Aleks Scholz ist Autor und Astronom. In seiner Kolumne „Lichtjahre später“ erklärt er regelmäßig alles, was wir über das Universum wissen müssen. Seit Januar 2013 befindet er sich auf einer Irrfahrt über den Nachthimmel. Diesmal betrachtet er den Sigma-Orionis-Sternhaufen.
Die Sumpfgas-Irritation
Zunächst war es nur ein winziger heller Fleck. Bilder von einem Riesenteleskop zeigten ein Himmelsobjekt an der Grenze der Empfindlichkeit, westlich des hellen Sterns Sigma Orionis. Der Fleck wurde von seinen Entdeckern, einem Team aus spanischen Astronomen, „SOri 70“ genannt. SOri 70 ist ein Methanzwerg, ein Objekt, dessen Atmosphäre Methan enthält. Methan, der einfachste Kohlenwasserstoff, vier Wasserstoffatome, die an ein Kohlenstoffatom gebunden sind, entsteht auf der Erde immer dann, wenn man Pflanzenreste unter Luftabschluss faulen lässt. Alessandro Volta entdeckte es vor 240 Jahren im Sumpf des Lago Maggiore. Die Anwesenheit von Methan auf einem Himmelskörper bedeutet, dass es dort nicht besonders heiß sein kann. Bei hohen Temperaturen zerfallen Methanmoleküle zu Kohlenstoff und Wasserstoff. Die Atmosphäre von SOri 70 muss deutlich kälter als 700 Grad Celsius sein. Verglichen mit der Höllenhitze auf der Sonne ist SOri 70 ein Kühlschrank.
Die Ansammlung von Himmelskörpern rings um Sigma Orionis ist ein Sternhaufen wie aus dem Lehrbuch. Er beherbergt ein paar hundert junge Sterne in einer kugelförmigen Wolke um den hellen Stern in der Mitte, Sigma Orionis, den einzigen Teil des Haufens, den man mit bloßem Auge sehen kann. Sigma Orionis ist außerdem nicht nur ein Stern, sondern mindestens fünf, die sich gegenseitig umkreisen. Christian Mayer, ein Mannheimer, katalogisiert Sigma Orionis im Jahr 1779 als Doppelstern. Otto Struve, einer der großen Beobachter des 19. Jahrhunderts, findet zwei weitere Komponenten. Der hellste Stern des jetzt schon viergliedrigen Systems wurde im Jahr 1892 wiederum als Doppelstern enttarnt, ein Doppelstern so schwer wie 40 Sonnen. Und erst seit kurzem ist bekannt, dass der Doppelstern innerhalb des Mehrfachsterns eigentlich ein Dreifachstern ist. Es scheint, je genauer man sich Sigma Orionis ansieht, umso mehr Sterne kommen zum Vorschein.
Dasselbe gilt auch für den Sternhaufen, der Sigma Orionis umgibt. Der Methanzwerg SOri 70 ist nur das vorläufig letzte Kapitel in der Geschichte der Erforschung des Haufens. Im Jahr 2005 klopfte ein Teil dieser Geschichte an den Türrahmen meines Büros in Toronto. Man konnte nicht an die Tür klopfen, weil die Tür sowieso immer offen war. Rob Garrison klopft zaghaft, aber insistierend. Er hört erst auf, als ich aufblicke. Rob hat keine Haare mehr. Sein Körper ist nach vorne gebeugt, als würde er sich zum Teleskop herunterbücken. Aber da ist kein Teleskop. Nach fünfzig Berufsjahren imitiert die Wirbelsäule des alten Astronomen die typische Haltung des Beobachters. Der beinahe 80-jährige Garrison ist mein Büronachbar. Emeritierte Astronomen behalten ihre Büros oft für Jahrzehnte, wandern schemenhaft durch die Korridore und arbeiten an Problemen, die aus der Mode gekommen sind. Rob hält ein Blatt Papier in der Hand, ein Blatt mit einem einfachen Diagramm aus dem Jahr 1967, aus einer Zeit, in der man eine Publikation noch „Einige interessante Sterne im Sternbild X“ nennen durfte, ohne verlacht zu werden. Robs Hand zittert ein wenig, nicht aus Aufregung, sondern weil sie immer zittert. Das Diagramm ist umrahmt von einem Koordinatensystem, auf der X-Achse die Temperaturen, auf der Y-Achse die Helligkeiten von Sternen. Robs Sterne, alle aus der Gegend um Sigma Orionis, liegen in diesem Diagramm auf einer Linie. Eine schöne, saubere Korrelation.
Was das heißt, ist jedem Astronomen sofort klar. Die Helligkeit eines Sterns hängt einerseits von seiner Temperatur ab – je heißer er ist, umso mehr Licht produziert er –, andererseits von seiner Entfernung. Wenn die Helligkeiten sauber mit den Temperaturen korrelieren, der hellste Stern auch der heißeste ist, der zweithellste der zweitheißeste, und so weiter, dann müssen alle diese Sterne gleich weit weg von der Erde sein. Sie müssen nicht nur am Himmel, sondern auch im Universum zusammenstehen. Wenn das nicht so wäre, dann könnte ein heißer Stern weniger hell erscheinen als ein kalter Stern, nämlich dann, wenn er viel weiter weg wäre. Die Kerze auf meinem Tisch ist heller als das Licht des Leuchtturms am Horizont, aber nur, weil sie so nah ist. Würde ich Kerze und Leuchtturm in dieselbe Entfernung stellen, dann wäre der Leuchtturm viel heller. Alles hätte seine Ordnung. In Robs Diagramm hat alles seine Ordnung. Seine Sterne befinden sich nicht nur zufällig an derselben Stelle am Himmel. Sie sind alle 1400 Lichtjahre entfernt. Wir haben einen Sternhaufen.

