Aleks Scholz ist Autor und Astronom. In seiner Kolumne „Lichtjahre später“ erklärt er regelmäßig alles, was wir über das Universum wissen müssen. Seit Januar 2013 befindet er sich auf einer Irrfahrt über den Nachthimmel. Heute: die Präsepe-Geschichte.
Das Bienenstock-Narrativ
Der Himmel ist ein Meta-Hologramm: Ein Bild, das je nachdem, durch welche Brille man es anschaut, neue Dimensionen zeigt. Betrachtet man den Himmel mit Hilfe von großen Teleskopen und Präzisionsinstrumenten, dann entsteht aus der zweidimensionalen Sphäre das dreidimensionale Universum. Verwendet man eine Infrarotkamera, dann kommen Wolken zum Vorschein, die nur wenige Grad wärmer sind als der absolute Temperaturnullpunkt. Mit einem Radioteleskop sieht man die kosmische Hintergrundstrahlung, Photonen, die kurz nach dem Urknall entstanden sind. Alle diese astronomischen Zusatzinformationen wiederum erfordern die Brille des Naturwissenschaftlers, eine von unserer Kultur entwickelte Spezialkonstruktion, die nur in einem winzigen Fenster der Menschheitsentwicklung erhältlich ist. Andere Äras, andere Kulturen, andere Völker haben andere Brillen entwickelt. Die Sternbilder der Babylonier, der Griechen, der Mayas. Die Mythen, die sich um jeden hellen Stern am Himmel ranken. Die mittelalterliche Vorstellung von ewigen, vollkommenen Sphären. Die Teilchenphysiker, für die der Himmel vor allem ein Laboratorium ist. Oder Kepler und Kopernikus, der Himmel als Offenbarung göttlicher Perfektion. Die Seefahrer, die den Himmel als Kompass und Uhr verwenden. Jede Brille enthüllt neue Geschichten.
Der Himmel ist eine Überlagerung von Geschichten, von denen die moderne Astronomie nur eine ist, oder, je nach dem, mit welchem Astronomen man redet, mehrere. Große Geschichten von Göttern und Supernovae, kleine Geschichten, alberne Geschichten, ernste Geschichten, öffentliche Geschichten, private Geschichten. Zusätzlich zu den kulturell verordneten Brillen, trägt jeder seine eigene Brille mit sich herum. Für den einen ist der Himmel romantisch, für den anderen mathematisch, für einen dritten historisch, für noch einen anderen egal.
Der offene Sternhaufen Präsepe, auch der Bienenstock genannt, ist ein gutes Beispiel. Meine private Präsepe-Geschichte hat damit zu tun, dass sie das letzte Kapitel meiner Doktorarbeit werden sollte, das einen finalen Datenpunkt in allen Diagrammen liefern musste. Präsepe, mit bloßem Auge nur ein kleiner Fleck im Sternbild Krebs, den man auch für Dreck auf der Brille halten könnte, ist nicht nur in meiner Geschichte das letzte Kapitel. Am Himmel markiert Präsepe außerdem das Ende des Winters. Im Dezember verbringe ich lange Stunden vor der Kuppel des Teleskops, bis Präsepe sich gegen Mitternacht endlich bequemt, hinter dem Horizont hervorzukommen. Irgendwo auf einem Berg in Spanien. Frierend, hart gefrorener Schnee auf dem Boden, die Lichter der Städte am Horizont. Mein Feind, der Mond, direkt über mir. Im Februar dagegen steht der Haufen in Prime Time am Osthimmel und ist die gesamte Nacht sichtbar. „Warten auf Präsepe“ wäre ein guter Titel für die Doktorarbeit gewesen. Oder für die Menschheitsgeschichte.
