than 1.5 million copies in the US alone.

I love singer songwriters so I’m a sucker for anything new by PASSENGER, ED SHEERAN, JASON MRAZ and JOHN MEYER.

Michael Robotham was awarded the 2015 Gold Dagger of the British Crime Writers’ Association (CWA) for Life or Dead (Um Leben und Tod). He is a very active member of the Australian Crime Writers Association (ACWA) und the current chair. His essay „When Children Don’t Come Home“ on CrimeMag, a CrimeMag-review of „Sag, es tut dir leid“ (Say You’re Sorry) here. His webpage.

poisoned-pen-pressRobert Rosenwald

I’ll be silent no longer.

Ever since the results of November 8 became manifest I have been living in a state of shock and denial. Out of concern for the potential negative impact on my business I have said almost nothing publicly and to be honest I am ashamed of myself. As I daily listen to NPR and read newspapers I keep hearing and reading things that the optimist in me wants so very badly to turn out well. If that should happen I’ll be thrilled to admit that I was wrong and pay whatever penance might be required, but right now I can remain silent no longer.

I have spent my entire life supporting women’s right to choose what they do with their bodies. We have elected a man who brags that he has the right to choose for them and has exercised it. We have elected a congress that will almost certainly support him for fear of losing a sinecure. A congress that wants government out of our lives except as it relates to women. And this man and this congress will decide on the direction of the judiciary for the foreseeable future.

I’m a publisher. Books are my lifeblood. Words matter. Truth matters and we have elected a lie. I know I’m not smart enough to figure out the solution, but I will do anything and everything I legally can to end this charade and I urge anyone reading this to do likewise. The Presidency of the United States of America is not a TV reality show.

Robert Rosenwald is publisher & president of the Poisoned Pen Press, Scottsdale, Arizona. In another mail to his customers and friends he included a link to The Crowdsourced Guide to Fighting Trump’s Agenda. This interactive website startet with a tweet, “Please share w/ your friends to help fight Trump’s racism, authoritarianism, & corruption on their home turf,” and grew into a field guide on how to work your grassroots against the Trump Agenda.

Alexander Roth CrimeMagAlexander Roth

Januar:  Direkt Schleudertrauma. Ryan Gattis lässt ein paar bis an die Zähne bewaffnete Kids, die keine mehr sind, Los Angeles in Schutt und Asche legen. In den Straßen die Wut ist ein durchdringendes Stück fiktionalisierte Zeitgeschichte, was man auch über das nächste Buch sagen kann. Die Toten schauen zu erzählt von der systematischen Auslöschung einer Stadt samt ihrer Bewohner, und, wie ich damals schrieb, „es gibt genau einen Grund, warum es trotz all der Grausamkeiten möglich ist, dieses Buch zu Ende zu lesen, und es ist derselbe, der es zu einem ganz großen Stück Literatur macht: Die Prosa von Gerald Kersh.“

Februar: Brian Panowich (Bull Mountain) und James Lee Burke (Mississippi Jam) haben mich großartig unterhalten, aber Frank Schulz‘ dunkles Juwel Der goldene Handschuh überstrahlt in diesem Monat alles. Eine verstörende Wendeltreppe hinab in die Abgründe der menschlichen Gefühlswelt und den Teil deutscher Realität , die sonst nur am äußersten Rand unserer Wahrnehmung existiert.

März: Der März gehört den Frauen. Simone Buchholz gelingt mit Die blaue Nacht eine zutiefst menschliche Variation der guten alten hardboiled-Schule. Während der Hamburger Kiez mit Gewalt und Drogen überschwemmt wird und die Geister der Vergangenheit sich regen, spenden Alkohol und die Nähe ihrer Liebsten der mehr oder weniger beurlaubten Staatsanwältin Chastity Riley dringend notwendige Wärme. Christine Lehmanns Allesfresser fräst sich dagegen trotz Veganismus-Thema wie ein Raubtier durch die hiesige Krimilandschaft.

April: Michael Koryta hat mit Die mir den Tod wünschen einen nervenzerreißend spannenden Survival-Thriller geschrieben, doch an Stephen Hunter beziehungsweise Sergeant Bob Lee Swagger kommt keiner vorbei. Einsame Jäger ist Gesellschaftsporträt, Anti-Kriegsroman und Politthriller in einem. Am Ende zählt natürlich trotzdem nur, welcher Scharfschütze den haarsträubend unwahrscheinlichen Treffer im Gesicht des anderen landen kann.

zero_one_dewey_300Mai: Max Annas, keine Frage. Im Juli wusste ich schon: „Eine Jahresbestenliste ohne Die Mauer ist möglich, aber sinnlos.“  Sein neuer Südafrika-Thriller ist nämlich nicht nur virtuos komponiert, sondern auch so spannend, man kann die Nagelschere nach der Lektüre zwei Wochen im Schrank lassen.

Juni: Der Polar Verlag liefert mit Nathan Larsons Zero One Dewey das furiose Finale einer der innovativsten Romantrilogien der letzten Jahre. Ein waschechter Genrebastard, diese dystopian hardboiled novel. Trotzdem hat mich im Juni nichts mehr gepackt als Blau ist die Nacht von Eoin McNamee. Der Autor verarbeitet in seinem Roman – ebenfalls Teil einer Trilogie – einen der berühmtesten Mordfälle Nordirlands als Noir im gespaltenen Belfast. Ganz groß.