Der Flammen-Nebel im Orion. Das Infrarotbild zeigt sehr gut die wirre, dreidimensionale Struktur der Wolken, mit einer Brücke aus „gelbem“ Gas vor dem leuchtenden Herz des Nebels. Der Pferdekopfnebel ist unten am Bildrand sichtbar, Sigma Orionis ist nur knapp außerhalb des Bildes rechts unten.
Vor zehn Jahren wurde der Sigma-Orionis-Sternhaufen zum Streitobjekt. Die Ära der Superteleskope war in vollem Gang, Teleskope, deren lichtsammelnde Spiegel so groß sind wie Klassenzimmer. Teleskope, die man „Very Large Telescope“ nennen musste, um die Dimensionen klarzumachen. Mit immer größeren Teleskopen starrten wir in die Gürtelregion des Orion. Immer kleinere Objekte wurden entdeckt. Erst Zwergsterne. Dann Braune Zwerge. Die leichtesten unter ihnen sind nur zehnmal schwerer als Jupiter, der größte Planet im Sonnensystem. In ein, zwei Milliarden Jahren, wenn sie sich abgekühlt haben, werden die Super-Mini-Zwerge von Sigma Orionis aussehen wie Jupiter. Mit einem Unterschied: Sie kreisen nicht um eine Sonne, sondern fliegen ohne Mutterstern durchs All.
Darf man so etwas Planet nennen? Die Spanier probierten es und lösten einen Sturm der Entrüstung aus. Es geht um die Frage, wie weit man den Begriff Planet, der so viel Bedeutung trägt, dehnen kann. Wie man den Wissenschaftler-Wunsch nach präziser Nomenklatur vereint mit dem kulturellen Ballast, den Begriffe mit sich herumtragen. Wie viel Verantwortung Wissenschaftler für die Wörter haben, die sie verwenden. Welche Bedeutung die Namen haben, die wir neuen Phänomenen geben. Denn es sind brandneue Phänomene, Objekte, von deren Existenz wir bisher nichts wussten, und die auf irgendeine Art eingeordnet werden müssen. Sie brauchen ein Label. Es geht auch darum, wie weit man den Rest der Menschheit verwirren darf. Denn die Braunen Zwerge von Sigma Orionis, auch die allerkleinsten, sind eindeutig keine Planeten, in dem Sinne, wie wir den Begriff normalerweise verstehen. Ein Planet umkreist einen Stern. Diese Objekte tun dies nicht. Planeten sind es keine.
Die Entdeckung von SOri 70 markierte den vorläufigen Höhepunkt der Planeten-Diskussion, die in einem anderen Strang unter anderem zur Degradierung von Pluto führte, vom Planeten zum Zwergplaneten. Eine Debatte, die vermutlich für Kulturwissenschaftler interessanter ist als für Astronomen. Wenn SOri 70 wirklich dieselbe Entfernung hat wie alle Sterne im Haufen, dann wiegt er nur dreimal so viel wie Jupiter. SOri 70 wäre der Rekordhalter, das masseärmste Objekt, das je freifliegend im Universum entdeckt wurde. Ein freifliegender Babyplanet oder ein Dunkelbrauner Minizwerg. Oder vielleicht doch nicht? Im Jahr 2004, zwei Jahre nach der Entdeckung, stellte eine amerikanische Gruppe klar, dass die Beweise für die Haufenzugehörigkeit von SOri 70 nicht gerade stichhaltig sind. In Wahrheit sei SOri 70 ein alter, gewöhnlicher Brauner Zwerg im Vordergrund des Haufens. Nur durch Zufall stehe er, so die Amerikaner, genau in derselben Richtung wie der Sternhaufen. Ein unschuldiger Passant, der mit dem Geschehen rings um Sigma Orionis nichts zu tun hat. Erneut wurde die dritte Dimension des Universums zum Problem. Die Diskussion um SOri 70 endet vorerst unentschieden. Wir werden noch größere Fernrohre brauchen. Mehr Photonen, mehr Informationen, mehr Publikationen, mehr Verwirrung, so die Logik.
Der Nachthimmel im Internet, zum Nachvollziehen der Reise.
Aleks Scholz
Die Planetendiskussion im Journal „Science“. Mehr über Braune Zwerge und Planemos aus dem Jahr 2012 hier.
Der Flammen-Nebel im Orion: © ESO/J. Emerson/VISTA. Acknowledgment: Cambridge Astronomical Survey Unit.
Aleks Scholz, geboren 1975, ist Astronom und Schroedinger Fellow am „Institute for Advanced Studies“ in Dublin, Irland. Er befasst sich vorwiegend mit der Entstehung und der Entwicklung von Gelben, Roten und Braunen Zwergen. Zu weiteren Folgen von „Lichtjahre später“. Porträtfoto: Ira Struebel. Aleks Scholz bei Google+.