Präsepe ist zufällig einer der ältesten Sternhaufen, die weniger als 1000 Lichtjahre von der Erde entfernt sind. Das klingt wenig beeindruckend, hat aber Konsequenzen. Das Alter von Sternen ist eine der Eigenschaften, die man am allerschlechtesten messen kann. Meistens begnügen wir uns mit Aussagen wie „sehr jung“ oder „mittelmäßig alt“, weil es viel genauer nicht geht. Sternhaufen sind eine Ausnahme, weil wir davon ausgehen können, dass alle Mitglieder eines Sternhaufens etwa gleich alt und gleich weit entfernt sind. Im Falle von Präsepe: etwa 1000 Sterne, alle etwa 600 Millionen Jahre alt und etwa 600 Lichtjahre entfernt. Es sind Geschwister, die gleichzeitig aus dem Kollaps einer Wolke entstanden, wobei „gleichzeitig“ so viel heißt wie „innerhalb von ein paar Millionen Jahren“, kein großes Ding auf astronomischen Zeitskalen. Die meisten Sternhaufen zerbröckeln kurz nach ihrer Geburt, weil die Schwerkraft nicht ausreicht, die Familie zusammenzuhalten. Die einzige Ausnahme sind die Kugelsternhaufen, die hundertfach schwerer sind als Präsepe, aber auch deutlich weiter entfernt, in den Außenbezirken der Milchstraße. Alte, nahe Sternhaufen wie Präsepe sind selten.
Deshalb dient Präsepe, zusammen mit den Hyaden im Sternbild Stier drüben am Herbsthimmel, traditionell als letzter großer Test für unsere Vorstellungen von der Entwicklung von Sternen. Die typischen Diagramme, die eine bestimmte Eigenschaft von Sternen, Helligkeit, Temperatur, Rotation, magnetische Aktivität, als Funktion ihres Alters zeigen, enthalten jede Menge Datenpunkte von Null bis 200 Millionen Jahren, dann die Mitglieder der Präsepe und Hyaden bei 600 Millionen, danach lange Zeit nichts, zum Schluss einen einzigen Datenpunkt bei viereinhalb Milliarden: Die Sonne, der einzige nahe, alte Stern, dessen Alter wir einigermaßen kennen: irgendwo zwischen 4,56 und 4,58 Milliarden Jahren, mit einer Unsicherheit von nur ein paar Millionen Jahren. Astronomie ist die Wissenschaft, bei der man viele Jahre damit zubringt, unglaublich präzise Messungen anzustellen, damit am Ende so etwas wie „plus minus ein paar Millionen Jahre“ herauskommt.
Aber wie geht das überhaupt? Woher können wir wissen, wie alt die Sterne in der Präsepe sind? Willkommen im Hertzsprung-Russell-Diagramm, eine der wichtigsten Abbildungen in der Geschichte der Astronomie, dieselbe Abbildung, die uns schon im Orion begegnete, auf einem Blatt Papier in der zitternden Hand von Rob Garrison. In einem Buch, das im Jahr 1905 in deutscher Sprache erschien, bemerkte der Däne Eijnar Hertzsprung, damals erst 32 Jahre alt und am ehesten als Privatwissenschaftler zu bezeichnen, dass es zu jedem Typ Sterne zwei Sorten gibt, die eine deutlich heller als die andere. „Riesen“ und „Zwerge“ nannte der Amerikaner Henry Russell die zwei Sorten Jahre später, bis heute der Grund, warum die Sonne, ein Stern von überdurchschnittlicher Größe, ein Zwergstern sein darf.
Hertzsprung erfand das nach ihm benannte Diagramm, ohne es je als Diagramm veröffentlicht zu haben. Es war die Zeit von Schreibmaschine, Kohlepapier und Lichtbild. Diagramme waren grauenvoll aufwendig zu publizieren. Einfach so X gegen Y plotten, heute ein beliebter Zeitvertreib von Doktoranden, ging nicht. Jede Korrelation musste mühevoll mit Hilfe von Datentabellen und Millimeterpapier aus dem Weltall gewrungen werden. Was Hertzsprung mit Worten beschrieb, sieht im Diagramm wie folgt aus: Trägt man die Helligkeit von Sternen gegen ihren Spektraltyp auf, der Letztere eine Größe, die direkt mit der Temperatur der Sterne zusammenhängt, dann liegen die Zwerge alle in einem engen Bereich, der sich von rechts unten nach links oben erstreckt. Heiße Sterne sind heller als kühle Sterne. Die „Hauptreihe“ der Sternentwicklung, die Studenten heute im ersten Semester lernen (hoffentlich). Riesensterne bevölkern im Diagramm die Regionen oberhalb der Hauptreihe.
