Vom Klassentreffen der Blogger zum Woodstock der Nerds und Netizens
– Die dreitägige Konferenz re:publica wurde von den beiden Bloggern Johnny Haeusler (Spreeblick.de) und Markus Beckedahl (Netzpolitik.org) im Jahr 2007 ins Leben gerufen. Bestand zu Beginn die Zielgruppe im Wesentlichen aus den netaffinen Bloggern, wendet man sich nun an die „digitale Gesellschaft“ überhaupt – also eigentlich an alle, die gern online aktiv sind. Daher treffen auf der re:publica mittlerweile so unterschiedliche Leute wie Blogger, Social-Media-Fans, Netzaktivisten, Onlinemanager, Designer und Gründer von Start-Ups zusammen. Von Andreas F. Golla
2007 und 2008 waren es immerhin schon 700 bis 800 Besucher, die zum damaligen Veranstaltungsort Kalkscheune nach Berlin pilgerten. 2009 verdoppelte sich die Zahl auf 1.500 und 2010 erneut auf 3.000. Mit etwa 4.000 Besuchern erreichte die Teilnehmerzahl dieses Jahr den Höchststand.
Der hohen Zahl geschuldet musste man sich nach einer neuen Location umsehen und fand mit der STATION Berlin einen passenden, wenn nicht DEN passenden Tagungs- und Konferenzort in Berlin. Dabei handelt es sich um den 1913 nach fünfjähriger Bauzeit fertiggestellten Postbahnhof, der lange Zeit der größte Paketumschlagplatz Deutschlands war. Nach der Außerbetriebnahme 1997 und Stilllegung 2003 erfolgte zwei Jahre später der Verkauf an einen Ausstellungsvermarkter, der den Bahnhof sanierte und das ehemalige Bahnhofsgelände zum stylishen Tagungsort umfunktionierte.
Eröffnung in Schwurbel-Deutsch
Der Gegensatz zwischen dem altmodischen Backstein-Charme des historischen Gebäudekomplexes und dem zukunftsgerichteten Treffen von Vordenkern, Netzaktivisten und „digital Citizens“ zeigt die scheinbaren Widersprüche, die die re:publica derzeit aushalten muss. So trafen bereits auf der Eröffnungsveranstaltung Netzaktivisten im Hipster-Outfit auf geschniegelte Start-up-Gründer. Und auch in den Eröffnungsreden kam es zum Aufeinandertreffen der Kulturen: Während Mitorganisator und Blogger Markus Beckedahl die Teilnehmer lässig im T-Shirt begrüßte, trug der vom Berliner Senat entsandte Staatssekretär Christoph von Knobelsdorf Anzug und Krawatte, was ihm auf Twitter sofort zahlreiche spöttelnde Kommentare bescherte. Auch die wahrscheinlich schon oftmals wiederverwendete Rede zum Wirtschaftsstandort Berlin, die der politische Beamte aus der Schublade gezogen hatte, wollte irgendwie nicht passen und führte unter den weniger geduldigen Zuhörern zu Heiterkeitsausbrüchen.
Als der Politprofi allzu gestelzt und floskelhaft in feinstem Schwurbel-Deutsch von den Vorzügen Berlins als IT-Standort schwärmte, rief ein Zuhörer aus der Mitte des Auditoriums schließlich „Bingo“, was bei den Zuhörern zu einem Riesengelächter führte. Nach dem verwirrten Gesichtsausdruck des Staatssekretärs zu schließen, hatte dieser die Anspielung auf das im Netz bekannte Bullshit-Bingo, bei dem es darum geht, möglichst schnell eine Reihe von klischeehaften und überstrapazierten Begriffen (an denen es weder auf der re:publica noch in diesem Artikel mangelt) abzuhaken, nicht verstanden und schwadronierte munter weiter.
(Kleines Update: von Knobelsdorff hat „Nächstes Jahr ohne Krawatte“ getwittert. „… und andere Rede mitbringen“, möchte man ergänzen und dem Staatssekretär die Daumen drücken, dass er bis zur nächsten Veranstaltung mehr als die bisherigen 21 Follower [Stand 06.05.2012] bei Twitter hat.)

