Reise ans Ende der Nacht
– Als Anders Petersen Ende der 60er Jahre durch Zufall auf das Café Lehmitz auf der Reeperbahn stieß, war dies nicht nur eine fotografische Initialzündung, sondern zugleich auch der Beginn seiner Karriere als Fotograf. Was er in den Jahren von 1968 bis 1971 dort ablichtete und was schließlich 1978 in Buchform erschien, war ein Mikrokosmos am Rande der Gesellschaft und dennoch war dieser Ausschnitt von einer Allgemeingültigkeit und einer verzweifelten, prallen Lebenslust, die bis heute genauso erschreckt wie berührt.
In der Folge konzentriert sich sein Hauptaugenmerk auf spezifische Gruppen, wie die Besucher eines Vergnügungsparks (Gröna Lund, 1973), die Insassen eines Hochsicherheitstrakts (Fäbgelse, 1984) und einer psychiatrischen Anstalt (Ingen har sett allt, 1995) oder die Bewohner von Altenheimen (Rågång till Kärleken, 1991).
Was diese Bildfolgen eint, ist ein anteilnehmender Blick, der offensichtliche Versuch, den Menschen, die er ablichtet, nahezukommen und die Kamera als Mittel der Empathie einzusetzen und nicht als Objekt der Distanzierung. Auch wenn Anders Petersens Arbeiten konsequent das Etikett „Sozialreportage“ oder „Milieuphotographie“ angeheftet wird, so trifft auf sie viel eher noch das Credo der Fotoagentur Magnum zu, deren Mitglieder als erste den Begriff „Humanismus“, als explizite Haltung in die Fotografie eingeführt haben.

Anders Petersen, Foto: David Kregenow
Mit Beginn des neuen Jahrtausends verschieben sich allmählich Haltung und auch Bildsprache. Die ersten Publikationen aus dieser Zeit (Close Distance, 2002 / Du mich auch, 2002) versammeln Aufnahmen von Orten und Menschen aus der schwedischen Provinz, die aber keine einheitliche Serie mehr darstellen, sondern eine lose Aneinanderreihung von Eindrücken sind. Diese orientieren sich zwar von den Motiven her weiterhin an der unteren Hälfte des sozialen Spektrums, stellen aber keine klar definierte Randgruppe mehr in den Mittelpunkt und vermitteln gleichzeitig den Eindruck einer ausgeprägten Distanzierung, sogar einer gewissen Desorientierung, wie sie für Übergangsphasen üblich ist.
Mitte des Jahrzehnts ist der Wandel dann vollzogen und ein völlig neuer Anders Petersen erscheint auf der Bildfläche und mit ihm die Serie der „City Diaries“. Die Provinz wird gegen europäische Metropolen vertauscht, die fest umrissenen Nischen gegen fluktuierende Szenen, die Protagonisten der Aufnahmen sind nach wie vor Außenseiter, jedoch deutlich jünger, narzisstischer und exhibitionistischer. Gleichzeitig ändert sich die Bildsprache, Grautöne werden weitgehend eliminiert, die Aufnahmen werden dunkler, stärker kontrastierend und scheinen es darauf anzulegen, nicht durch den Inhalt, sondern bereits durch die Darstellung zu polarisieren.
Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in einer wahrnehmbaren Umkehrung der Machtverhältnisse – diejenigen vor der Kamera bestimmen jetzt weitgehend ihre Darstellung, der Fotograf wird immer mehr zur teilnehmenden (statt teilhabenden) Randfigur. Der Exhibitionismus der Abgelichteten instrumentalisiert den Beobachter, reduziert ihn zu einem Voyeur. Der Druck auf den Auslöser scheint mitunter beliebig und wie eine Trotzreaktion gegen die aufgezwungene (?) Passivität, eine sekundäre Geste, die so austauschbar und undefiniert ist, wie die Orte, an denen sie stattfindet.
Rom, Sète, St. Petersburg, Paris, Tokyo – die Orte wechseln, die Aufnahmen werden beliebig, vielleicht auch ein Versuch, die Orientierung nicht völlig zu verlieren. Im Lauf der letzten Jahre entsteht so eine Reihe von Publikationen (Roma, a diary, 2005 / frenchkiss, 2008 / Sète #08, 2008 / Dear Diary, 2009 / SoHo, 2012), die eine Dokumentation der Haltlosigkeit, der Austauschbarkeit und der Bindungslosigkeit bilden.
Die jetzt von Steidl doch noch verlegte Sammlung unter dem Titel „City Diary“ stellt hierbei ein ungewollt ironisches Ausrufezeichen dar. Obwohl die drei schlichten (Klammerheftung, Leinenrücken), großformatigen Broschuren von eins bis drei nummeriert sind, folgt ihr Inhalt keinerlei Chronologie. Bild wird an Bild gereiht, gleich wann und wo es aufgenommen wurde – kein Hinweis auf Orte oder Daten, perfekter kann man Beliebigkeit, die hier zur „Rätselhaftigkeit“ umgedeutet wird, nicht inszenieren. Wobei dann die verlegerische Raffinesse soweit ging, erst gar nicht zu erwähnen, dass oder in welcher Publikation die meisten Aufnahmen bereits zuvor erschienen sind.
Obwohl Mack Books mit Steidl verbunden ist, hat man hier eine andere Herangehensweise gewählt. Der kleine, feine Verlag hat Anders Petersens letztem Projekt – er verbrachte 2011 einen Monat in Soho, London – in eine mehr als ansprechende Form gebracht und damit das ursprüngliche Konzept, welches sich an der Publikation „Dear Diary“ orientierte, geschickt unterlaufen. Der edle Leinenband präsentiert die Aufnahmen nicht auf mattiertem, sondern auf leicht glänzendem, hochwertigem Papier, und im Gegensatz zu Steidl, nicht formatfüllend („full bleed“ auf neudeutsch), sondern mit mehr als großzügigen Seitenrändern. Der Eindruck der hierbei entsteht, könnte unterschiedlicher nicht sein. In Steidls „City Diary“ hat die Darstellung eine rohe, fast schon nervöse Qualität, quick and dirty, wie sie von Daido Moriyamas Publikationen bekannt ist, und die den schnellen bildlichen Ablauf favorisiert, während Mack sich mit seiner Vorgehensweise auf die jeweiligen Einzelbilder konzentriert und ihnen damit eine ganz andere Art von Aufmerksamkeit verschafft.
Welcher Art der Darstellung man auch den persönlichen Vorzug geben mag, es bleibt verwirrend und nicht ersichtlich, weshalb Anders Petersen sich bei diesen thematisch zusammengehörigen Publikationen für zwei so grundlegend verschiedene Präsentationsformen entschieden hat.
Da Steidl bereits angekündigt hat, die Serie, auch in dieser Form, in Zukunft fortführen zu wollen, lässt dies den Umkehrschluss zu, dass Anders Petersen weiterhin durch die Metropolen streifen wird, die Kamera in der Hand und stets auf der Suche nach polarisierenden Darstellungen.
David Kregenow
Anders Petersen: SoHo. Mack Books, London 2012: 124 Seiten, 17,4 x 26,4 cm, Leinen, 45€. Anders Petersen: City Diary. Steidl, Göttingen / Gun Gallery, Stockholm 2012: 192 Seiten, 31 x 23,4 cm, 3 Broschuren in Versandkarton, 45€. Zu finden bei steidl. Durchblättern auf Vimeo.