Das historische erste HRD von Russell. Jeder Datenpunkt entspricht einem Stern. Die Hauptreihe ist der Bereich zwischen den beiden gestrichelten Linien. Riesensterne liegen darüber. Auffällig die Leere unter der Hauptreihe. Die Sonne läge etwa in der Bildmitte. Aus Gingerich 2013.
Warum das alles so ist, warum das Diagramm eine Struktur hat, warum die meisten Sterne auf der Hauptreihe landen, und warum die linke untere Ecke leer ist, blieb mehrere Jahrzehnte lang unklar. Die Hauptreihe war eine große unerklärte Korrelation, ein geheimnisvolles Muster, eine Struktur im Kaffeesatz, die uns ganz sicher irgendetwas Wichtiges mitteilen wollte, aber was? Eine Generation der besten Astronomen, Russell selbst, dann Eddington, Jeans, Schwarzschild, Chandrasekhar, Sandage, arbeitete sich am „HRD“ ab. Das Resultat: die ersten physikalischen Modelle von Sternen in Form von Gleichungen, die uns sagen, wie ein Stern wie die Sonne über 10 Milliarden Jahre die Hauptreihe hinaufkriecht, extrem langsam, bevor sie sich zu einem Riesen aufbläht, im Diagramm nach rechts abbiegt, oberhalb der Hauptreihe entlangwandert, bis zu einem Punkt ganz rechts außen, wo ihre Entwicklung als funktionsfähiger Stern endet. Danach folgt nur noch der Sternenfriedhof – die leere Ecke links unten im Diagramm.
Wie alt sind die Sterne? Ein Problem, das sich erst am Ende des 19. Jahrhunderts allmählich aus dem Nebel des Unwissens löst. Es dauerte bis in die 1920er Jahre, bis ernsthaft daran geglaubt wurde, dass man eventuell eine Chance hat, die Frage tatsächlich zu beantworten, nicht nur für die Sonne, sondern für jeden beliebigen Stern am Himmel. Erst als die ersten Bausteine der Antwort, unter anderem Hertzsprungs Diagramm, schon existierten, wurde die Frage deutlich sichtbar. Eventuell sind Antworten älter als Fragen.
Heute ist es einfach. Wer in der glücklichen Lage ist, über ein brauchbares Sternenmodell zu verfügen, und außerdem noch Helligkeiten und Temperaturen von mindestens einem Stern in der Präsepe zu kennen, für den ist die Altersbestimmung ein Kinderspiel: Stern ins HRD eintragen, dazu einen Modellstern, dessen Alter man frei einstellen kann. Dann so lange am Alter drehen, bis der Modellstern im Diagramm dort sitzt, wo der echte sich befindet. Sechshundert Millionen Jahre, fertig. Mit einem Haken, der hier unterschlagen wurde: Um den Stern ins HRD eintragen zu können, brauchen wir seine Helligkeit. Um zu wissen, wie hell der Stern ist, müssen wir vorher wissen, wie weit er entfernt ist. Wie ein Planet um seine Sonne, kreisen die Astronomen viele tausend Jahre lang um das ewige Problem der Entfernungen.
Mehr zur Sternentheorie und zum Nachthimmel im Internet, zum Nachvollziehen der Reise.
Aleks Scholz
Aleks Scholz, geboren 1975, ist Astronom und Schroedinger Fellow am „Institute for Advanced Studies“ in Dublin, Irland. Er befasst sich vorwiegend mit der Entstehung und der Entwicklung von Gelben, Roten und Braunen Zwergen. Foto: Ira Struebel. Aleks Scholz bei Google+.