Eröffnungsveranstaltung: Wer hier kein digitales Device auf dem Schoss balancierte gehoerte zur Minderheit (cc) iStockphoto I re-publica 2012
Nach diesem Mischmasch von lockerem Hallo und formeller Senatsbegrüßung verteilten sich die Besucher auf die großzügigen Veranstaltungshallen. Und diese ließen im wahrsten Sinne des Wortes Raum für alles Mögliche zu. So konnte man während der drei Tage von morgens bis abends zwischen acht jeweils parallel stattfindenden Veranstaltungen wählen, vom prominent mit Internetaktivisten und Netzintellektuellen besetzten Diskussionspanel bis hin zu Special-Interest-Veranstaltungen, die trotz manchen Nischenthemen stets ihre ZuhörerInnen fanden.
Insgesamt hatte das re:publica-Team 270 Redner und Talkgäste aus dreißig Ländern eingebunden, und das Gesamtangebot der Konferenztage betrug beeindruckende 160 Stunden Programm.
Als Motto hatte man dieses Jahr ACT!ON gewählt, das die „Schubkraft sozialer Medien für politische Bewegungen“ symbolisieren sollte und auch als „Action“ gelesen und interpretiert werden durfte. Der gewollte Festivalcharakter der Konferenz zeigte sich in Kleinigkeiten wie dem Armbändchen, das alle Teilnehmer beim Registrieren als hippes Accessoire verpasst bekamen.
Tummelplatz mit Twitter-Wall und floating chairs
Die lockere Atmosphäre innerhalb des Industriedenkmals mit der offenen Restauration und die inmitten der ehemaligen Bahnhofsschuppen zur Plaza umfunktionierten Großhalle förderte durch ihre Gestaltung das Gefühl der TeilnehmerInnen, sich zur gesellschaftlichen Avantgarde rechnen zu dürfen. Hier hatte man einen zentralen Tummelplatz geschaffen, wo man auf gigantischen Sitzlandschaften verweilen und unter anderem Helfern zusehen konnte, die eine überdimensionale Stellwand zur analogen Twitter-Wall umfunktionierten: Jeder Tweet, der mit dem Hashtag „rp12“ versehen war, landete als eine Zeile auf einer vollgedruckten DIN-A4-Seite, die traditionell mit Quast und Tapetenkleister an die Wand plakatiert wurde. Ein sich stets veränderndes Gesamtkunstwerk, das durch den Einsatz verschiedenfarbigen Papiers reizvoll vor sich hin mäanderte.
Auf der Plaza waren aber auch hunderte von bunten, im Nerddeutsch der re:publica als „floating chairs“, im Deutsch der Designer als „Monoblocs“ und im Deutsch der sonstigen deutschsprachigen Menschheit als „Plastikstühle“ bezeichneten Sitzgelegenheiten aufeinandergetürmt. Die gute Idee dahinter: War eine der Veranstaltungen überlaufen und alle Sitzplätze besetzt, konnte man sich einen der leichtgewichtigen Stühle schnappen und zum Veranstaltungsort tragen.
Die Tracks
Inhaltlich hatte man die re:publica in verschiedene Themenbereiche („Tracks“) aufgeteilt:
* Bei den mit Re:Design gekennzeichneten Veranstaltungen ging es um die zukünftige Gestaltung von Webseiten und Apps.
* Bei Re:Health diskutierte man die Möglichkeiten der modernen Technik in Bezug auf das Gesundheitswesen.
* Re:Innovate widmete sich allen Formen von technologischer und sozialer Veränderung durch Netzwerke.
* Bei Re:Invent rang man um Lösungen für eine bessere Welt und diskutierte, welche Rolle das Netz dabei spielen könnte.
* Re:Learn beschäftigte sich mit dem Wissensaustausch im Zeitalter des Internets, dem peer-Learning und der Notwendigkeit offener Lernmaterialien.
* Unter Re:Mix liefen alle Veranstaltungen zum Urheberrecht und der Frage, wie man die Rechte von Urhebern wahren, ohne die „freie Verbreitung gesellschaftlich relevanten Wissens“ einzuschränken.
* Der Themenblock Re:Open beschäftigte sich mit Open Data und Open Government, Themen, die in Deutschland bislang eher unterentwickelt sind.
* Re:Play fasste die Veranstaltungen über spielerisches Lernen und Social Gaming zusammen.
* Im Bereich Re:Port ging es um den Wandel der Medienlandschaft und neue Ansätze sowie Geschäftsmodelle für Buch und Fernsehen.
* Re:Unite brachte unter Beteiligung der Bundeszentrale für politische Bildung Netzaktivisten aus ganz Europa zusammen und diskutierte die Rolle der europäischen Netzöffentlichkeit.
* Re:Volt lieferte Themen mit dem größten politischen Zündstoff, griff Themen wie ACTA oder Anonymus auf und behandelte die Rolle des Internets während des sogenannten arabischen Frühlings.