Juli: Schwierig. Die himmlische Tafel von Donald Ray Pollock kann mich nicht ganz so überzeugen, wie ich mir das im Vorfeld erhofft hatte, aber ist natürlich trotzdem schwer zu toppen. Wären da nicht die zwei Erfolgsreihen-Grundsteine Neonregen von James Lee Burke und Ein letzter Drink von Dennis Lehane, die in neuer Übersetzung erscheinen. Wer wissen will, warum die beiden mittlerweile Autoren von Weltrang sind, der findet einen Teil der Antwort hier.

August: Der Sommer neigt sich dem Ende zu, es wird düster. Benjamin Whitmer vermengt für Nach mir die Nacht Motive des Country Noir mit einer fiebrigen, scheinbar ziellos aufs Ende zutaumelnden Storyline à la Kerouac. Friedrich Ani legt für Nackter Mann, der brennt den Finger tief in die Wunde und lässt gutbürgerliche Fassaden zerbröseln. Auf der Frankfurter Buchmesse fasste er seinen Roman folgendermaßen zusammen: „Kirche, Fußball, Kindesmissbrauch.“

September: Michael Andrew Hurley legt mit Loney ein beeindruckendes Debüt hin, und Franz Dobler lässt für Ein Schlag ins Gesicht seinen Bullen aus dem Zug. Meine Sympathie gilt diesen Monat allerdings Tarik, einem liebenswerten underdog mit dem Spitznamen Der anatolische Panther, der sich durch André Pilz‘ gleichnamigen Roman kämpft.

Oktober: Da muss ich nicht lange nachdenken. Jon Bassoff hat mir mit Zerrüttung völlig unerwartet den Boden unter den Füßen weggerissen. Die Dunkelheit in diesem Roman ist so allumfassend, hätte ich nicht bereits Jim Thompson und Derek Raymond gelesen, ich würde wahrscheinlich auch etwa einen Monat nach der Lektüre noch nachts das Licht anlassen.

November: Spätestens hier hat mich der Kalender überholt, weshalb ich nur spekulieren kann. Meine Hoffnungen für diesen Monat ruhen auf Lotte Bromberg (Mutterboden), die mir schon im letzten Jahr ein Highlight beschert hat, und Joe Ide (IQ), dessen „Street-Smart-Sherlock“ mit riesigen Vorschusslorbeeren zu uns kommt.

Dezember: Bücher? Keine Zeit. Ich lese Listen.

Die CrimeMag-Texte von Alexander Roth hier. Sein Blog Der Schneemann hier.

Frank_RumpelFrank Rumpel

Im Ganzen besehen war 2016 alles andere, als ein gutes Jahr – falls sich das in dieser Größenordnung überhaupt in so schlichte Kategorien fassen lässt. In Sachen Kriminalliteratur hingegen war es ein guter Jahrgang, zu dem vor allem wieder viele kleine Verlage mit engagierten Programmen beitrugen. Der rührige Hamburger Polar Verlag etwa, der Liebeskind Verlag, das  Ariadne-Programm, Pendragon mit seiner Robicheaux-Reihe von James Lee Burke, der Alexander Verlag mit seiner Ross-Thomas– und Charles Willeford-Ausgabe oder das Wu Ming/Luther Blisset-Projekt der Assoziation A.

Herausgreifen will ich nur drei Romane, weil sie, jeder auf seine Art, aktuelle Themen auf den Punkt bringen. Kriminalität, sagte Dominique Manotti in einem Interview, sei keineswegs ein Unfall des Systems, sondern ein Rädchen im wirtschaftlichen Getriebe. Der Rolle dieses Rädchens geht die Historikerin Manotti in ihrem Roman Schwarzes Gold am Beispiel des Ölhandels der frühen 1970er Jahre nach, der sich seinerzeit drastisch veränderte. Und sie macht deutlich, dass dieses Geschäft bis heute wohl weder einfacher, noch sauberer geworden sein dürfte.

zz-max-annas-x327_bo1204203200_Wunderbar rasant und knapp erzählt Max Annas in Die Mauer von Rassismus und grotesk zugespitzter Hysterie in einer Gated Comunity in Südafrika und zeigt beispielhaft, dass Abschottung und Ausgrenzung Probleme keinesfalls lösen, sondern erst schaffen.

Ganz anders ist Owen Sheers Roman I saw a man, die Geschichte einer Indiskretion, die ein Menschenleben kostet, samt der sich anschließenden Last, die Geheimhaltung und Schweigen mit sich bringen. Und Sheers spiegelt diese Last. Die Frau des Protagonisten war Journalistin und kam bei einem Drohnenangriff in Afghanistan ums Leben. Der US-amerikanische Drohnenpilot macht ganz ähnliches durch. Eine leise, hochspannende Geschichte über den Umgang mit Verlust und Schuld.

Frank Rumpel bei CrimeMag hier. Sein Blog.

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