Liebe ist bunt
– Auf dieses Buch habe ich lange gewartet. Nicht erst seit Bastien Vivès‘ grandiosem Debüt „Der Geschmack von Chlor“. Viel länger habe ich nach so etwas gelechzt. Mindestens seit es Graphic Novels für mich gibt. Also seit Blankets, meiner Bildertaumel-Entjungferung: verschneite Einsamkeit und schwirrendes Verliebtsein auf ach so vielen Seiten.
Vivès‘ zweiter auf Deutsch erschienener Band „In meinen Augen“ ist, was die Temperatur angeht, quasi das Gegenteil. Natürlich, auch diese Geschichte zweier Verliebter und ihrer kurzen, beinahe flüchtigen Beziehung endet. Auch Vivès’ Zeichnungen leben von der Melancholie. „In meinen Augen“ benötigt jedoch keine Toten und keine unzumutbaren Härten – und daraus, aus den vielleicht traurigen, aber bestimmt überstehbaren Verlusten des normalen Lebens, entsteht eine Leichtigkeit, eine Farbigkeit, eine gute Laune, die in der Graphic-Novel-Landschaft seines Gleichen sucht.
Kiss the Girl
Die Erzählung also schnell erläutert: Einer trifft Mädel (rothaarig, Studentin, gelangweilt, charmant und süß), trifft sie öfter, trifft sie absichtlich, man verliebt sich ein bisschen, und nachts um halb fünf ist die Party vorbei und sie muss dringend nach Hause, weil er nichts falsch gemacht hat.
Die Kunst liegt im Erzähl- und Bildblickwinkel: Wo brilliert dieses Gefühl von Schmetterlingen ohne Rand und Linie überall drin denn am meisten – innerhalb der eigenen Perspektive. Kein Mensch kann objektiv Verliebtenschilderungen nachvollziehen. Hier also: alles subjektiv. Der Verliebte ist kein einziges Mal sicht- oder hörbar, sie, ebenso namenlos, ist das Nonplusultra, das Alles, alles was die Augen brauchen. Als Leser bemerkt man die von Vivès fein eingestreuten, für ihn unrelevanten und daher unexistenten Zeichen vom Ende, das gleich zu Anfang beginnt. Als Leser würde man ihm raten: Hör zu Junge, die ist nichts für dich, die weiß grade nicht wohin (noch dazu ist ihr Lieblingsbuch ein Kinderbuch, das passt alles ein bisschen zu gut, hübsch ist sie ja, doch, aber, ach). Als Leser könnte man sich nur grade so verlieben.
Dickflüssige Farbwunder
Vivès erreicht eine ungeheuer sinnliche Darstellung genau dieser einen Wahrnehmung mit einem Spiel aus Schärfen und Unschärfen, Konturen und ausuferndem Farb-, sprich Liebeswunder. All die Momente, in denen die Zeit dickflüssig wird und man sich darin genügt, ihre Grübchen zu beobachten, während sie wegen irgendwas irrsinnig Dämlichem lacht (auch völlig egal, was man gesagt hat), lässt er tanzen in seinen unbegrenzt-fixierten Panels in flimmernder Farbe.
Würden Sie den Preis für den schönsten Comic-Held an Ihre Freundin vergeben? und andere Frauenfragen
Der Vivès zeichnet übrigens, wenn er nicht grade schnöde 10-Fragen-an-den-Comic-Held-Interviews beantwortet, einen höchst produktiven, witzigen Blog, unter anderem mit weiblichen Ninja Turtles. Nur so wegen des Frauenbildes. Außerdem könnte man sich jetzt darüber auslassen, wie absolut emanzipatorisch es ist, dass sich ausgerechnet ein recht einsam wirkender junger Mann so verrennt (Moment – woher wissen wir überhaupt, dass es ein Mann ist?). Nur woher kommt der Gedanke, dass man diesen visuellen Leckerbissen zwar vor den Augen zergehen lassen darf, aber weniger nach den Mengenangaben der einzelnen Zutaten (Geschmacksverstärker?!) fragen sollte … Da ist es also. Das Buch, das in meinen Augen Werther aussticht. Und länger hält als bis zum Schulabschluss.
Charlotte von Bausznern
PS: Kiss the Girl war das schnulzigste Lied in „Arielle“, gesungen von Sebastian, der Krabbe, mit ähnlichen Weitwinkeleinstellungen von Seejungfraulippen …
Bastien Vivès: In meinen Augen (Dans mes yeux). Aus dem Französischen von Kai Wilksen. Handlettering von Dirk Rehm. Berlin: Reprodukt 2010. 136 Seiten. 18 Euro. Eine Leseprobe finden Sie hier. Zu Bastien Vivès’ Blog.