Gastvorträge und Kontroverses
Dass die re:publica mittlerweile eine der wichtigsten europäischen Veranstaltungen für Netzpolitik ist, bewiesen die zahlreichen englischsprachigen Panels mit teilweise hochkarätigen Gästen aus dem Ausland. So war für seine Keynote eigens aus den Staaten Eben Moglen, Professor für Recht und Rechtsgeschichte, angereist. Moglen vertritt als Chefsyndikus der Free Software Foundation und Gründer des Software Freedom Law Centers den Standpunkt, dass freie Software einen Garanten für eine freie Gesellschaft darstellt. Die Open-Source-Legende Glyn Moody sprach über die Gefahren von ACTA und Britta Riley über ihre Visionen des Window Farming, der Idee, einen Teil der Versorgung mit Obst und Gemüse durch den Eigenanbau in Wohnungsfenstern zu übernehmen. Mark Kaigwa berichtete in seinem „Silicon Savanna“ benannten Vortrag, wie Technologie Afrika zum Besseren verhelfen kann.
Kontrovers ging es in Panels wie „Anonymus“ zu, wo Netzaktivisten wie Frank Rieger vom Chaos Computer Club und Software-Hacker Jacob Appelbaum über die Grenzen des Erlaubten bei digitalen Protestaktionen stritten und der wesentlich radikalere Appelbaum dem deutschen Frank Rieger spöttisch bescheinigte, dieser sei mit seiner Ablehnung von Aktionen zum Lahmlegen von Servern ein „Rock-and-Roller“, während er eben ein „Vertreter des Punk Rock“ sei.
Intelligente Unterhaltung bot der wohl bekannteste deutsche Blogger Sascha Lobo mit seinem abendlichen Überraschungsvortrag, der selbstironisch die Eigenheiten der Netzgemeinde aufs Korn nahm. Ernst wurde es lediglich bei dem Appell Lobos, die Blogger mögen doch wieder vermehrt auf eigenen Domains gehostete Blogs betreiben und sich nicht in die Hände von undurchsichtigen Monopolisten wie Facebook begeben.
Zum Glück waren Veranstaltungen wie die zum Selfpublishing rar, die außer bekannten Phrasen keinen Erkenntnisgewinn brachten und wohl mehr der Eigenwerbung der Referenten dienen konnten als der geistigen Erhellung des Publikums.
Unsere digitale Zukunft – Fazit
Natürlich lässt sich kritisieren, dass manch Vortrag allzu selbstreferenziell ausfiel und im Vagen blieb, dennoch ist der re:publica bei der Themenwahl ein hohes Niveau zu bescheinigen – und den Besuchern eine unglaublich hohe Bereitschaft und der Wunsch, die digitale Zukunft mitzugestalten: Der Veränderungswille war beim Woodstock der Nerds und Netizens förmlich zu greifen!
Mancherorts konnte man den Vorwurf an Politik und Teile der Gesellschaft hören, sich bislang mit zu wenig positivem Denken in die Materie „Chancen durch den computertechnischen und netzbedingten Fortschritt” einzubringen und die Augen vor dem Wandel zu verschließen. Es sei ärgerlich, wenn die Piratenpartei ein Monopol auf Technologieoptimismus halten könnte.
Angesichts der ungeheuren Potenziale des technischen Fortschritts und der fröhlichen Aufbruchsstimmung, die im Rahmen der re:publica deutlich wurden, drängt sich folgender Eindruck auf: Musiker, Autoren und andere Kreative wird es auf Dauer nicht weiterbringen, sich hinter starren Verteidigungslinien zu verschanzen. Es gilt vielmehr, die Gelegenheit zu nutzen, sich mit den unterschiedlichen Vertretern der Netzgemeinde und ihren Argumenten auseinanderzusetzen. Verzweifelte Schuldzuweisungen, wie es sie in der Vergangenheit aus beiden Richtungen zu hören gab, werden der Komplexität des Themas nicht gerecht.
Vielleicht gelingt es ja auf der nächsten re:publica, dass sich beispielsweise die Initiatoren der Autorengruppe „Ja zum Urheberrecht“ mit ihren Positionen einbringen. Interessant wäre es, in diesem Rahmen auch Interessenvertreter der GEMA zu hören. Eingeladen waren sie dazu schon in diesem Jahr, wie Veranstalter Haeusler berichtete. Vergeblich – wie übrigens auch in den Vorjahren.
Andreas F. Golla
Zur offiziellen Webpräsenz von re:publica geht es hier.